'Aus mir ist ein Mensch geworden ...' - Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene

'Aus mir ist ein Mensch geworden ...' - Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene

von: Katrin Wagner

Archiv der Jugendkulturen Verlag, 2014

ISBN: 9783943774801

Sprache: Deutsch

132 Seiten, Download: 1704 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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'Aus mir ist ein Mensch geworden ...' - Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene



2. Forschungsstand


Bisher gibt es zu biografischen Brüchen in der Soziologie lediglich einen kleinen Fundus an Literatur. Insbesondere die Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands und die damit verbundenen Brüche, explizit die der Bürger aus den Neuen Bundesländern, sind oftmals Gegenstand der Betrachtung (vgl. z. B. Elis 2000). Neue Bundesbürger konnten angelegte Lebensläufe und -pläne nicht wie gehabt weiterverfolgen. Sie mussten bisherige Einstellungsmuster überdenken und oftmals einen Bruch wie zum Beispiel im Arbeitsleben erfahren. Ebenfalls wurden weibliche (Normal-)Biografien vielfach untersucht (Levy 1977). Fokussiert wurden hier besonders Brüche aufgrund von Schwangerschaften und dem damit oftmals einhergehenden Rückzug aus der Arbeitswelt. Darstellungen finden sich ferner über Biografien bestimmter Berufsgruppen (z. B. über weibliche Zeitarbeiterinnen von Wohlrab-Sahr 1993; Wohlrab-Sahr 1995: 232-249) oder auch eine Kombination der Themen Wende und weibliche Biografie (Kreher 1995: 253-268). Ebenfalls wurde das Thema der Arbeit bzw. der Arbeitslosigkeit allgemein als Bruchstelle analysiert, wie beispielsweise durch Alheit/Glaß (1986), welche sich mit den Biografien arbeitsloser Jugendlicher beschäftigten. Sie gingen der Frage nach, welche Strategien arbeitlose Jugendliche wählen, um mit diesem Problem umzugehen und was ihre Wahl der Strategien beeinflusst hat. Als Ergebnis ihrer Studie identifizierten Alheit und Glaß Verarbeitungsmuster der Jugendlichen, um die mit der Arbeitslosigkeit einhergehenden Probleme zu bewerkstelligen. Auch die klassische Studie von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal (1975) hat schon die sozialen, psychischen und auch somatischen Folgen eines plötzlichen oder unerwünschten Arbeitsverlustes thematisiert.

Rückblickend ergeben sich aus der Geschichte Deutschlands Brüche, die kollektiv erlebt wurden. Dazu gehören der Genozid an den europäischen Juden, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg.18 Wolfram Fischer-Rosenthal (1995) und Gabriele Rosenthal (1990) haben diese Brüche untersucht und sind dabei der Frage nachgegangen, welche Strategien Zeitzeugen anwenden, um mit dieser Vergangenheit zu leben. Zur neueren deutschen Geschichte gehört der ebenfalls bereits erwähnte kollektiv erlebte Bruch der Wende bzw. der Wiedervereinigung Deutschlands. Hier wurde beispielsweise der Bruch mit der SED untersucht, um subjektive Sicht- und Verarbeitungsweisen ehemaliger SED-Anhänger freizulegen (vgl. Semmelmann 1990).

Ein Mangel besteht an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu biografischen Brüchen von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene. Es gibt zwar einen Fundus autobiografischer Aussteigerliteratur, aber keine wissenschaftlichen Arbeiten, die sich explizit mit dem Bruch und dessen Bedeutung für das Individuum und seine Biografie beschäftigen. Bisherige wissenschaftlich fundierte Literatur zielt eher auf Handlungsempfehlungen, um einen Ausstieg einzuleiten und zu begleiten.

Mit einem biografischen Bruch gehen immer auch Probleme einher. Diese beziehen sich beispielsweise auf den Umgang mit anderen Menschen, wie etwa mit der nachfolgenden Verwandtschaftsgeneration. Konflikte entstehen, wenn nach dem Bruch die Vergangenheit den Tatsachen entsprechend überliefert werden würde, wie beispielshalber die aktive Teilhabe oder auch die Duldung der Vernichtung europäischer Juden. Vertrauenskrisen, die zwischenmenschliche Beziehungen in Frage stellen, können die Folge sein (vgl. Fischer-Rosenthal 1995: 73f). Vor allem aber wird das Individuum auch damit konfrontiert, sich selbst zu beurteilen und zu fragen, inwiefern es eine bestimmte politische Praxis unterstützt hat. Dies war auch nach der Wende der Fall, als unrechtmäßige und gewaltsame Praktiken zur Durchsetzung des sozialistischen Programms aufgedeckt wurden. Von der Auseinandersetzung mit dieser Frage sind große Bevölkerungsteile betroffen gewesen, da die Erhaltung des Systems sowohl durch das Ausüben öffentlicher Funktionen, als auch beispielsweise durch eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit gewährleistet wurde (vgl. ebd.: 59f). Problematisch erscheint hier ähnlich dem Bruch, der durch das Erleben des Dritten Reiches verursacht wurde, dass sich der Einzelne im Besitz der richtigen Lehre wähnte und somit ein Bewusstsein für Unrecht und ebenso die Beteiligung daran nicht an sich heran ließ. Der Fundus der konkret aufbereiteten Probleme, die Brüche aufgrund eines Ausstiegs aus der rechtsextremen Szene hervorrufen, und auch der Umgang seitens des Aussteigers19 mit diesen, sind relativ überschaubar. Sie beziehen sich zum einen auf Probleme mit früheren Kameraden, von denen nach dem Ausstieg Racheakte zu erwarten sind.20 Ein weiteres Problem stellt der Umgang mit ehemaligen „Gegnern“ dar. Häufig wird der Weg eingeschlagen, mit ehemaligen Opfern über den Tathergang zu reden, diesen Rede und Antwort zu stehen und sich zu entschuldigen. Diese Art des Umgangs geht einher mit dem Versuch, seine Vergangenheit aufzuarbeiten und als „Selbstreinigungsprozess“ zu vollziehen (vgl. Rommelspacher 2006: 195).

