Maria vom Schnee - Roman

Maria vom Schnee - Roman

von: Udo O Rabsch

konkursbuch, 2013

ISBN: 9783887698881

Sprache: Deutsch

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Format:  EPUB

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Maria vom Schnee - Roman



Der Roman


He, Herr Lehrer, haben Sie die Maria gesehen?“

„Die Maria … lass mich nachdenken.“

Da, wo ich jetzt bin, kann ich Blasmusik hören und das Heu riechen. Es ist dieselbe Musik, die mir, als ich noch lebte, immer das Gefühl gab, ich wäre bereits im Himmel. Ich lag im Bett und die Trompetenklänge von der Festwiese neben dem Schützenhaus schwappten mit dem Wind und dem Duft der gemähten Wiesen in die Gartenstraße herüber. Die Maria war dort Bedienung, denn der Wirt vom Saalbau, unter dem sie arbeitete, hatte den Ausschank. Alle reckten den Hals nach ihr, jeder wollte ihren Blick erhaschen. Wer bereits etwas getrunken hatte, fasste nach ihrer Schürze oder versuchte gar, den Arm um sie zu legen. Noch auf dem Nachhauseweg brannte das Bild der Maria im Herzen der Festzeltbesucher. Auch ich trug sie im Innern meiner Knabenseele mit nach Hause, und mit jedem Luftzug, der den Klang der Trompeten und den Duft der Wiesen auftürmte, flackerten Schmerz und Glück gleichzeitig in mir hoch, darüber, dass ich sie kannte, und darüber, dass wir nicht zusammensein konnten.

Das Dorf lag in einer der unzähligen flachen Mulden der schwäbischen Alb, deren Oberfläche sich so regelmäßig hinauf- und hinunterschwang, als wäre sie eine Meeresdünung. Und die Waldränder wären die Schatten der Wellenkämme. Es war eine verdächtig ruhige Landschaft.

Von Norden aus gesehen war sie ein zweihundert Kilometer langer, schräg in den Boden gerammter Grenzstein mit einem gewaltigen, Hunderte von Metern tiefen, fast senkrechten Absturz zur Ebene hin. Im Süden sah man bei klarem Wetter die schneebedeckten Gipfel der Alpen.

Es war eine angespannte, von allem Überflüssigen und Verzierenden gereinigte Landschaft, nahe daran, sich von sich selbst zu entfernen und körperlos zu sein. Als läge sie in einem stummen Wettkampf mit dem nahen Hochgebirge, dessen stratosphärische Gipfel sie übertreffen wollte, durch Einsamkeit, durch Himmelsnähe, durch das hartnäckige Schweigen ihrer Bewohner, das so vielbedeutend schien, wie es in Wahrheit leer und wie vor den Kopf  geschlagen war.

In der Nacht vom fünften auf den sechsten Dezember neunzehnhundertfünfundfünfzig wurde die Hochebene vom Schnee verschüttet. Einfach so. Endlich. Als wäre das Verschwinden unter dem sich auftürmenden Schnee ihre wichtigste Eigenschaft, als hätte sie nur auf diesen Beweis ihrer Herausgehobenheit gewartet.

Der Schneefall unterbrach alle Verbindungen. Straßen und Stromnetze, Telefonleitungen und Zugstrecken verschwanden unter Lawinen. Das Innenministerium erklärte die Gegend zum Katastrophengebiet. Am Abend hatte man noch eine einzelne, sehr schwarze Wolke gesehen, die über den Rand des Schluchtberges drängte, den man Diebsteige nannte, ein Wind war aufgekommen, nicht besonders heftig, eine Brise, und dann hatte sich die weiße Flut lautlos über das Land gelegt wie über eine hochgereckte flache Hand.

