Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können

Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können

von: Donata Elschenbroich

Verlag Antje Kunstmann - deaktiviert, 2002

ISBN: 9783888972652

Sprache: Deutsch

261 Seiten, Download: 1854 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können



Ein Bildungskanon für die frühen Jahre? (Seite 58 ff.)

Gespräche mit Prof.em.Dr.Franz Emanuel Weinert, Prof.Dr.Rolf Oerter und Dr.Heimfrid Wolff Franz

Emanuel Weinert ist ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung in München. Er hat vor allem über die Entwicklung von Kindern im Grundschulalter geforscht und berät seit Jahren die »Stiftung für das hochbegabte Kind «. Macht es aus seiner Sicht Sinn,quer durch das soziale Spektrum viele Menschen nach ihren Ansichten über notwendige Bildungserfahrungen von Kindern zu befragen? Kann aus solchen Aussagen ein Kanon notwendiger Bildungserfahrungen entstehen? Brauchen wir überhaupt einen solchen Kanon? Und wenn ja, was soll er enthalten,was wäre darin aus seiner Sicht unverzichtbar?
»Es gibt zur Zeit viel Interesse für das, was man die impliziten Alltagstheorien von Menschen nennt, die kollektiven subjektiven Theorien, die Übereinstimmungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Berufe, Biographien. Von daher ist es in jedem Fall ausgesprochen interessant zu erfahren, was Leute glauben, was Kinder eines bestimmten Alters erfahren, gehört, gesehen, erlebt, gelernt haben sollten. Ich halte das für hoch wünschbar und für notwendig, weil es auch unausgesprochene Erwartungen an Kinder und damit ihre wichtigsten Sozialisationsbedingungen berührt.

Der Übergang allerdings von einer solchen kollektiven naiven Theorie über die Bildung der nachwachsenden Generation zu einem Curriculum – das ist schwierig. Das sollte kein explizites Curriculum werden, das sollte man als ein Bündel von Anregungen unverbindlich halten. In den 70 er Jahren sind schon negative Erfahrungen gesammelt worden, als man versuchte, naive Bildungsvorstellungen, ein Sammelsurium von Ideen, in Curricula zu übersetzen.

Ein Kanon ist aber etwas anderes als ein Curriculum. Ich, der ich sicher nicht naiv bin, sondern beeinflusst durch Hunderte von Aufsätzen und Büchern zum Erwerb von Grundfähigkeiten und Grundkenntnissen, meine: Die Kinder müssen zunächst erst einmal das erwerben, was ihnen in den frühen Lebensjahren durch die Evolution an Entwicklungsaufgaben schon vorgegeben ist. Dazu gehört der Erwerb einer Reihe von motorischen Koordinationen,von Geschicklichkeiten. Dazu gehört der Erwerb der Muttersprache. Dazu gehört der Erwerb der naiven ›numerischen Operationen‹, der elementaren Begriffe von Größen, Mengen und Zahlen. Dazu gehört das, was man theory of mind nennt, ein elementares Psychologieverständnis, bei dem kleine Kinder begreifen, dass auch Erwachsene Stimmungen unterworfen sind,mentalen Gemütszuständen, die nicht konstant sind. Dass es aber andererseits Unterschiede zwischen Erwachsenen gibt, die relativ konstant sind über die Zeit.

Kinder erwerben also eine große Zahl von Kompetenzen,die offenkundig zum Teil bereits in ihnen als genetische Leerformen angelegt sind. Man weiß inzwischen zum Beispiel, dass selbst eine physikalische Grundkategorie wie das Konzept der Schwerkraft schon in den ersten Lebensmonaten für sie verfügbar ist. Das muss unterstützt und weiter ausgebaut werden. Aber wir dürfen eines nie vergessen: Alle Kinder auf der Welt, die nicht krank sind, entwickeln sich in gewisser Hinsicht wie alle anderen Kinder. Die Erwachsenen können sich noch so dumm anstellen: Die kognitiven Bedürfnisse der kindlichen Entwicklung können auf kulturell recht unterschiedliche Weise befriedigt werden. Es gibt in der frühen Kindheit eine große Anzahl von,wie man sagt,›funktionalen Äquivalenzen‹, das heißt,das Kind kann flexibel sein in der Aufnahme dessen, was ihm nützt.

Das Andere, was ich glaube,was Kinder erwerben sollten, ist das, was in Ihrer Liste immer auch aufscheint, die basics. Jene Kompetenzen, die dafür Voraussetzung sind,dass auf ganz unterschiedlichen Gebieten später Expertise, Wissen, Können erworben werden kann. Sprachen sind ein gutes Beispiel, aber auch – das wird zur Zeit intensiv studiert – numerische Kompetenzen. Nicht um Mathematiker werden zu können, sondern für den Umgang mit Zahlen, so wie man ihn an der Straßenecke, im Alltag, braucht. Es gibt eine große Anzahl von Dingen, die die Basis bilden für eine unendliche Mannigfaltigkeit von Lernprozessen. Fehlen da wichtige Bausteine, dann wird es schwer mit künftigen, auf einander aufbauenden Lernvorgängen. Deshalb würde ich auch nicht zulassen, dass ein Kind bis zum Alter von sieben Jahren nicht lesen lernt. Lesen kann mit sieben Jahren nicht mehr aufgeschoben werden. Es sind zu viele negative Folgen damit verbunden, wenn man es nicht kann.

Einen dritten Bereich möchte ich ausdrücklich hervorheben. Man muss nicht akademisch darüber streiten, wann genau Kinder in ihrer Entwicklung ein ›magisch-mystisches Weltbild‹ haben. Aber man kann sagen: Es gibt offenkundig Bedürfnisse von Kindern in diesem Alter, hinter der Realität, jenseits der Realität mit personifizierten Kräften in Berührung zu kommen, sich damit auseinanderzusetzen. Insofern, jenseits aller ideologischen Auseinandersetzungen über Märchen – die Welt des Magischen und Mystischen, auch in der Abgrenzung zur realen Welt, ist eine wichtige Erlebnisbereicherung der Kinder, auf die man nicht verzichten kann. Ich glaube nicht,dass die Auffassung stimmt, dass Kinder dadurch Angst erwerben. Kinder haben Angst von Natur aus, und sie erwerben die Gelegenheiten, die Inhalte, vor denen sie sich ängstigen. Und sie brauchen Bilder, Stoffe, die diese Angst zum Thema machen.

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