Ein Mann aus Wörtern. Als Autor auf der Stör

Ein Mann aus Wörtern. Als Autor auf der Stör

von: Hermann Burger, Simon Zumsteg

Nagel & Kimche, 2014

ISBN: 9783312006199

Sprache: Deutsch

544 Seiten, Download: 2150 KB

 
Format:  EPUB

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Ein Mann aus Wörtern. Als Autor auf der Stör



DAS CIRCENSISCHE UND ICH


 

Eine Liebeserklärung als Studie

Für E. K.

 

Frau Knie, verehrte, ma belle Voltigeuse! Ganz im Gegensatz zum jungen Galeriebesucher, der bekanntlich während des großen Finales sein konkaves Gesicht auf die Brüstung legt und weint, ohne es zu wissen, weil nämlich die Kunstreiterin nicht lungensüchtig, sondern schön ist, im Gegensatz zu meinem Vorgänger habe ich an der ominösen Kindervorstellung vom 13. August im Aarauer Schachen die Tränen, und zwar par cœur gewusste Tränen, nicht zurückhalten können, als Sie in der perfekt gerittenen Kosakennummer, Place aux cosaques, Equitazione cosacca, statt das Tuch aufzuheben im Galopp, ins Sägemehl plumpsten und zu den alles vertuschen wollenden Weisen des polnischen Circusorchesters unter der brillanten Leitung von Stanislaw Kapisz mit einer Gehirnerschütterung aus der Manege getragen wurden. Cécile-Eliane-Aimée Knie, stolze Dynastin der sechsten Generation, Gattin des berühmten Clowns Antonio Ambrosetti, Jahrgang 1949, im Zeichen des Löwen geboren – und den Löwen auch gleich noch im Aszendenten – patzert: ist das die Möglichkeit? Sofort, subito, tout de suite habe ich meinen dreijährigen Sohn in der englischroten Loge sitzen lassen, bin den Mittelgang hinauf, die wacklige Treppe hinunter und quer durch die Tierschau bis zum Wohnwagenpark unter den Eichen geeilt, wo jeweils die Regimentsspiele proben, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, wesbezüglich mir Ihr werter Gatte, welcher kurz zuvor in einer klassischen Wasser- und Box-Entrée dreitausend Kinder zum Lachen gebracht hatte, zuhanden der Lokalpresse, die ich mitnichten vertrat, mitteilen konnte, es sei zufriedenstellend, eine kleinere Gehirnerschütterung, weiter nichts; für mich aber, agile Vollblutartistin, war es eine größere, eine sehr große Gehirnerschütterung: Epizentralintensität neun, landschaftsverändernd. Ich würde meinen, dass ich Ihnen und der Direktion des Schweizer National-Circus eine Erklärung schuldig bin.

Dass Sie im Frühjahr eine Schönheitskonkurrenz für weibliche Kniescheiben gewonnen haben, lassen wir vorläufig mal beiseite. Als Extraordinarius für Glaziologie an der Abteilung X für Naturwissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich – Spezialgebiet: Aletschgletscher; Hobbys: Bobfahren und ein bisschen Altphilologie – kann, konnte, durfte ich und wollte ich Ihren Sturz nicht auf mir sitzen lassen. Sehen Sie, auf dem St. Moritzer Olympia-Bobrun, wo ich naturgemäß als Eisforscher das Fahrerdiplom der Kategorie B besitze, ist «Aussteigen» während der Fahrt auch verboten. Ein Kipper im Devil’s Dyke Corner, und Sie – gerade Sie würden sich gut machen als Bobgirl – klöppeln auf dem Sturzhelm – über sich den schweren Siorpaesschlitten wie einen urwelthaften Schildkrötenpanzer – bis in die Sachs-Kurve hinunter. Fazit: ausgerenkte Schultern, Verbrennungen zweiten Grades unter der Nylonjacke. Ist mir einmal passiert, einmal und nie wieder! Lieber lasse ich im Wald von Celerina ein paar Zehntelsekunden liegen und beschleunige dafür durch riskantes Ziehen im Leap dermaßen, dass ich mit dem Vierer trotzdem noch auf eine Zwölferzeit komme. Kurz und gut: Stürzen verboten, und das gilt auch für Frau Cécile-Eliane-Aimée Knie.

