Große Pause. Nachdenken über Schule
von: Marga Bayerwaltes
Verlag Antje Kunstmann - deaktiviert, 2002
ISBN: 9783888973017
Sprache: Deutsch
321 Seiten, Download: 1190 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Warten auf Erlösung (S. 13-14)
Zu spät
Heute Morgen bin ich eine Stunde früher aufgestanden und viel zu früh losgefahren, um nur ja pünktlich in der Schule zu sein. Denn heute ist Klausurtag. Beginn: 8.00Uhr. Ort: Pavillon. Meine Tochter habe ich kurz vor halb acht an ihrer Grundschule abgesetzt. Es war noch stockdunkel. Die Pavillons liegen etwas abseits vom eigentlichen Schulgebäude. Deshalb nehme ich lieber gleich den Hintereingang, das geht schneller. Es ist noch früh, erst 7.40Uhr. Auch hier liegt noch alles im Dunkeln, und außer mir ist noch kein Mensch da. Umso besser. Dann kann ich auf dem Pult in Ruhe meine Papiere ausbreiten, noch mal kurz durchlüften und die chaotisch irgendwo im Raum verteilten Stühle und Tische in eine sinnvolle Sitzordnung bringen. Nicht zu eng beieinander. Für eine dreistündige Klausur bringen die Schüler erfahrungsgemäß Getränke und Proviant wie für eine dreitägige Bergtour mit. Schon allein deshalb braucht jeder von ihnen viel Platz und einen eigenen Tisch.
Mittlerweile ist es 7.50Uhr. Ich bin etwas aus der Puste. Die Tische sind verdammt schwer. Mein Gott, wieso kommt denn immer noch keiner? Leises panisches Herzklopfen. Schnell noch die Tafel geputzt. Der Schwamm ist staubtrocken und riecht nach Verwesung. Kein Wasser in der Nähe. Ich halte mir die Nase zu. Der feine Kreidestaub verteilt sich wie eine Mehlwolke im Raum und legt sich auf meinen Pullover, auf Hände und Haare.Da plötzlich zuckt der Gedanke auf: Raumwechsel?! Die Papiere zurück in die Tasche, Mantel an, Fenster zu, Licht aus, Tür zu und ab, quer über den weiten Schulhof ins Hauptgebäude, durch die nun bereits verstopften Flure. Schon von weitem rufe ich »Auf die Seite, Kinders! Hier kommt ein eiliger Lehrkörper!« und dränge vorwärts, durch die Aula, in den Verwaltungstrakt, ins Lehrerzimmer, ans schwarze Brett, vor die Klausurpläne.
Da stehe ich nun und sehe zunächst mal gar nichts. Mir ist schwindlig, und für ein paar Sekunden wird mir schwarz vor Augen. Ich muss mich irgendwo festhalten. Dann sehe ich die mit roter Tinte eingetragene Raumänderung: D404. Im vierten Stock!
Ich drehe mich um und schaue auf die große Uhr. 8.05Uhr. Die Klausurzeit läuft bereits. Also schnell die Tasche unter den Arm und raus aus dem Lehrerzimmer und die Treppen hoch. Doch dann bleibe ich stehen. Vor mir geht der Chef. Langsam und schweren Schrittes geht er vor mir die Treppe hoch, wahrscheinlich auf dem Weg in seinen Unterricht. Um diese Uhrzeit möchte ich ihn nicht gern überholen. Langsam schleiche ich hinter ihm her. Im dritten Stock biegt er endlich ab. Herrgott im Himmel! Ich lege einen Endspurt ein, fliege die letzte Treppe hoch, werfe mich gegen die schwere Schwingtür, renne durch den endlos langen Korridor bis zum letzten Raum und stürze hinein.