Darwins Peep Show - Was tierische Fortpflanzungsmethoden über das Leben und die Evolution enthüllen

Darwins Peep Show - Was tierische Fortpflanzungsmethoden über das Leben und die Evolution enthüllen

von: Menno Schilthuizen

dtv, 2014

ISBN: 9783423424745

Sprache: Deutsch

344 Seiten, Download: 3127 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Darwins Peep Show - Was tierische Fortpflanzungsmethoden über das Leben und die Evolution enthüllen



Ein Wort vorab


Es ist gar nicht so lange her, da war das niederländische Nationale Naturgeschichtliche Museum noch in einem hohen, höhlenartigen Gebäude im historischen Stadtkern von Leiden untergebracht.1 Generationen von Studentinnen und Studenten der Biologie haben dort in dem über eine monumentale Treppe erreichbaren zweigeschossigen Hörsaal die obligatorischen Zoologievorlesungen besucht. Während der weniger fesselnden Vortragspartien – etwa wenn es um die Beinstrukturen von Krebstieren oder die Schlosszähne der Muscheln ging – dürften die Blicke der Zuhörer vielfach abgeschweift sein zu den zwei Besonderheiten, die diesen Saal so unvergesslich machten. Zu sehen war da zum einen ein reiches Panorama von Hirschgeweihen und Hörnern von Antilopen und sonstigen Paarhufern, die zu Hunderten an den Wänden hingen, und zum andern vorn über dem Katheder ein bereits aus dem Jahr 1606 datierendes Kolossalgemälde eines gestrandeten Pottwals. Die Szenerie muss sich in das Gedächtnis fast jeder Biologin und jedes Biologen eingegraben haben, die sich ihre akademischen Sporen in Leiden verdienten: Auf einem ansonsten öden Stück holländischen Strands liegt der Leviathan, die schnabelförmigen Kiefer klaffend offen, die Zunge schlaff in den Sand herabhängend. Eine Handvoll gut gekleideter holländischer Bürger des 17. Jahrhunderts – fraglos die zeittypischen Sonntagsausflügler – stehen um das Tier herum. Dem toten Wal am nächsten befinden sich, prominent platziert, ein Herr und die ihn begleitende Dame. Der Herr hat das Gesicht seiner Begleiterin zugewandt und deutet mit anzüglichem Lächeln auf den zwei Meter langen Penis, der unübersehbar aus der Leiche hervorragt. Und selbst der im Lauf von Jahrhunderten gedunkelte Firnis vermag den Ausdruck der Verblüffung in den Augen der Frau nicht zu verdecken.

Diese paar, mit strategischem Bedacht nach dem Goldenen Schnitt positionierten Quadratellen Leinwand sind ein anschauliches Beispiel für zweierlei: erstens die unanfechtbare (auch seit Jahrtausenden durch Abortwandkritzeleien, seit mehr als 100 Jahren durch schlüpfrige Postkarten und seit Jahrzehnten durch im Internet zu besichtigendes Bildmaterial belegte) Tatsache, dass Menschen Genitalien immer faszinierend finden – zuallererst die der eigenen Art, in erweiterter Perspektive aber auch die anderer Spezies. Die erstaunliche Vielfalt der Formen, Formate und Funktionsweisen animalischer Reproduktionsorgane ist ein ewiger Quell der Verwunderung und war die Inspiration zu Bestsellern wie dem Buch ›The Sex Life of Wild Animals‹ (›Das Sexualleben wilder Tiere‹; 1953), der Lehrtafel ›Penises of the Animal Kingdom‹ (›Penisse des Tierreichs‹; in den 1980er-Jahren über 20 000 verkaufte Exemplare)2 und der TV-Serie ›Green Porno‹ des Senders Sundance Channel3 (eine Reihe von Kurzfilmen, in denen eine skurril als dieses oder jenes Tier kostümierte Isabella Rossellini mit ebenso skurrilen Puppen den Kopulationsakt der jeweiligen Art nachspielt; die erste Staffel der Reihe war im März 2011 auch bei ARTE zu sehen).

An zweiter Stelle erinnert uns dieser Pottwalpenis aus dem 17. Jahrhundert nachdrücklich an die kuriose Beobachtung, dass mit der allgemeinen Faszination durch Genitalien zumindest noch bis vor kurzer Zeit keine gleichermaßen intensive wissenschaftliche Neugier gepaart war. In den hohen Räumen, die sich in dem Flur vor der Hörsaaltür aneinanderreihten, war eine Menge Fachleute damit beschäftigt, in stiller Arbeit die biologische Vielfalt der Welt zu katalogisieren. Wie es sich für akribische Systematiker gehörte, zeichneten, vermaßen, fotografierten und beschrieben sie die genauen Einzelheiten und Unterscheidungsmerkmale der Fortpflanzungsorgane jedes neuen Insekts, Spinnentiers und Tausendfüßers, dessen ihr Entdeckungseifer habhaft geworden war – fragten sich jedoch nie, wieso diese intimen Körperteile sich gerade zu dieser oder jener Form entwickelt haben mochten.

