Der Buick - Roman

Der Buick - Roman

von: Stephen King

Heyne, 2013

ISBN: 9783641105273

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 2275 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Buick - Roman



Jetzt: Sandy

Curt Wilcox’ Sohn kam in dem Jahr nach dem Tod seines Vaters oft zu uns in die Polizeikaserne, wirklich oft, aber nie hat ihm jemand gesagt, er solle nicht im Wege stehen, oder ihn gefragt, was zum Teufel er denn hier schon wieder zu suchen habe. Uns war klar, was er hier wollte: Er klammerte sich an die Erinnerung an seinen Vater. Polizisten verstehen eine ganze Menge von Trauer; ja, die meisten von uns kennen sich damit besser aus, als uns lieb ist.

Es war Ned Wilcox’ letztes Jahr auf der Statler Highschool. Aus der Footballmannschaft war er ausgestiegen; als er sich entscheiden musste, entschied er sich für die Troop D. Kaum zu glauben, dass ein junger Mann so was macht: statt der Spiele am Freitag- und der Partys am Samstagabend lieber unbezahlte Arbeit zu leisten, aber genau das hat er getan. Ich glaube, niemand von uns hat mit ihm über diese Entscheidung gesprochen; aber er nötigte uns Respekt damit ab. Er hatte eben einfach beschlossen, dass die Zeit der Spiele für ihn vorbei war. Erwachsene Männer sind zu solchen Entscheidungen oft nicht fähig; Ned aber traf sie in einem Alter, in dem er noch nicht mal legal an alkoholische Getränke oder Zigaretten kam. Ich vermute, sein Dad wäre stolz auf ihn gewesen. Nein, das vermute ich nicht nur, das weiß ich.

Da der Junge so oft bei uns war, war es wohl unvermeidlich, dass er sah, was draußen im Schuppen B steht, und jemand fragte, was das sei und was es dort zu suchen habe. Und es war nur wahrscheinlich, dass er damit zu mir kam, denn ich war der beste Freund seines Vaters gewesen, zumindest sein bester Freund bei der Polizei. Vielleicht wollte ich sogar, dass es so kam. Was einen nicht umbringt, macht einen nur härter, heißt es ja immer. Sollte die Katze ihre Neugier doch stillen.

Was mit Curtis Wilcox passiert war, ist schnell erzählt. Ein altbekannter Suffkopf hier aus dem County, den Curt schon sechs- oder achtmal festgenommen hatte, hatte ihn auf dem Gewissen. Der Alki, Bradley Roach, wollte keinem was zuleide tun; das wollen Alkis meistens nicht. Dennoch würde man sie natürlich am liebsten den ganzen Weg bis Rocksburg in ihren dummen Arsch treten.

An einem heißen Spätnachmittag im Juli 2001 winkte Curtis einen großen Sattelzug rechts ran, der vom vierspurigen I-87 abgefahren war, weil der Trucker den Raststättenfraß von Burger King und Taco Bell nicht mehr sehen konnte und rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein wollte. Curt hatte sich vor der stillgelegten Jenny-Tankstelle an der Kreuzung State Road 32 und Humboldt Road postiert – also genau an der Stelle, an der viele Jahre zuvor dieser verdammte alte Buick Roadmaster in unserem Teil des bekannten Universums aufgetaucht war. Man kann das natürlich als Zufall bezeichnen, wenn man will, aber ich als Polizist glaube nicht an Zufälle, nur an Verkettungen von Ereignissen, die immer länger und brüchiger werden, bis sie dann durch ein Missgeschick oder schlichte menschliche Niedertracht irgendwann abreißen.

Neds Vater folgte dem Sattelzug, weil der einen »Schlapper« hatte. Als er vorbeifuhr, sah Curt, dass sich von einem der hinteren Reifen Gummi löste wie von einem großen, schwarzen Feuerrad. Viele selbständige Fernfahrer verwenden runderneuerte Reifen – bei den Dieselpreisen heutzutage bleibt ihnen auch kaum etwas anderes übrig –, und manchmal löst sich bei denen das Profil. Man sieht ständig Kringel und Brocken davon auf dem Highway liegen, entweder direkt auf der Fahrbahn oder auf den Standstreifen geweht – wie die abgelegte Haut riesiger, prähistorischer, schwarzer Schlangen. Es ist gefährlich, hinter so einem Schlapper herzufahren, vor allem auf einer zweispurigen Straße wie der SR-32, einem hübschen, aber vernachlässigten Highway-Abschnitt zwischen Rocksburg und Statler. Curt wollte dafür sorgen, dass der Fahrer des Sattelzugs den Reifen wechselte, ehe ein Stück vom Profil einem nichts ahnenden Autofahrer hinter ihm die Windschutzscheibe einschlug. Auch wenn es nur daran abprallte, konnte sich der Fahrer doch so erschrecken, dass er von der Straße abkam, an einen Baum fuhr oder sogar die Böschung hinab in den Redfern Stream stürzte, der Kurve um Kurve fast sechs Meilen lang an der SR-32 entlangfließt.

Curt schaltete sein Blaulicht an, und der Trucker fuhr wie ein braver Junge rechts ran. Curt hielt direkt hinter ihm, meldete über Funk seinen Standort, gab dann durch, worum es ging, und wartete, bis Shirley das bestätigt hatte. Dann stieg er aus und ging zu dem Laster.