Gewiss weiß ich um das Temperament der Donpferde, der sogenannten Achal-Tekkiner, die seit Jahren im Marstall des Schweizer National-Circus stehen und im diesjährigen Programm unter dem Motto Von Kopf bis Knie auf Circus eingestellt endlich wieder reaktiviert worden sind. Sacha Houcke junior hat die Kosakenreiterei in Frankreich vom Sohn eines russischen Offiziers gelernt und an die sechste Generation weitergegeben. Die Kosaken waren eine Kriegerkaste, ihre artistischen Erben traten zum Gaudi der Schaumenge an den Reiterfesten in Russland auf. Hoch standen sie in den festgebundenen Steigbügeln über dem Kosakensattel, der aus zwei zusammengeschnürten Lederkissen besteht, tauchten in Deckung, lasen im Galopp die Pelzmütze vom Boden auf und schrien heisere Jubellaute. Sie, verehrte Knie-Tochter, sind zweifellos das Glanzstück dieser Nummer. Nach Ihrem fatalen Sturz an jenem schwülen Samstagnachmittag im Aarauer Schachen – welch eine Raubtierbrunst unter dem Zeltdach! – kursierte das Gerücht, Ihre Schwägerin würde Sie in der Abschlussgala vertreten. Nonsens! Wie sollte eine Spitzenvoltigeuse Ihres Kalibers ersetzt werden können? Ohne Sie, Frau Knie, stirbt die Place aux cosaques, da können Iwan und Ferenc Szabo noch so wild herumturnen. Unverzichtbar, unverzichtbar! Ihre Domestiken voltigieren eben lediglich, während Sie das Circensische schlechthin verkörpern. In Ihren lipizzanischen Nasenflügeln, da kommt die Manege, die unsterbliche, zu sich selber.

Der junge Galeriebesucher mit dem konkaven Gesicht, er weinte, weil die Kunstreiterin so schön war; ich dagegen, der Glaziologe, kam zu Tränen, weil das Pferd vom Pferd stürzte und weil ich obendrein mit schuld war an Ihrer Gehirnerschütterung. Nennen wir seine Tränen der Einfachheit halber die anti-, die meinen die conartistischen; der Salzgehalt dürfte derselbe sein, aber die Intention ist eine je andere. Und zwar habe ich mich just im kritischen Moment der Nummer nicht voll auf Sie konzentrieren können, weil mein Sohn fragte, warum Pferde a) Zucker mögen und b) Zucker schlecken dürfen. Bei uns zu Hause ist Würfelzucker – auch Zuckerbrot, auch Kandiszucker et cetera – im Hinblick auf die horrenden Zahnklempnerhonorare tabu; und ausgerechnet in der für Ihre Voltige heikelsten Phase, da Sie geknickten Kreuzes im Bügel hängen, da Ihr weißblondes Haar – ungefärbt! – durchs Sägemehl schleift, da das teufelsrote Trikotbein gestreckt sein muss und die Stiefelettenspitze vorschriftsgemäß die Zügel fasst, will mein Sprössling, fünfte Generation, wissen, warum das Pferdegebiss gegen Karies weniger anfällig sei als unsere Zähne. Als Extraordinarius für Glaziologie und Leiter des Instituts für Hydrologie eine Kinderfrage nicht beantworten können ist schlimm, und die Bescherung war eine doppelte: Sie scheiterten in der Manege, ich in der Loge. Sie, vom Circus her gedacht – und wir wollen jetzt immer vom Circus her denken – diesseits, ich jenseits der Piste. Früher, als es das bezaubernde Nummerngirl Lotti noch gab, das die flittergesprenkelten Zahlen wie Auktionsschätze vor sich hertrug, waren diese segmentrunden Bandenkästen noch viel stabiler als heute, eine echte Rampe; seit das Raubtiergitter darin untergebracht wird, ist die Piste kein Laufsteg mehr, sondern ein maroder Haufen von Setzstücken. Item: Sie diesseits, ich jenseits, siamesische Zwillinge, was das Scheitern betrifft.

