Der blaue Vogel kehrt zurück - Roman

Der blaue Vogel kehrt zurück - Roman

von: Arjan Visser

dtv, 2014

ISBN: 9783423420198

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 1857 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Der blaue Vogel kehrt zurück - Roman



5


Auf der letzten Etappe meiner Reise, das Ziel schon vor Augen, schöpfe ich eine Erinnerung an meinen Geburtsort nach der anderen aus dem Brunnen meines Gedächtnisses. Ich baue das Bühnenbild auf und stelle mich selbst mitten hinein. Erst bin ich nur ein Statist in einer Stadt aus Pappe, doch bald schon spüre ich die Gehwegplatten unter meinen Füßen, höre die Händler auf dem Albert-Cuyp-Markt ihre Ware anpreisen und sehe die Amstel an mir vorbeifließen.

Dies ist meine Heimat. Das bin ich.

Was den Anfang meiner Geschichte betrifft, so bin ich auf das angewiesen, was meine Eltern mir erzählt haben; ich muss mich darauf verlassen, dass ich es mir richtig gemerkt habe.

Sie erzählten, ich sei in einem drei mal vier Meter großen Zimmer geboren worden. Zu klein für so viel Leben, soll mein Vater gesagt haben. Meine Mutter meinte, ich hätte sehr lange auf mich warten lassen. Ich hätte ihr wehgetan, weil ich mit verdrehtem Kopf geboren worden sei. Einen echten Sternengucker hatte mich die Hebamme genannt.

In den ersten fünf Jahren meines Lebens musste ich zu allem ermutigt werden. Ich wollte weder gehen noch sprechen. Meinen ersten Satz äußerte ich am Abend meines dritten Geburtstags, als ich ins Bett gehen sollte. Er lautete: »Nein, nicht schlafen.«

Meine Mutter lachte immer so nett, wenn sie mir das erzählte.

Diesen Moment und alle folgenden registrierte ich selbst und bewahrte sie irgendwo in meinem Kopf auf.

So weiß ich zum Beispiel noch, wie die Flamme der Kerze, die am Schabbat angezündet wurde, in unserer zugigen Wohnung flackerte. Und wenn ich Schimmel rieche, erkenne ich den Geruch erst, nachdem ich mich an das Badezimmer in der Weesperstraat erinnert habe.

Eine Etagenwohnung – klein, wie ich später feststellte – über einer Drogerie.

Mein Vater war Händler. Er kaufte und verkaufte Lumpen, aber auch Hausrat, Bücher, Obst und Gemüse, Schreibwaren, Arzneimittel und Lottoscheine. Seine Vergnügungssucht war ebenso ausgeprägt wie sein Geschäftssinn, und das Geld, das er einnahm, verweilte nie lange in seiner Tasche. Der Löwenanteil verschwand in der Kasse des Café Schiller am Rembrandtplein. Er aß und trank gerne, aber noch lieber sah er zu, wie die Menschen in seiner Gesellschaft – in der Regel blonde Frauen – es sich gut gehen ließen.

Manchmal durfte ich ihn begleiten. Solange ich den Mund hielt.

»Ach, Meijer!« Ich kann das Gurren immer noch hören. »Aber, aber Meijer!«

Mein Vater war fast zwei Meter groß. Breite Schultern, schwarzes Haar und leuchtend blaue Augen. Er war im Jordaan geboren, hatte sich jedoch verschiedene Akzente angeeignet. Bei den feineren Kunden sprach er mit vornehmem Den Haager Dialekt, wenn er billigen Tand verkaufte, war es ratsamer, aus seinem Stadtteil zu kommen.

Die einzige Summe, die er immer gewissenhaft beiseitelegte, war das Haushaltsgeld. Damit ging meine Mutter zum Einkaufen, bezahlte Miete, Wasser, Strom und Kohle. Sie hatte gelernt, meinen Vater zum richtigen Zeitpunkt – spätabends, wenn seine Wangen sich gerötet hatten – um Geld für Kleidung und »Extras« zu bitten. Mit schönen, nicht allzu teuren Vorhängen am Fenster und Bildern an den Wänden, die sie aus Zeitschriften ausschnitt und einrahmte, versuchte sie, die Stube wohnlich zu machen. Aber es blieb trotzdem ärmlich.

