Fado Alexandrino - Roman

Fado Alexandrino - Roman

von: António Lobo Antunes

Luchterhand Literaturverlag, 2013

ISBN: 9783641111441

Sprache: Deutsch

800 Seiten, Download: 831 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fado Alexandrino - Roman



1


Den Koffer hinter sich herschleifend, verließ er inmitten seiner Kameraden die ausgeblichene Kaserne und sah sogleich auf der anderen Seite des Zaunes auf dem Bürgersteig eine Art Meeresungeheuer aus Gesichtern, Körpern und Händen, das sie im Zwölfuhrmittagsgrau von Encarnação erwartete, in dem die Ampellichter aufs Geratewohl schwebten wie im Nebel hängende Früchte aus Licht. Irgendein unsichtbares Flugzeug pfiff über den Wolken. Ein Trupp Kadetten kam im Laufschritt vorbei, kaute den Schotter des Kasernenhofes mit den Kiefern der riesigen Stiefel, von einem Unteroffizier angefeuert, dessen leere Augen denen der Porzellanhunde in den Vitrinen ähnelten.

– Was für ein beschissener März

beklagte sich der Gefreite links neben ihm, der als Fahrer gearbeitet hatte und einen Sack über der Schulter trug, der voll von dem afrikanischen Plunder war, den zerlumpte, einarmige Schwarze den Soldaten auf Urlaub in den Cafés von Lourenço Marques aufs Auge drücken: Pfeifen aus Blech, Armreifen aus Draht, fürchterliche, mit dem Taschenmesser unterm Wellblech der Elendssiedlungen eilig hergestellte Götzen. Und er dachte, Ich bin in Lissabon und in Mosambik, sehe gleichzeitig die Häuser der Sozialsiedlung und die Bäume im Busch, die kleinen, gichtigen Gärten und die von Maschinengewehren verwüsteten Strohhütten, den Oktopus mit seinen fröhlich sehnsüchtigen Armen, der uns ruft, und die ungeheure, gigantische Stille, die den Hinterhalten folgt und von einem leisen Wimmern erfüllt wird, wie vom Klagen des Regens: er spähte unter den Mercedes auf dem Pfad durch den Busch, und der Typ, der drei Handbreit über ihm im doppelstöckigen Bett schlief, starrte ihn bereits mit der geistesabwesenden Zerstreutheit Verstorbener bei Totenwachen an, deren Lächeln mild geworden ist wie die liebenswürdige Gleichgültigkeit auf Fotos. Er sah den Kommandeur wieder, wie er sich in der Turnhalle der Kaserne vom Bataillon verabschiedete, das ätzende Glitzern der randlosen Brille, die Finger, die sich weich zu den in Habtachtstellung stehenden, fast an die Rückwand gelehnten Soldaten ausstreckten, und dachte, Ich bin immer noch in Mosambik, sitze innerhalb des Stacheldrahtverhaus an der Bar und schaue dem Herannahen der Nacht zu: der Sanitäter hatte beim Abendessen die Tabletten gegen Malaria ausgeteilt, ein feiner Nieselregen fällt am Nachmittag in Encarnação, am Nachmittag in Lissabon, läßt aus den Kisten den sanften Duft nassen Holzes aufsteigen, den runden Erdgeruch, und bald darauf werden Hunderte von Insekten auf dem Teerbelag erscheinen und sich summend in den Straßen verteilen wie im Buschwerk von Omar, bis sie ganz allmählich in der Ferne in der Dunkelheit der Unterstände verschwinden. Der Gefreite, der Fahrer gewesen war, wechselte seine Last von einer Schulter auf die andere und atmete empört die Feuchtigkeit der Luft ein:

– Das ist vielleicht ein Scheißwetter hier.