Der Volksschullehrer lag auf dem Sofa in der Wohnküche, im grauen Armeemantel. Er hatte ihn behalten, nachdem er von der russischen Front und von einer kurzen Gefangenschaft in einem amerikanischen Camp an der tschechischen Grenze ins Dorf auf der Alb zurückgekommen war. Die Nacht hatte er in der Wohnküche verbracht.

Er schreckte hoch. Es schneite. Die Schneeverwehung reichte schon über den Fenstersims des ersten Stockes. Er taumelte schlaftrunken zum Tisch, setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Schneefrei. War es das, was ihn plötzlich amüsierte? Er würde nicht zur Schule gehen müssen, er würde ab jetzt nirgendwohin mehr müssen. Er kicherte vor sich hin. In ihm war ein graues Durcheinander wie das Schneegestöber draußen, dessen Stille von den erstickten Schreien der Kinder zerrissen wurde, die Schlitten fahren wollten. Er wollte unbedingt einen Gedanken zustandebringen, etwas Logisches, aber es gelang ihm nicht. Er merkte nur, dass er plötzlich leicht war.

Er stürzte zum Fenster, riss es auf und starrte hinaus. Fliegen? Fallen? Er polterte zurück ins Zimmer, in den Flur und durch die Stalltür. Seine Augen trafen in die Augen der Haflingerstute, in den ausufernden Blick der Tiere, die sprechen wollen, aber nicht können. Er warf dem als Haflinger bekannten, ihm aber unbekannten Wesen denselben wortlosen, allverschlingenden Verzweiflungsblick zurück. Ein Rauschen befiel ihn, eine Hitze, als stünde er vor der Oberschulamtskommission, der blondmähnige Pferdekopf der Studiendirektorin ist über ein Fragen- und Antwortheft gebeugt. Er sah in den geduldigen Blick eines Tieres, das in wohlgesetzten menschlichen Worten zu ihm sprach, und verstand kein Wort.

Leicht und frei? Womöglich genauso kristallisch schön und federleicht wie eine Schneeflocke flog er gegen die Stalltür, stieß sie auf. Der Wind hatte den Schnee unter das weit vorspringende Dach bis an die Hausmauer und über die Tuffsteintreppe geweht. Auf dem ausgetretenen Stein war ein rostroter Fleck, der sich im Schnee verbreitete wie ein Tintenklecks auf weißem Tuschpapier.

Er schaute dorthin, wo die Kirchstraße sonst verlief. Das Morgenlicht war dünn und flüchtig, es wird nach oben wegfliegen. Die Schneemassen, die den Dorfplatz bereits unter sich begraben hatten und ihn mit neuen Schneeschauern immer weiter verschütteten, werden die Häuser, den Bauernhof vom Schaller, den Kirchturm und das Rathaus nicht festhalten können, dachte der Volksschullehrer. Er dachte es nicht, er empfand es wie ein Tier, ein Löwe auf einem weißen blutbespritzten Lamm, von der ganzen Welt verspürte er nur die Glutstücke seiner Gefühle, die sich auflösen würden. Der Volksschullehrer bedeckte seine Augen und stolperte durch die Stalltür zurück ins Haus. Er grinste zufrieden, ging in die Küche hinauf und bereitete sich sein Frühstück.