Von jedem aufgelösten Haushalt, den mein Vater aufkaufte, behielt er etwas für uns. Einen Globus mit eingebauter Beleuchtung für mich, ein Steingutservice für Mama, Schmuck für sich – den er später seinen Freundinnen verehrte.

In meiner Erinnerung war das schönste Geschenk, das er je machte, nicht das amerikanische Tischtennisspiel für mich, sondern ein kleines Bild – eine auf Holz aufgeklebte Reproduktion – für meine Mutter, das über der Anrichte im Esszimmer hing.

Noch bevor sie das Päckchen entgegennahm, das in eine alte Zeitung eingeschlagen war, wusste ich, dass etwas Besonderes darin sein musste. Das sah ich schon an der Art, wie mein Vater es ihr überreichte. Meine Mutter zerriss das Papier und wurde rot. Auf der Rückseite des Holztäfelchens las ich: »W. Drost. Bathseba. 1654.« Der Kuss, den mein Vater ihr gab, war inniger und dauerte länger denn je. Er legte meiner Mutter die Hände auf den Hintern und hob sie ein Stück vom Boden.

Das Gemälde zeigte eine Frau mit entblößten Brüsten. Ihr Blick war sonderbar, fast ergeben. Sie trug auffällige Ohrringe und hatte große dunkle Augen, doch es war vor allem ihre linke Brustwarze, die mich faszinierte. Als wäre all die Liebe an diesem Abend, die Geschenke und die Umarmung in diesem kleinen runden Kreis eingefangen.

Die Wirkung der von Drost gemalten Frau ließ nicht nach. Selbst als mein Vater und meine Mutter sich nicht mehr auf diese Weise umarmten, und sogar dann nicht, als ich sie kaum noch zusammen sah. Allmählich drifteten das Bild und die Erinnerung an die Umarmung meiner Eltern auseinander. Übrig blieb eine angenehme Wärme, die mich erfüllte, wann immer ich die Brustwarze betrachtete.

Mein Vater kaufte mehr, als er verkaufen konnte, aber trotzdem ging er jedes Mal hin, wenn man ihn bat, »mal zu gucken, ob was für ihn dabei ist«.

Sein bestes Geschäft machte er mit dem Eigentümer der Tolstraat 101, nachdem der ihm den Hausrat der Wohnung im ersten Stock verkauft hatte. So erzählte es mir mein Vater: Er sei kopfschüttelnd hinter dem Mann hergegangen und habe sich bei jedem Mangel in der Wohnung laut gewundert, wer hier einziehe, müsse ein Trottel sein. An der Tür habe er dann ganz beiläufig angeboten, einen Mieter zu suchen, irgendeinen armen Schlucker, der gerade mal genug Geld für die Miete habe, und bis dahin, er wolle ja nicht so sein, würde er selbst mit seiner Familie einziehen. Der Hausbesitzer schlug ein.

Ich war sechs Jahre alt, als wir in die Tolstraat zogen. Dort durfte ich allein auf die Straße. Die Einzige, die mich im Blick behielt, war Mevrouw Van Groen aus dem Erdgeschoss. Jedes Mal, wenn ich die Eingangstreppe hinauf- oder hinunterging, sah ich sie an ihrem Stammplatz sitzen, hinter den Blumentöpfen auf der Fensterbank. Wenn ich ihr zuwinkte, duckte sie sich schnell. In meiner Erinnerung ist sie alt, doch vermutlich war sie in dem Alter, in dem meine Enkel heute wären, wenn ich welche hätte.