Die Köpfe drängten sich an die Gitterstäbe, die Gesichter barsten in riesigem Gelächter, wirre, schrille, vermengte Stimmen riefen uns. Ein alter Unteroffizier in weißem Kittel erschien gelangweilt rauchend an der Tür eines Gebäudes mit einem roten Kreuz auf der Fassade, schlurfte wieder hinein, und der Soldat sah die Ecke eines Schreibtisches, Glasschränke, die Skala mit den immer kleiner werdenden Buchstaben, die dazu diente, Kurzsichtigen Beklemmungen zu verursachen. Lissabon, dachte er enttäuscht, achtundzwanzig Monate träumt man von dieser verdammten Stadt, und am Ende ist Lissabon das hier, während ein Bierlastwagen auf dem Schotter quietschend am Wappentor und am Spielzeuggewehr der Wache vorbeifuhr, Bruchstücke von Sandeman Portwein und Binaca Zahnpasta auf den Dächern auftauchten, die Offiziere in der Messehütte Karten spielten und auf die Abendsuppe warteten. Doch heute würde es keine Angriffe geben, es würde nie mehr Angriffe geben: es war Schluß mit den Pfaden durch den Busch, den Bombardierungen, dem Hunger, den Massakern, und da bin ich wieder im Encarnação-Viertel und bei den wie kariöse Zähne faulen Häuschen in der Nähe der stinkenden offenen Kiefer der Siele, auf denen Kapverdianer mit gezückter Hacke lustlos hämmern.

– Das gibt garantiert eine Grippe, prophezeite der Fahrer, acht Tage Wärmflasche und Zitronentee, bis das Niesen vorbei ist.

Er schwitzte in der Koje, die Waffe am Kopfende und unendliche Müdigkeit in den Gliedern, Ich werde sterben. Der Arzt betrachtete ihn zerstreut, die Hände in den Taschen, eine halbe Stunde später wies ihn jemand an, sich auf den Bauch zu legen, und im selben Augenblick jagten sie ihm eine Spritze gegen Sumpffieber in die Hinterbacke, und der Schmerz breitete sich im Fleisch aus, als würde plötzlich im Hintern ein Backenzahn glühend brennen. Vollkommen reglos, mit geschlossenen Augen, spürte er auf dem Kissen das eigene Blut gegen den Hals hüpfen wie ein verängstigtes Tier, das entwischt, und um ihn herum das ruhige Geräusch der Bäume und der Stimmen, die ihnen von der anderen Seite der Gitterstäbe in wirrem Jubel etwas zuriefen: Jedes Blatt, dachte er, ist eine zitternde Zunge, jedes Auge ein herausstehender Knoten im Holz, jeder Körper ein sich neigender, erschreckender und überschwenglicher Zweig. Der Leutnant von der Allgemeinen Verwaltung kam selbstvergessen an dem im Mercedes ausgestreckten Schatten vorbeigetrabt, dessen Mund sich in einem Seufzer ohne Ende auseinanderzog, und umarmte auf dem Bürgersteig einen alten Mann, der mit der Spitze des Spazierstocks nicht entzifferbare Initialen von Gefühlen in die Luft schrieb. Er stolperte über den Koffer, vermied vorsichtig den Bettnachbarn mit den Füßen, der auf dem Pflaster Lissabons in einer widerlichen Eingeweidepfütze lag, wandte den Blick ab, um das Einschußloch im Ohr nicht zu sehen, und bemerkte, daß der Oktopus aus Menschen, der sie in glücklicher Qual erwartete, sich am Wappentor in Koliken wand und reckte und dabei die Soldaten einen nach dem anderen unter dem Geheul fleischfressender Küsse verschlang: Sie werden mich auch fressen, befürchtete er, von Panik erfaßt, sie werden mich mit ihren Tentakeln aus Ärmeln, Hemden, Krawatten, Regenmänteln, Hosen und traurigen, abgetragenen Witwenkleidern verschlingen, mir mit ihrer stürmischen, gebieterischen Zuneigung die Gelenke zermalmen. Der Leutnant aus der Verwaltung nahm ein brüllendes Kind auf den Arm, ein Feldwebel verschwand seinerseits in einem Strudel aus Gezerre und Schulterklopfen, und der Soldat erinnerte sich daran, wie er im Busch, den Mörser auf dem Rücken, in der Stille des Morgens schräg durch die Büsche zur verlassenen Eingeborenensiedlung gegangen war, wo ein paar glanzlos laue Glutherde vor sich hin starben.