Naturkatastrophen und Circusse haben sich schon immer wechselseitig angezogen. Ich erinnere an die Föhnwindhose, die anno zweiunddreißig in Rorschach das Meisterwerk der Tenta-Werke, Ihr Zelt, zerfetzte. Drei Jahre später trat der Lago Maggiore in Locarno über die Ufer und überschwemmte die ganze Circusstadt. Es kam in der Bundesnacht neununddreißig der Brand von Altdorf hinzu, alles abgesengt bis auf die Rammpfähle! Seit je hat der Circus die Natur durch höchste Artefaktizität herausgefordert und hat die Natur mit Blitz und Hagelschlag darauf geantwortet. Ihre Väter in der Manege, Cécile-Eliane-Aimée, und auch Ihre hübsche Tante, welche im unvergesslichen Circus-unter-Wasser-Programm mit ihrer unverwechselbaren Lys-Assia-Stimme «O mein Papa» sang, in einer Gondel stehend, umpanscht von Liliputanern in Schwimmwesten und Delphinen, haben sich von all diesen Unbilden wenig beeindrucken lassen; diese meine Gehirnerschütterung aber, mein cerebrales Beben sollten Sie ein wenig ernst nehmen, ansonsten ich mich gezwungen sähe, Ihrem Familienunternehmen mit dem Aletschgletscher zu drohen. Bislang, darf man sagen, haben sich Gletscher- und Circuswelt nicht schlecht vertragen. Bewegen und zirkulieren lassen war die Devise. Doch mein jüngster Essay Les glaciers avancent-ils? in der Sondernummer der Zeitschrift Schweiz Suisse Svizzera Switzerland, worin ich die These vertrete, dass wir bei anhaltender Gletschertätigkeit einer neuen Eiszeit entgegengehen, dürfte auch einer Circensin von Ihrer Unerschrockenheit die Gänsehaut den überaus hübschen Rücken hochjagen. Erstmals seit dem berüchtigten Gletschervorstoß der zwanziger Jahre, Frau Knie, sind 1979, so weit wir die Zahlen bis dato überblicken, mehr Zungen vorgerückt als abgeschmolzen. Wir haben es mit einer deutlichen Tendenzwende im Firnerbereich zu tun. Natürlich haben die führenden Glaziologen der Schweiz diese Bewegungen unter Kontrolle. Garantieren kann ich dennoch für nichts. Und, mutige Kunstreiterin: die Ogiven am Triftgletscher im Gadmental «aufzuheizen», ein paar Séracs vom Grindelwaldgletscher abzusprengen, wenn Sie im Berner Oberland gastieren, wäre für unser Institut eine Kleinigkeit. Aber ich will Ihnen ja gar nicht drohen, ich möchte Ihnen meine Gefühle deklarieren.

Im Alter von fünf Jahren durfte ich zum ersten Mal an der Hand meines Vaters, eines Humoristen von Gottes Gnaden, die Kindervorstellung des Schweizer National-Circus besuchen, auf dem Marktplatz in Reinach AG hinter dem Hinteren Schneggen. Damals waren Sie noch nicht einmal unterwegs. Ich habe das ganze Programm noch im Kopf: Lipizzaner-Dressuren, langweilig; Urwaldtrotterei und -trompeterei von Dickhäutern, langweilig; die Affen in paillettierten Gilets, langweilig; es war fast so langweilig wie am Sonntagmorgen in der Sonntagsschule und am Nachmittag im Dankesberg, einer Stündeler-Kapelle im benachbarten Beinwil – was indessen gefallen konnte, war das Spaßmacher-Trio Les Rivels,...

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