Ich freundete mich mit den Söhnen der Diamantschleifer an, die bei Asscher arbeiteten. Ich aß viel, wuchs und gedieh. Mit meinen langen Gliedmaßen konnte ich mühelos auf die Kastanien im Sarphatipark klettern und auf die Dächer der Schuppen in der Lutmastraat. Gelenkig, schnell und stark war ich.

Aus den ersten Jahren in der Tolstraat fällt mir diese Geschichte ein: Da war ein Mädchen, sein Name ist mir entfallen. Sie hatte strohblondes Haar und trug eine große Schleife schräg auf dem Kopf. An ihre Hände erinnere ich mich gut. Die musste ich mir immerzu ansehen. Es ist schwer, das passende Adjektiv für sie zu finden. »Schön« ist zu gewöhnlich. »Vornehm« klingt seltsam. »Schmal« wird ihren Händen nicht gerecht. Sie fühlten sich zart an. Das Mädchen schob sie unter meinem Pulli und meinem Unterhemd bis zu den Schulterblättern hoch. Mir erschien es ganz selbstverständlich, dass ich mich vorbeugte und sie auf die Stirn küsste. Wenn Mevrouw Van Groen nicht genau in dem Moment das Treppenhaus hätte putzen wollen, hätte ich diese Begegnung vielleicht vergessen. Dadurch, dass sie auftauchte, dauerte unsere Umarmung länger; eng umschlungen standen wir da, gefangen im eisigen Blick meiner Nachbarin. Dem Mädchen sagte sie, es solle sich besser mit seinesgleichen abgeben.

Der Zinkeimer schabte über die Steine, Wasser platschte die Stufen hinunter. Erst hörte ich sie schrubben, dann wischte Mevrouw Van Groen das überschüssige Wasser auf. Als sie fertig und wieder in ihrer Wohnung verschwunden war, ließ das Mädchen mich los und lief, so schnell es konnte, die noch nasse Treppe hinunter.

Offenbar nahm sie sich Mevrouw Van Groens Rat zu Herzen; jedenfalls sah ich sie nie mehr wieder.

»Du siehst genauso gut aus wie dein Vater«, sagte meine Mutter, als ich ihr die Geschichte erzählte, doch ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, und ihre Äußerung bot auch keine Erklärung für meine Erregung – eine Art Nervosität –, die sich nur langsam wieder legte.

Dass ich meinem Vater ähnlich sah, hatte meine Eltern lange Zeit erfreut, aber ein Jahr nach unserem Umzug änderte meine Mutter allmählich ihre Meinung.

»Derselbe Kopf«, sagte sie, »aber nicht derselbe Inhalt. Was in diesem Mann vorgeht, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Dein Vater wird mir immer fremder.«

Mir war nicht ganz klar, was sie damit meinte, doch wenn sie darauf anspielte, dass wir ihn in der Tolstraat nur selten zu Gesicht bekamen, hatte sie sicher recht. Mein neues Leben in diesem Viertel hielt mich zu sehr auf Trab, als dass ich ihn vermisst hätte. Mir ging es gut da.

Als meine Mutter anfing, über die Frauen herzuziehen, mit denen ihn unsere ehemaligen Nachbarn aus der Weesperstraat gesehen hatten, ging mir auf, dass es sich dabei um jene »Tanten« handeln musste, die ich ihr gegenüber nicht erwähnen durfte. Eine war dabei, die mein Vater augenzwinkernd »eine ganz besondere Tante« genannt hatte. Wir aßen ein paar Mal zu dritt Eis am Leidseplein. Sie trug einen Pelzmantel und lachte viel.

Zu der Zeit legten meine Mutter und ich uns ein Steckenpferd zu, das, glaube ich, ihrer Eifersucht geschuldet war. Als mein Vater mich einmal nach einem Ausflug nach Hause gebracht hatte – »Wir waren nur zu zweit, Jonah, vergiss das nicht, nur wir zwei!« –, um wegen eines »sagenhaften Angebotes« gleich darauf wieder aufzubrechen, lief sie ihm bis ins...

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