Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

von: Peter Handke

Suhrkamp, 2013

ISBN: 9783518735299

Sprache: Deutsch

102 Seiten, Download: 1083 KB

 
Format:  EPUB

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Die linkshändige Frau - Erzählung



Sie war dreißig Jahre alt und lebte in einer terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang eines Mittelgebirges, gerade über dem Dunst einer großen Stadt. Sie hatte Augen, die, auch wenn sie niemanden anschaute, manchmal aufstrahlten, ohne daß ihr Gesicht sich sonst veränderte. An einem Winterspätnachmittag saß sie in dem gelben Licht, das von außen kam, am Fenster des ausgedehnten Wohnraums an einer elektrischen Nähmaschine, daneben ihr achtjähriger Sohn, der einen Schulaufsatz schrieb. Die eine Längsseite des Raums war eine einzige Glasfront vor einer grasbewachsenen Terrasse mit einem weggeworfenen Christbaum und der fensterlosen Mauer des Nachbarhauses. Das Kind saß an einem braungebeizten Tisch über das Schulheft gebeugt und schrieb mit der Füllfeder, wobei seine Zunge zwischen den Lippen hervorleckte. Manchmal hielt es inne, schaute zur Fensterfront hinaus und schrieb dann eifriger weiter; oder es blickte zu der Mutter hin, die, obwohl abgewendet, es merkte und zurückblickte. Die Frau war mit dem Verkaufsleiter der lokalen Filiale einer in ganz Europa bekannten Porzellanfirma verheiratet, der an diesem Abend nach einer mehrwöchigen Geschäftsreise aus Skandinavien zurückkommen sollte. Die Familie war nicht wohlhabend, lebte aber in bequemen Verhältnissen, der Bungalow war gemietet, da der Mann jederzeit versetzt werden konnte.

Das Kind war mit dem Schreiben fertig und las vor: »›Wie ich mir ein schöneres Leben vorstelle‹: Ich möchte, daß es weder kalt noch heiß ist. Ein lauer Wind soll immer wehen, manchmal ein Sturm, in dem man sich hinhocken muß. Die Autos verschwinden. Die Häuser wären rot. Die Sträucher wären Gold. Man wüßte schon alles und brauchte nichts mehr zu lernen. Man würde auf Inseln wohnen. Auf den Straßen stehen die Autos offen, und man kann hinein, wenn man müde ist. Man ist überhaupt nicht mehr müde. Die Autos gehören niemandem. Am Abend bleibt man immer auf. Man schläft ein, wo man gerade ist. Es regnet nie. Von allen Freunden gibt es jeweils vier, und die Leute, die man nicht kennt, verschwinden. Alles, was man nicht kennt, verschwindet.«

Die Frau stand auf und schaute zu dem schmaleren Querfenster hinaus, vor dem weiter weg einige Fichten standen, die sich nicht bewegten. Zu Füßen der Bäume waren mehrere Reihen von Einzelgaragen, ähnlich rechteckig und mit den gleichen Flachdächern wie die Bungalows, eine Zufahrtsstraße davor, wo ein Kind über den schneefreien Gehsteig einen Schlitten zog. Weit hinter den Bäumen lagen unten im Flachland die Ausläufersiedlungen der Großstadt, und ein Flugzeug stieg gerade aus der Ebene auf. Das Kind kam heran und fragte die Frau, die völlig versunken, doch nicht erstarrt, eher nachgiebig, dastand, wohin sie denn schaue. Die Frau hörte nichts, blinzelte nicht. Das Kind schüttelte sie und rief: »Wach auf!« Die Frau kam zu sich und legte dem Kind die Hand auf die Schulter. Das schaute nun auch hinaus, versank seinerseits in den Anblick, mit sich öffnendem Mund. Es schüttelte sich nach einer Weile und sagte: »Jetzt habe ich mich auch verschaut, wie du!« Beide fingen zu lachen an und konnten nicht aufhören; wenn sie still wurden, fing gleich einer wieder an, und der andre lachte mit. Schließlich umarmten sie einander vor Lachen und fielen zusammen zu Boden. Das Kind fragte, ob es jetzt den Fernseher einschalten dürfe. Die Frau antwortete: »Wir wollen doch Bruno vom Flughafen abholen.« Es schaltete aber schon das Gerät ein und setzte sich davor. Die Frau beugte sich zu ihm und sagte: »Wie soll ich also deinem Vater, der wochenlang im Ausland war, erklären, daß …« Das fernsehende Kind hörte nichts mehr. Die Frau rief es laut; machte mit den Händen einen Schalltrichter, als sei es im Freien irgendwo; aber es starrte nur in den Apparat. Sie bewegte die Hand vor seinen Augen, worauf das Kind den Kopf zur Seite legte und mit aufgerissenem Mund weiter schaute.