Er schluckte die Bissen hinunter, ohne zu kauen. Was sollte er sonst tun? Würgend und hustend sprang er auf und wischte die Spüle sauber. Er nahm einen Lappen und rieb das Metall trocken. Es erschien ihm noch nicht trocken genug, mit dem Ärmel des Armeemantels wischte er nach. Er hatte seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle, Arme und Beine schlugen aus wie bei einer Nervenkrankheit. Es blieben Schlieren auf dem Spülblech. Er nahm ein Hemd und wischte und rieb. Er spuckte auf die Stellen und putzte sie, in seinem ganzen Leben hatte er nicht so gründlich geputzt. Seine Schultern verkrampften sich und schmerzten. Er holte Vim und puderte die Spüle damit ein. Seine Schultern brannten vor Anstrengung. Er nahm Stahlwolle und schmirgelte auf dem Blech herum, das Gewehr muss sauber sein, geölt wie ein Kinderpopo, tipp, topp. Mit der Stahlwolle zwischen den schwarzen, schaumigen Fingern ging er hinunter zur Stalltür, beugte sich über den Stein mit dem rostroten Fleck, wischte den Schnee zur Seite und rieb auf dem Stein hin und her, als hätte er den Rücken eines Menschen vor sich, den er zugleich züchtigen und verzärteln müsste. Seine Augen waren zusammengekniffen, er schien ruhiger zu werden, er beruhigte sich, sein Mund öffnete sich, er lächelte wieder, seine Zähne glänzten, der Fleck war verschwunden, aber tauchte wieder auf, überall, auf der Kirchstraße, am Rathaus, an der Schule, was sollte er machen?

Der Volksschullehrer soll die Kellnerin des Saalbau umgebracht haben, die Maria, so hieß es.

Maria war die Ziehtochter von polnischen Zwangsarbeitern, die in den Baracken wohnten und auf den Feldern arbeiten mussten. Ihr Vater war bei einem Fluchtversuch auf der Gemarkung Plattenhardt oben am Wald erschossen worden, die Mutter blieb und wohnte weiter in den Baracken. Die Maria hat sich immer schon herumgetrieben. Schon als Elf-, Zwölfjährige war sie ein freches, die Männer reizendes und verspottendes Kind, einerseits aufdringlich, andererseits zurückgezogen und seltsam.

Der Volksschullehrer war fünfunddreißig. Mit fünfundzwanzig war er aus dem Krieg zurückgekehrt und hatte gleich die Lehrerstelle seines Vaters bekommen. Bei Ausbruch des Krieges war er in einem Lehrerseminar, dann Maschinengewehrschütze. Nach dem Krieg übernahm er den verlassenen Bauernhof seines Vaters. Der Vater war ein paar Kilometer südlich von seiner eigenen Stellung gefallen, sie wussten nicht, dass sie einander so nah gewesen waren. Er ließ alles so, wie er es vorfand, im Hof, im Stall und in der Scheune. Er lebte in der Küche. Wusch sich in der Küche und schlief auf dem Sofa. Das Haus war heruntergekommen.

Der Kommissar Adolf Schön war noch ein junger Mann, fünfundzwanzig, um genau zu sein, er war fünfzehn bei Ende, neun am Anfang des Krieges. Hatte mit zweiundzwanzig geheiratet und schnell hintereinander kamen die beiden Mädchen. Am selben Tag, an dem der Anruf aus Dornstetten kam, wurde er von seiner Dienststelle losgeschickt. Mordverdacht. Die Kellnerin des Saalbau sei verschwunden, der Stall des Volksschullehrers sei voller Blut.

Es war Anfang Dezember. Eine schwarze Wolke hing vor der langen Gebirgsmauer, hinter der sich das Dorf befand. Am Abend dieses Tages begann die größte Schneekatastrophe seit hundert Jahren.

Der Kommissar war mit vierzehn mit seiner Familie aus Ungarn gekommen, sie zogen in die leer gewordenen Kasernen in Kirchheim, er ging noch ein Jahr in die Volksschule, dann auf die Polizeischule. Bei der Polizei machte er rasch Karriere, und er leistete sich früh das Auto, einen Lloyd 400, später den stärkeren 600er.

Adolf Schön war ein schmächtiger Junge, er gehörte immer zu den Kleinsten. Wenn die Kinder mal hierhin und mal dorthin rannten, weil zum Beispiel ein Hornissennest aufgestöbert und durch Steinwürfe in Aufregung geraten war, kam er immer als Letzter an, weil er nur halb so große Schritte machen konnte wie die anderen. Manchmal, wenn er stehen bleiben und Luft schöpfen musste, biss er sich auf die Lippen und nahm...

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