– Wenn das Wetter so bleibt, beklagte sich der Fahrer, ehrlich, dann ist nicht mal mit meiner Seele mehr was anzufangen.

Das Flugzeug brach, die Räder wie Füße aggressiv vorgestreckt, durch die Wolken und näherte sich der verborgenen Piste des Flughafens wie eine große unbeholfene, steife Taube voller quadratischer Fensterporen und einem dicken roten Streifen auf dem Metallrücken. Langsam, mühsam, als fügte er die Teile eines vergessenen Spiels zusammen, stellte er in sich die Stadt wieder her, die er zwei Jahre zuvor unter Schiffsgetute und Militärmärschen verlassen hatte, als das Schiff sich von der Kaimauer löste, vom Gekreisch der Familienmöwen verfolgt, die wie riesige, angstvolle Totenvögel um den Rumpf flogen und über den Olivenwellen die geöffneten Januarregenschirme schwenkten. Es war das erste Mal, daß ich meinen Vater fliegen sah (dachte er, auf der Matratze ausgestreckt, während ihm die Maschinen des Passagierdampfers die Lunge durchwalkten und den Urin in der Harnblase schluchzen ließen), und er flog in meiner Erinnerung in der Spur der sich entfernenden Schiffsschrauben immer weiter und stritt sich mit den Vögeln um sein Gischtabendessen, bis der einzige Brief meiner Schwester in Mosambik ankam:

Abílio ich hoffe sehr daß du wenn du diesen Brief erhältst bei guter Gesundheit bist wie ich und mein Sohn Gott sei Dank trotzdem Vitor keinen einzigen Centavo für das Kind gibt und mir hier vor der Tür immer noch unglaubliche Szenen macht Schläge Drohungen Gerede Abílio ich habe eine sehr traurige Nachricht für dich es ist nämlich so: Vater hat gestern den Löffel abgegeben als sie im Fernsehen die Volkstanzgruppen gaben und ich hab das erst gemerkt als ich ihm sagte er soll ins Bett gehen ich habe ihm mit dem Finger an die Schulter getippt und er ist zur Seite aufs Sofa gefallen wie eine Puppe und hat natürlich auch noch die Lampe unserer verstorbenen Mutter mit dem Ellenbogen auf den Boden gestoßen die die so durchsichtig ist daß man den Glühfaden sehen kann und die ihr die Dame geschenkt hat bei der sie als Putzfrau gearbeitet hat Dona Márcia vom Kurzwarenladen hat mir versprochen mir eine gute Klebe zu geben gestern haben wir Totenwache gehalten und es sind fast alle Nachbarn gekommen Senhor Honório der Chef Salgado und Cousine Esmeralda und die Nichten die die Gelähmte von Nummer vierzehn gebracht haben die Arme in ihrem Rollstuhl erinnerst du dich daran wie wir Steine an ihre Fensterscheiben geworfen haben und sie Spitzbuben Spitzbuben geschrien hat Onkel Venâncio von der Post hat sich um die Papiere für die Sterbeurkunde gekümmert die Beerdigungskosten werden in Raten ans Beerdigungsunternehmen gezahlt falls du was über hast schick es schließlich war er dein Vater und es ist nicht gerecht daß ich alles allein blechen soll es gab zwei Kränze einen kleinen mit einer lila Schleife von den Freunden aus dem Café und einen von mir der so schön war daß Osório der vom Fußball zu mir gesagt hat Verdammich Fräulein Otília da möchte ich ja auch gleich...

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