Die Frau stand draußen in einem Garagenhof, im offenen Pelzmantel, bei beginnender Dämmerung, wo die Schneepfützen gerade zufroren. Überall lagen auf dem Gehsteig die abgefallenen Nadeln der weggeschafften Christbäume. Während sie die Garagentür aufsperrte, blickte sie zu der Siedlung hinauf, wo in einigen der übereinandergebauten, schachtelförmigen Bungalows schon die Lichter an waren. Hinter der Siedlung begann ein Mischwald, hauptsächlich aus Eichen, Buchen und Fichten, der von da an zu einem der Mittelgebirgsgipfel flach anstieg, ohne ein Dorf oder auch nur ein Haus dazwischen. Das Kind erschien am Fenster ihrer »Wohneinheit«, wie ihr Mann den Bungalow nannte, und hob den Arm.

Am Flughafen war es noch nicht ganz dunkel; die Frau sah, bevor sie die Auslandsankunftshalle betrat, über den Fahnenstangen mit den durchscheinenden Fahnen helle Flecken am Himmel. Sie stand unter andern und wartete; ihr Gesicht erwartungsvoll, doch entspannt; offen und für sich. Nach der Durchsage, daß die Maschine aus Helsinki gelandet sei, kamen die Passagiere hinter den Zollbarrieren hervor, Bruno unter ihnen, einen Koffer und die Tragetasche eines DUTY-FREE-SHOPS in den Händen; das Gesicht starr vor Erschöpfung. Er war kaum älter als sie und trug immer einen zweireihigen grauen Nadelstreifenanzug mit offenem Hemd. Seine Augen waren so braun, daß man kaum die Pupillen sah; er konnte die Leute lange anschauen, ohne daß sie sich geprüft fühlten. Als Kind war er Schlafwandler gewesen; auch als Erwachsener sprach er oft im Traum.

In der Halle, vor allen Leuten, legte er den Kopf auf die Schulter der Frau, als müsse er sich dort in dem Pelz auf der Stelle ausruhen. Sie nahm ihm Tasche und Koffer aus den Händen, und jetzt konnte er sie umarmen. Sie standen lange so; Bruno roch ein wenig nach Alkohol.

Im Lift, der zur Tiefgarage hinunterführte, schaute er sie an, während sie ihn betrachtete.

Sie stieg zuerst ins Auto und öffnete ihm die Tür zum Nebensitz. Er blieb noch draußen stehen, schaute vor sich hin. Er schlug sich mit der Faust an die Stirn; hielt sich dann mit den Fingern die Nase zu und blies sich die Luft aus den Ohren, als seien ihm diese von dem langen Flug noch verstopft.

Im fahrenden Auto auf dem Zubringer zu der kleinen Stadt am Abhang des Mittelgebirges, wo die Bungalowsiedlung lag, fragte die Frau, mit der Hand am Autoradio: »Willst du Musik?« Er schüttelte den Kopf. Es war inzwischen schon Nacht, und in den Büro-Hochhauskomplexen neben der Straße waren fast alle Lichter aus, während die Wohnsiedlungen rundherum an den Hügeln hell flimmerten.

