30. April 1945 - Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann
von: Alexander Kluge
Suhrkamp, 2014
ISBN: 9783518736944
Sprache: Deutsch
316 Seiten, Download: 5773 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Mehr zum Inhalt
30. April 1945 - Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann
1
Ankunft am Endpunkt
Die gefährlichste Waffe des Zweiten Weltkriegs auf Transport weiter nach Westen
Letzte Erfolge, schon nicht mehr gewollt
Keine Sicherung von Eigentum bei Ansturm einer neuen Zeit
Unternehmung nach Art eines »Geländespiels«, nur weil ein Benzinvorrat vorhanden war
Kein Feind war nötig, um den Krieg zu beenden
Tödliche Begegnung zweier Zuständigkeiten
Ein antibolschewistisches Prag für einen Tag
Vieles, was liegengeblieben war, sollte noch erledigt werden
Erfahrungszuschuß aus der Alpenfestung für Frankreich
Die letzten Tage des »ewigen Frankreichs«
Die Bahnen östlich des Brenners arbeiteten auf Hochtouren
Drei russische Offensiven in den Ostalpen und donauaufwärts
»Man nennet aber diesen den Ister. Schön wohnt er«
Das Ende der Feindseligkeit, erlebt im Burgtheater Wien
Die »Schwarze Hand« von 1914 hätte gegen den Präsidenten der USA keine Chance
Himmelschreiende Entschlüsse in so kurzer Zeit
Venus plus Mars im Quadrat zu Saturn: die Todeskonstellation
Hemmschwelle gegenüber gewaltsamer Tötung bei einem Steinzeitstamm
»Alle waren mit der Tötung einverstanden«
Wie wenig militärische Voraussagen ein Vierteljahrhundert überstehen
Er wünschte sich, nach Hause zu kommen
Verschränkung der spirituellen Welten mit den realen
Geisterhafte Himmelserscheinung über dem Brocken
Heiner Müller: Das Eiserne Kreuz
Der letzte Meteorologe von Pillau
Ich habe diesen Tag in einer Stadt nördlich des Harzgebirges erlebt. Mit 13 Jahren. Unsere Stadt ist seit dem 11. April von den Amerikanern besetzt. Vom Rest der Welt weiß ich zu diesem Zeitpunkt aus unmittelbarer Erfahrung nichts (was ich höre, was ich lese, wäre mittelbar). Niemand hat einen Überblick über das Ganze, sagt der Architekt Uri Bircher in Zürich. Er liest in der NZZ.
Es gibt ja dieses Ganze auch gar nicht, entgegnet ihm ein Arzt. Sie sitzen in einem Café. Der Zusammenbruch einer Großorganisation wie Deutschland schafft Trümmerstücke. Und das sind nicht nur, fügt der Architekt hinzu, die Gebäude, Bahnen und Straßen, die zerstört sind, sondern im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen Stücke unterschiedlicher Realitäten durcheinander. Ich stelle mir vor, sagt der Arzt, daß in den Enklaven, in denen die Organisation der Vorjahre existiert, also in Oslo, auf Rhodos, in Breslau, in den Festungen an der Atlantikküste oder in Prag, noch Flaggenhissungen stattfinden.
Man kann sich eigentlich als Leser des Jahres 2014, sagt der Pädagoge Böhmler aus Bielefeld, in das, was man von den Zeitgenossen des 30. April 1945 weiß (oder zu wissen glaubt), schwer hineinversetzen. In den Kellern des umkämpften Berlin ist alles, was die Sinne ausfüllt, so rabiat anders als das, was im bereits neuen Wirklichkeitszustand, unter der Herrschaft der Alliierten im Westen, stattfindet.
Trägheit: Im Kopf eines Menschen noch die Schlager von 1939. Das Auge sieht das brutale Grau von Explosionen. Die Seele zieht sich zurück: Erwin Brinkmeier sah eine Gruppe von Rotarmisten am Werke, die Frauen vor sich her in einen Keller trieben. Obwohl er im Garten eine Panzerfaust vergraben hatte, rührten er und sein Gefährte, der Blockwart Fred Schüller, sich nicht aus ihrem Versteck.
Abb. 2: Flüchtlinge klettern über die gesprengte Elbebrücke von Tangermünde, um das Westufer und damit die US-Amerikaner zu erreichen. Foto von Fred Ramage.
