Am Anfang war der Frost - Roman

Am Anfang war der Frost - Roman

von: Delphine Bertholon

Limes, 2014

ISBN: 9783641123000

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 795 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Am Anfang war der Frost - Roman



Grâce Marie Bataille,

19. März 1981, Küche,

23 Uhr 45 auf der großen Standuhr

Eben beim Essen habe ich der Kleinen von Georges erzählt. Sie hatte ein Gericht aus ihrer Heimat gekocht, wie hieß es noch … Klopsiki, glaube ich. Für mich allerdings war es nichts anderes als Fleischklopse mit Tomatensoße.

Kurzum.

Ich habe ihr also von Georges erzählt, ich konnte es mir nicht verkneifen. Ich rede möglichst wenig mit ihr, doch das musste irgendwie raus. Sie erzählte mir daraufhin, dass ihr Vater Ende der Dreißigerjahre zwanzig Jahre alt gewesen sei. Er studierte in Frankreich, in Paris, Jura. Schon 1937 spürte er das Nahen des Krieges. Danzig, woher er stammte, war durch den Versailler Vertrag Deutschland abgenommen und Polen zugeteilt worden, doch Hitlers Machtergreifung verschärfte die nationalistischen Tendenzen der deutschsprachigen Gemeinschaft, die in der Stadt die große Mehrheit stellte. Ihr Vater verließ also die Stadt und dann das Land und versuchte, auch seine Verwandten und Freunde dazu zu bringen; er warnte sie vor einer möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Tragödie. Niemand glaubte ihm, niemand ging fort.

Im September 1939 ist er also in Paris. Er tritt in die Fremdenlegion ein, doch Ende 1940 wird er von der Gestapo verhaftet. Man bringt ihn in ein Stalag, in ein Kriegsgefangenenlager in Deutschland, aus dem er sechs Monate später mit drei weiteren Gefangenen fliehen kann. Er kehrt über die Grenze nach Frankreich zurück, nach Lyon, dort hat er sich angeblich einer Untergrundbewegung angeschlossen, die aus den Gastarbeitern der Gegend bestand und in der sich alle Kulturen begegneten – Italiener, Rumänen, Russen, Spanier und natürlich Franzosen. Sein Deckname war »Pierrot«. Er hieß Joseph Raziewicz, aber hier war er Pierrot. Ich frage mich, ob er meinen Vater kannte. Auch er war damals zwanzig, zwanzig und ein bisschen. Nach seiner Demobilisierung 1940 trat er dem militärischen Zweig der Résistance bei, den Franctireurs und Partisanen, und kämpfte in den Reihen der Compagnie Carmagnole. Anfangs baute Papa Gleise ab, um den Eisenbahnverkehr zu behindern, dann spezialisierte er sich auf das Fälschen von Ausweispapieren, und 1944 war er an der Sabotage der Aciéries du Rhône beteiligt, einer Gießerei, die für die Deutschen arbeitete.

Vielleicht sind sich Joseph Raziewicz und Eugène Bresson begegnet? Vielleicht hat mein Vater ihrem Vater eine falsche Identität verschafft, wer weiß? Dieses Gör vom anderen Ende Europas, dieses Gör, das ich verabscheue – hier kann ich es ja zugeben, was macht es schon? –, hat einen Vater, der vielleicht mit meinem gemeinsame Sache gemacht hat, vielleicht haben sie sich gegenseitig das Leben gerettet … Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Wenn mein Vater noch lebte, würde ich ihn fragen: »Pierrot, sagt dir der Name was? Ein Pole, den man Pierrot nannte, in den FTP-MOI in Lyon, zweiundvierzig, dreiundvierzig?« Nur ist er eben nicht mehr da; wir Bressons haben ein schwaches Herz – es wäre übrigens nett, wenn du das hin und wieder bedenken würdest … Aber bei ihm wusste man ohnehin nie genau, woran man war. Er weigerte sich, über diesen Krieg zu sprechen. Als Jugendliche war ich neugierig und stellte ihm Fragen. Und immer antwortete er: »Es gibt nichts zu sagen.« Natürlich gab es viel zu sagen. Nur sagte er es eben nicht. Meine dürftigen Informationen stammen von meiner Großmutter, sie erzählte sie mir im Geheimen und unter ständigem Bekreuzigen. Am Ende eines Krieges geboren werden, mit einem Vater, der massakriert wurde, als man noch im Mutterleib war, um dann am Ende der Kindheit in einem – falls sich dergleichen überhaupt steigern lässt – noch schrecklicheren Krieg zu versinken, das hinterlässt Spuren. Ich denke mir, dass auch Eugène, als sein Herz auf einem schlammigen Weg im Parc de la Tête d’Or zu schlagen aufhörte, dachte: »Das zwanzigste Jahrhundert war ein Gemetzel.« Das war Ende Dezember 1979, just als die Sowjetarmee in Afghanistan einmarschierte.