Wäre er direkt zu dem Fahrer gegangen, der sich aus dem Seitenfenster lehnte und sich zu ihm umsah, dann würde er heute vermutlich noch auf Erden weilen. Doch er blieb stehen und betrachtete das lose Profil an dem letzten Reifen hinten links, zog sogar daran, um zu sehen, ob er es abbekam. Der Trucker sah das alles und bezeugte es später vor Gericht. Dass Curt dort stehen blieb, war das vorletzte Glied in einer Verkettung von Ereignissen, die seinen Sohn zur Troop D führten und schließlich dafür sorgten, dass er einer von uns wurde. Das allerletzte Ereignis bestand darin, dass sich Bradley Roach nach rechts beugte, um sich noch ein Bier aus dem Sixpack zu nehmen, das vor dem Beifahrersitz seines alten Buick Regals stand (nicht der Buick, sondern ein anderer Buick – ja, es ist schon komisch, wie sich die Dinge, wenn man auf Katastrophen oder Liebesaffären zurückblickt, aufzureihen scheinen wie die Planeten in einem persönlichen Horoskop). Keine Minute später hatten Ned Wilcox und seine Schwestern keinen Daddy und Michelle Wilcox keinen Ehemann mehr.

Recht bald nach der Beerdigung begann Curts Sohn sich hier in unserer Basis blicken zu lassen. Wenn ich in diesem Herbst nachmittags zur Schicht kam oder auch nur mal nach dem Rechten sah (wenn man das Sagen hat, fällt’s einem schwer, einfach mal wegzubleiben), sah ich den Jungen meistens zuallererst. Während seine Freunde drüben auf dem Floyd B. Clouse Field hinter der Highschool Football spielten, gegen Dummys anrannten und einander Fünf gaben, kehrte Ned in seiner grüngoldfarbenen Highschool-Jacke auf dem Rasen vor der Kaserne ganz allein das Laub zu großen Haufen zusammen. Er winkte mir zu, und ich winkte zurück: Grüß dich, Junge. Wenn ich geparkt hatte, ging ich manchmal vorn herum und schwatzte kurz mit ihm. Dann erzählte er mir etwa, wie blöde sich seine Schwestern in letzter Zeit aufführten, und lachte darüber. Aber auch wenn er über sie lachte, merkte man, dass er sie liebte. Manchmal ging ich aber auch gleich hinten rein und erkundigte mich bei Shirley nach dem Stand der Dinge. Ohne Shirley Pasternak würde die Verbrechensbekämpfung hier im westlichen Pennsylvania zusammenbrechen, das steht mal fest.

Im Winter sah man Ned dann oft mit dem Schneegebläse hinten auf dem Parkplatz, auf dem die Trooper ihre Privatfahrzeuge abstellen. Eigentlich sind die Gebrüder Dadier, zwei Gauner hier aus der Gegend, für unseren Parkplatz zuständig, aber die Troop D befindet sich im Lande der Amish, am Rande der Short Hills, und bei einem schweren Sturm versinkt der Parkplatz gleich wieder unter Schnee, wenn sie mit ihrem Pflug weggefahren sind. Diese Schneewehen sehen aus wie ein riesiger weißer Brustkorb. Aber Ned bekam sie in den Griff. Da stand er dann, auch bei fünfzehn Grad unter null, wenn der Sturm von den Hügeln her toste, in einem Schneemobilanzug, mit seiner Highschool-Jacke drüber, gefütterten Polizeihandschuhen aus Leder an den Händen und einer Sturmhaube über dem Gesicht. Ich winkte ihm zu. Er winkte kurz zurück und machte sich dann wieder mit dem Gebläse über die Schneewehen her. Anschließend kam er oft auf einen Kaffee oder eine heiße Schokolade herein. Die Kollegen gingen hin und unterhielten sich mit ihm, fragten ihn nach der Schule und ob er die Zwillinge denn auch im Griff habe (seine Schwestern waren im Winter 2001 zehn Jahre alt, glaube ich). Sie fragten, ob seine Mutter irgendwas brauchte. Manchmal war ich auch dabei, wenn es ruhig war in der Kaserne und nicht allzu viele Schreibarbeiten anlagen. Bei diesen Gesprächen ging es nie um seinen Vater, obwohl es bei diesen Gesprächen eigentlich nur um seinen Vater ging. Sie verstehen schon.

Das Laubharken und Schneeräumen war eigentlich Arky Arkanians Aufgabe. Arky war der Hausmeister. Aber er war auch einer von uns und wurde nie sauer deswegen und war nicht eigen mit seinem Job. Und was die Schneewehen anging, war Arky bestimmt drauf und dran, Gott auf Knien für diesen Jungen zu danken. Arky war damals schon sechzig, und auch seine Footballzeit war längst vorbei – wie auch die Zeit, als er noch bei minus fünfzehn Grad (minus dreißig, wenn man den Windchillfaktor mitrechnete) anderthalb Stunden draußen zubringen konnte, ohne dass es ihm groß was ausgemacht hätte.

Und dann freundete sich der Junge mit Shirley an, also mit Police Communications Officer Pasternak. Als dann der Frühling kam, saß Ned immer häufiger bei ihr in ihrer kleinen Leitstelle mit den Telefonen, dem Gehörlosentelefon, der Standortübersichtskarte (auch »D-Karte« genannt) und dem Computerterminal, das den Mittelpunkt unserer hektischen kleinen Welt bildet. Sie zeigte ihm die einzelnen Telefone (das wichtigste ist das rote, über das die Notrufe eingehen). Sie erklärte ihm, dass die Anrufrückverfolgung einmal wöchentlich überprüft werden musste und wie das gemacht wurde, und dass der Dienstplan jeden Tag bestätigt werden musste, damit man wusste, wer auf den Straßen von...

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