Ein wichtiges Problem nach einem biografischen Bruch tritt so zu Tage: die eigene Vergangenheit. Ausgeführt wird in der Forschungsliteratur nicht, welche Probleme genau die Vergangenheit nun darstellt. Ergänzend möchte ich aber einfügen, dass hier deutlich wird, was genau dem Thema meiner Arbeit entspricht: Frühere Einstellungsmuster und Handlungsweisen erscheinen nun unlogisch und stimmen nicht mehr mit neuen Erfahrungen überein. Der Aussteiger muss für sich selbst seine Vergangenheit aufbereiten und deuten sowie Erklärungen für seine früheren Einstellungen und Handlungsweisen finden. So erschafft er eine Konsistenz, um seinen Weg im Sinne einer Linearität sich selbst und auch Anderen erklären zu können. Als Umgang mit diesem Problem verweist die Forschungsliteratur dazu auf das Schreiben von Aussteiger-Biografien oder die Veröffentlichung des individuellen Weges (beispielsweise durch die Mitarbeit an Aussteigerinitiativen) als Mittel, die Vergangenheit und die eigene Schuld aufzuarbeiten (vgl. ebd.: 196).

Ein weiteres Problem, das in der Literatur aufgezählt wird, ist der Wegfall des sozialen Haltes. Aufgrund der Abschirmung der Szene zu anderen Kontakten sind diese vernachlässigt worden oder ganz abgebrochen. Der Wegfall der Identifikation mit der „politischen Sache“, eine darauf folgende völlige Desorientierung und, im Falle von Berufsfunktionären, der Verlust des Einkommens und der beruflichen Anerkennung durch den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund eines Ausstiegs stellen ebenfalls Probleme dar (vgl. ebd.: 182ff). Es wird deutlich, dass in der Forschungsliteratur eine große Lücke bezüglich der Probleme, vor allem der biografischen Probleme, die Aussteiger haben und auch der Umgangsweisen mit diesen, besteht.

Die von mir gefundene Literatur fokussiert oftmals lediglich eher eine Beschreibung des jeweiligen Bruchs, wobei der genaue Umgang des Individuums mit eben diesem weitgehend vernachlässigt wurde und auch die Folgen für dessen Identität und die Konstruktionsleistung der Integrierung des Bruchs in die eigene Biografie nicht dezidiert ausgearbeitet wurden. Wenn in seltenen Fällen allerdings doch der Umgang mit biografischen Brüchen untersucht wurde, ist zu bemängeln, dass je nach Forscher unterschiedliche und nicht näher definierte Begriffe verwendet werden. Beispielsweise sind dies die Begriffe „Strategien“ bei Gabriele Rosenthal (vgl. Rosenthal 1990) oder „Umgangsweise“ und „Verarbeitungsmuster“ bei Peter Alheit und Christian Glaß (vgl. Alheit/Glaß 1986), welche beschreiben, wie das Individuum auf den Bruch reagiert. Der Begriff der „Strategie“ impliziert meines Erachtens jedoch immer ein bewusstes Handeln, wobei ich jedoch im Einklang mit Peter Berger die Überzeugung vertrete, dass die Reaktion auf Brüche sich sowohl halbbewusst als auch vollbewusst vollziehen kann (vgl. Kap 3.5). Problematisch sind auch die Begriffe „Umgangsweise“ und „Verarbeitungsweise“, da sie je nach Forscher etwas anderes bedeuten. „Umgangsweise“ kann im Sinne der biografischen Arbeit und damit der (Um-)Deutung des bisherigen Lebens zur Konstruktion einer Linearität verwendet werden. Der Begriff kann aber auch auf das alltagspraktische Handeln zielen.

Festzuhalten ist, dass der Fokus in vielen Publikationen nicht auf der Arbeit an der Biografie liegt, welche das Individuum vollbringt. Lediglich Fischer-Rosenthal hat sich damit befasst, wie Individuen mit Kontinuitätsbrüchen biografisch umgehen. Beispielhaft am Bruch durch Auschwitz und dem Genozid an europäischen Juden zeigt Fischer-Rosenthal auf, dass nichtjüdische Deutsche in der Darstellung ihrer Lebensgeschichte „die Juden“ durch charakteristische Lücken in ihrer Erinnerung ausschließen. Sein Fokus liegt dabei vor allem auf der Frage, ob die mühsamere Variante des Schuldeingeständnisses, der Bereitschaft zu lebenslanger Trauer und das Selbsteingeständnis von früheren zerstörerischen Handlungen und der davon begleiteten Denkweise beiseite geschoben wird durch die Option, zu verschweigen und zu verdrängen (Fischer-Rosenthal 1995: 44).

Fischer-Rosenthals These...

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