»Galoppierende Morgenröte«
Die Morgenröte übersprang die Reichshauptstadt, die unter einer tiefliegenden Wolkendecke lag, darunter grauer Gefechtsstaub und Brände. In den Trümmern und Straßen fand das Licht wenig Halt. Weit ausgreifend dagegen warf sich der Tag auf das Land westlich von Brandenburg bis zum Harz hin. Dort saugte eine Regenfront alle Macht des Morgens etwa an der Grenze Dingelstedt – Zilly rasch auf. Von Westen strebten über die Chausseen Versorgungskolonnen der US-Streitkräfte, welche die Panzereinheiten, die dort tatenlos verharrten, bis zum Frühstück zu erreichen suchten.
Tod in Verwirrung
Die Familie von Voß zog in den Wald. Sie wollte fliehen. Die Brücke, die über den Fluß nach Westen führte, schien unpassierbar. Von Anklam her näherten sich russische Truppen. Der Gutsherr entschloß sich zum Freitod. Er erschoß seine Frau, dann die Tochter. Die Gutssekretärin, die aus dem Ort hinzugelaufen kam, tötete er auf deren Bitte hin. Dann erschoß er sich selbst. Die fünf wurden im Wald begraben. Von Voß war kein Großgrundbesitzer, sondern Bewirtschafter eines relativ kleinen Gutes. Die Russen hätten ihn einen Kulaken genannt. In der Partei war er nicht. Es war nicht gesagt, daß die russischen Fronttruppen den Flüchtenden etwas zuleide getan hätten. Trotzdem dieser Tod. Von Voß hielt das Leben für beendet, glaubte, aus der Realität herausgefallen zu sein.
Die Waffe der Nichtbeachtung
Nach eineinhalb Jahren immer noch siegestrunken, lag die KAMPFGRUPPE FRIEDRICH-WILHELM MÜLLER in ihren Quartieren auf der Insel Kreta. Gebirgsjäger, Fallschirmjäger, Angehörige des »Regiments Brandenburg« (Geheimdienstler), Einheiten der 22. Infanteriedivision. Im November 1943 noch hatten sie die Briten, die auf der Insel Leros gelandet waren, zur Kapitulation gezwungen.
Nachdem die deutschen Truppen Athen und das nördliche Griechenland geräumt hatten, waren die Besatzungen der ägäischen Inseln und Kretas isoliert. Man sprach von ihnen als »einem bewaffneten Gefangenenlager«. Aber tatsächlich, sagten sie sich, waren sie in der Lage, sich gegen jeden der örtlichen Gegner wirksam zu wehren.
Kritisch war die Ernährungslage, vor allem für die kretische Bevölkerung. Ein Schiff, gechartert vom Schweizerischen Roten Kreuz, brachte Lebensmittel und Medikamente nach Heraklion. Die Lieferung wurde von britischen Offizieren begleitet, die an Land und wieder auf das Schiff gelassen werden mußten und welche die ordnungsgemäße Verwendung der Vorräte für die Bevölkerung kontrollieren sollten. Als ob die deutsche Truppe sich an den Gütern vergreifen würde! Es lag Mißachtung darin, wie die britischen Abgesandten im Umkreis der schwerbewaffneten Deutschen einherstolzierten. Es handelte sich hier um die letzte intakte Streitmacht der Achse im Süden. Erneut war sie zum Warten verurteilt. Nichts entnervt stärker, als vom Feind ignoriert zu werden. Zuletzt wünschten die deutschen Stäbe, daß jemand sie hier abholen würde. Am Montag, dem 30. April, funkten sie an die alliierten Hauptquartiere in Alexandria und Neapel mit der dringlichen Anfrage, was mit ihnen geschehen solle.
Der Weg nach Westen
Er galt als bester Stoßtruppführer seiner Division. Er war Oberstudiendirektor, einer der jüngsten des Reiches, Altphilologe. Die Kenntnis der alten Sprachen hilft bei der Unterscheidung von Bäumen, Büschen, Bodenbeschaffenheit und Feind, die quasi grammatische Beziehungen darstellen, wenn einer ungesehen durch das Gelände schleichen will. So fand er einen Nachen, als er von Osten zur Elbe gelangte. Unerkannt durchquerte er auf dem westlichen Ufer die Front und marschierte weiter nach Westen. So kam er bis zum Rhein. Dort ergab er sich einem rückwärtigen Posten der Amerikaner.
Durch seinen weiten Marsch hatte er sich verdächtig gemacht. War er ein Werwolf, der sich verspätet stellte? Die deutschen Soldaten waren in diesem Bereich des Landes schon vor Monaten als Gefangene vereinnahmt worden. Die Gefangenenlager sahen ihrer Auflösung entgegen. Die Beschreibung des Weges in den Westen, die er zu Protokoll gab, klang wenig wahrscheinlich. Er aber hatte erreicht, was er wollte: so weit von der Front zur Roten Armee hin entfernt zu sein, daß es für die Amerikaner unpraktisch gewesen wäre, ihn noch dorthin...