Nach einiger Zeit sagte Bruno: »Es war immer nur dunkel in Finnland, Tag und Nacht. Und von der Sprache, die die da sprachen, habe ich kein Wort verstanden! In jedem anderen Land gibt es doch wenigstens ähnliche Wörter – aber da war nichts Internationales mehr. Das einzige, was ich behalten habe, ist das Wort für Bier: ›olut‹. Ich war ziemlich oft betrunken. An einem Frühnachmittag, als es gerade ein bißchen hell geworden war, habe ich in so einem Selbstbedienungscafé gesessen und plötzlich den Tisch zu zerkratzen angefangen. Die Dunkelheit, die Kälte in den Nasenlöchern, und ich konnte mit niemandem reden. Daß ich einmal in der Nacht die Wölfe heulen hörte, war fast schon ein Trost. Oder daß ich ab und zu in ein Klosettbecken mit den Initialen unserer Firma pinkelte! Ich wollte dir etwas sagen, Marianne: Ich habe da oben an dich gedacht, und an Stefan, und ich hatte nach diesen langen Jahren, die wir nun zusammen sind, zum ersten Mal das Gefühl, daß wir zueinander gehören. Ich kriegte plötzlich Angst, verrückt zu werden vor Alleinsein, verrückt auf eine grauenhaft schmerzhafte, noch von niemandem erlebte Weise. Ich habe dir oft gesagt, daß ich dich liebe, aber erst jetzt fühle ich mich mit dir verbunden. Ja, auf Leben und Tod. Und das Seltsame ist, daß ich sogar ohne euch sein könnte, jetzt, da ich das erlebt habe.« Die Frau legte Bruno nach einiger Zeit die Hand auf das Knie und fragte: »Und die Verhandlungen?«

Bruno lachte: »Die Aufträge nehmen wieder zu. Wenn die Nordländer schon schlecht essen, dann wenigstens von unserem Porzellan. Das nächste Mal werden die Kunden dort sich zu uns herunter bemühen müssen. Der Preisverfall ist aufgehalten; wir brauchen nicht mehr so hohe Rabatte zu geben wie noch in der Krise.« Er lachte wieder: »Die sprechen nicht einmal englisch. Wir mußten uns über eine Dolmetscherin unterhalten, eine alleinstehende Frau mit Kind, die hier studiert hat, im Süden, glaube ich.«

Die Frau: »Glaubst du?«

Bruno: »Nein, ich weiß es natürlich. Sie hat es mir erzählt.«

In der Siedlung gingen sie an einer beleuchteten Telefonzelle vorbei, in der sich schattenhaft jemand bewegte, und bogen in eins der engen, künstlich verwinkelten Gäßchen ein, die die Siedlung querteilten. Er legte den Arm um ihre Schulter. Während die Frau die Tür aufsperrte, schaute sie sich noch einmal um, wo die nächtliche Gasse im Halbdunkel lag, die Bungalows übereinander, die Vorhänge zugezogen.

Bruno fragte: »Bist du immer noch gern hier?« Die Frau: »Manchmal wünschte ich mir eine stinkende Pizzabude vor der Haustür, oder einen Zeitungsstand.«

Bruno: »Ich atme jedenfalls auf, wenn ich hierher zurückkomme.«

Die Frau lächelte für sich.

Im Wohnraum saß das Kind in einem sehr breiten Lehnstuhl, unter einer Stehlampe, und las. Als die Eltern eintraten, schaute es kurz auf und las weiter. Bruno näherte sich ihm; doch es hörte nicht auf zu lesen. Nach einiger Zeit schmunzelte es endlich, kaum merklich. Dann stand es auf und suchte in allen Taschen Brunos nach Mitgebrachtem.

Die Frau kam mit einem...

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