Der Vater der Kleinen starb fast zur selben Zeit wie mein Vater, sechs Wochen später, voriges Jahr im Februar. An Komplikationen bei einer Lungenentzündung, wenn ich richtig verstanden habe. Sie ist gerade erst volljährig, aber Männer können das: spät Kinder bekommen. Denn die Geschichte, diese verrückte Geschichte, ist noch nicht zu Ende, Chéri. Es fehlt noch das Sahnehäubchen. Ich will jetzt nicht von unserer Vergangenheit sprechen, von unserer so wenig glorreichen Großen Vergangenheit. Der verrückteste Teil der Geschichte beginnt mit der Befreiung. Statt hierzubleiben, mit uns aufzubauen, sich selbst neu zu erschaffen, kehrte Joseph trotz all der chaotischen Verhältnisse nach Polen zurück. Er hatte dort ein Mädchen zurückgelassen, das er 1937 nicht hatte mitnehmen können, weil sie zu jung war, sie hätte ihm folgen sollen, wenn Europa nicht in Flammen aufgegangen wäre, er wollte sie heiraten, das hatte er ihr versprochen. Fast acht Jahre waren vergangen, er hatte ewig nichts mehr von ihr gehört. Und dennoch: In der Hoffnung, sie zu finden, kehrte er zurück, sogar mit einem Ring in der Tasche – als mir die Kleine diese Sache »mit einem Ring in der Tasche« erzählte, sah sie aus, als würde sie gleich zu heulen anfangen. Nach einer wahren Odyssee kam Joseph in Danzig an, zu Fuß und mit übervollem Herzen.

Da oben war alles weg. Die Verlobte tot, wahrscheinlich schon 1939 nach Stutthof deportiert. Ihre Familie gehörte zur polnischen Intelligenzija, und da Hitler diesen Teil der Bevölkerung für sehr gefährlich hielt, löschte er ihn umgehend aus. Von dem, was seine Schwiegerfamilie hätte werden sollen, war nichts mehr übrig. Von seiner eigenen Familie auch nicht viel mehr.

Machst du dir das klar, Thomas? Diese Liebe? Diesen Anstand? Sich einem Mädchen auf immer versprechen, ins Ausland gehen, einen Krieg – und was für einen! – mitmachen, x-mal knapp mit dem Leben davonkommen, um schließlich unter Lebensgefahr Wort zu halten? Welcher Mann ist dazu in der Lage? Sag mir, welcher Mann?

Du sicher nicht, du hast es ja nicht einmal fertiggebracht, deine Pürierstäbe um meines Geburtstags willen im Stich zu lassen!

Die Kleine glaubt, ihr Vater sei in Polen geblieben, um sich zu bestrafen. Vermutlich ist es ihre Auslegung der Geschichte, denn Joseph war offensichtlich auch nicht sehr gesprächig, was dieses Thema anging. Sie glaubt, er sei geblieben, um sich dafür zu bestrafen, dass er dieses Mädchen bei Kriegsausbruch nicht geholt hat, dass er sie nicht gerettet hat, dafür, dass er anderswo, fern von ihr, kämpfte und sein Versprechen in den Wogen des Getümmels untergehen ließ. Er hätte nach Frankreich zurückkehren oder, wie so viele andere, in ein anderes Land in Europa oder Amerika emigrieren können, in ein freies Land. Doch nein. Er blieb da, in diesem verwüsteten und nun kommunistischen Polen, er gab jegliches Kämpfen auf und wurde Schreiner; ein Jahrzehnt später begegnete er einer anderen Frau, machte ihr ein Kind, und so kommt es, dass man hier in der Küche einem Topmodel gegenübersitzt.

Über ihrem Bett hat sie ein Foto von Lech Wałesa an die Wand gepinnt. Sicher betet sie davor, wie meine Mutter vor dem gekreuzigten Jesus betete. Man hat die Götter, die man findet, nehme ich an …

Auch in meiner Familie sind die Männer Helden. Immer schon. Unser Familienname steht auf vielen Denkmälern, 14 – 18, 39 – 45, Algerien, Buchstaben, die man der Nachwelt zum Fraß vorwirft.

Niemand im Irak, niemand im Libanon, weil es niemanden mehr gibt. Es gibt keine Männer mehr bei den Bressons, die sind alle liquidiert. Unvermeidliche Gebärmutterentfernung bei meiner Mutter, gleich nach meiner Geburt. In dem Jahr, in dem sie das Haus kauften, bekam sie Gebärmutterhalskrebs – ich glaube fast, das wusstest du noch nicht, sie spricht nie darüber. Vielleicht hätte sie auch nur Mädchen bekommen … Aber trotzdem.

Du bist kein Held, Thomas Bataille. Die Batailles sind ganz allgemein keine Helden, soweit ich weiß.

Trotzdem, ich schinde mich aus Liebe zu dir, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Die Liebe kennt kein Gesetz.

Das habe ich im Radio gehört, in einem alten, banalen Lied. Doch was macht das schon. Es ist traurig, aber wahr.

Jedenfalls ist das der Grund, warum die kleine Polin Frankreich so sehr liebt, Französisch lernt und bei uns, bei mir im Haus ist. Joseph/Pierrot, der Gott, der Krieger, ist der Grund. Ihr Vater war ein tapferer Mann, daran kann kein Zweifel bestehen. Ein Heiliger. Sogar eine Legende, wenn die Geschichte stimmt. Doch er und seine Heldenabenteuer, oder auch seine Liebesabenteuer, sind der Grund dafür, dass dieses Mädchen hier ist mit seinem riesigen rosa Mund, seiner Schneewittchenhaut und seinen Titten, vor allem die, diese Atomsprengköpfe von Titten, auch wenn sie sie unter den weiten Pullis des »ganz einfachen Mädchens« zu verstecken versucht – diese verdammten osteuropäischen Weltraumeroberungs-Titten. Zum Glück ist sie nicht groß, sonst wäre sie schon auf den Hochglanzseiten der Magazine.

Ich hatte noch nie zuvor so lange mit ihr gesprochen; es hat mich ziemlich aufgewühlt. Bislang hatte ich darauf geachtet, sie als Fremde zu behandeln … Von nun an kann ich es nicht mehr.

Wahrscheinlich bilde ich mir das alles nur ein. Du siehst sie nicht auf besondere Weise an, wenn du da bist, schließlich ist sie noch...

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