Die Schuld daran müssen wir im Grunde Darwin zuschreiben. In seinem zweitwichtigsten Werk ›The Descent of Man and Selection in Relation to Sex‹ (1871; dt. ›Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl‹) erläutert Darwin, dass die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale – buntes Federkleid bei Vögeln, Hörner am Kopf von Käfern, das Geweih der Hirsche usw. – nicht durch die natürliche Selektion (Anpassung an Umweltbedingungen), sondern durch die sexuelle Selektion beeinflusst wird, welch Letztere kraft der Präferenzen wirkt, die Angehörige des einen Geschlechts für auffällige Besonderheiten und Vorzüge der Angehörigen des anderen an den Tag legen. Die primären Geschlechtsmerkmale, das heißt die Geschlechtsorgane, die direkt der Fortpflanzung dienen, lässt er freilich bei seiner Theorie außen vor; vielmehr erklärt er kategorisch, dass die sexuelle Selektion nichts zu tun habe mit den Genitalien – denn diese seien ja reine Funktionselemente und eben keine Ornamente.4 Und so kam es, dass die Vielfalt all der Geweihe und Hörner an den Wänden jenes Hörsaals traditionell eine wohlbeackerte Parzelle auf dem Forschungsfeld der nach Darwin aufgekommenen Evolutionsbiologie war, nicht so hingegen die Evolution der in dem ganzen Fortpflanzungsgeschäft unmittelbar mitwirkenden »Funktionselemente«, von denen das Kernstück des Gemäldes von 1606 lediglich ein einzelnes, markantes Musterexemplar zeigt.

Erst 1979 änderte sich das. In jenem Jahr veröffentlichte Jonathan Waage, Entomologe an der Brown University in Providence, Rhode Island, in der Fachzeitschrift ›Science‹ einen kurzen Artikel über den Prachtlibellenpenis. Der, so führte der Verfasser aus, ist mit einem Miniaturlöffel ausgerüstet, der im Zuge des Paarungsakts aus der Samentasche des Weibchens alles an Sperma herausbaggert, was etwaige Vorgänger des Männchens dort hinterlassen haben. Dieser Libellenpenis funktioniert nicht nur als Spermabagger, sondern darüber hinaus als ein wahrer Augenöffner. Erstmals war hier bewiesen, dass Tiergenitalien nicht einfach nur Samen ablagernde und Samen aufnehmende Organe sind, sondern Schauplätze einer Art sexueller Selektion. Denn im Lauf der Prachtlibellenevolution hatten Männchen mit dem leistungsfähigsten Penis mehr Nachkommen als die anderen.5

Die Zeit war offenbar reif für diese Erkenntnis, und als ich Jonathan Waage nach jenen frühen Tagen befragte, erinnerte er sich, dass er in den Jahren, die seiner Entdeckung des Spermienbaggers vorausgingen, von der stillen Revolution beeinflusst gewesen war, die in den biologischen Fakultäten in aller Welt damals vor sich ging: einem radikalen Umdenken in der Folge von George C. Williams’ Buch ›Adaptation and Natural Selection‹ (›Anpassung und natürliche Selektion‹) und Richard Dawkins’ Popularisierung von Williams’ Ideen in ›Das egoistische Gen‹. Man habe sich allmählich von der falschen Vorstellung verabschiedet, die Evolution wirke »zum Besten der Art« (eine überholte Idee, von der ein Nachhall noch heute in Naturfilmen zu vernehmen ist). Und man habe begonnen, die Evolution unter dem richtigen Gesichtspunkt zu sehen: als Auswirkung einer Art von reproduktivem Egoismus, bei dem sich alles darum drehe, dass das Individuum seine Gene in größtmöglicher Zahl in die nächste Generation übertrage. Der Evolution sei die Art »egal«. Und wenn so etwas wie ein Spermienbagger die Chancen von Konkurrenten ruiniere, dann werde die Evolution eben so etwas begünstigen. Waage war einer der ersten Wissenschaftler, die solche Fragen nach der Wirkungsweise der Evolution stellten. Und da es bei der Evolution an erster, zweiter und dritter Stelle um Fortpflanzung geht, ist es kein Wunder, dass Waage und andere moderne Biologen sich früher oder später der minutiösen Untersuchung von Genitalien widmen mussten.

In jener revolutionär gestimmten Epoche begannen auch andere junge Biologen Fragen dieser Art aufzuwerfen. Einer von ihnen war ein Student, der zwecks Aufbesserung seiner Finanzen als Hilfskraft im Museum für Vergleichende Zoologie der Harvard University arbeitete. Sein Job bestand darin, in die Gefäße mit Nasspräparaten Alkohol nachzufüllen und in eine Menge unsortierter Spinnenpräparate Ordnung zu bringen. Beim Durcharbeiten einiger Spinnenbestimmungsbücher begann der Student sich zu fragen, warum Spinnenarten so oft anhand der Form ihrer Genitalien unterschieden werden. Er fragte im Museum nach und erntete nur Achselzucken: So mache man das halt. Die Genitalien unterschiedlicher Tierarten der gleichen Familie, ob Spinnen, Schaumzikaden oder Ölkäfer, seien untereinander oft völlig verschieden, selbst wenn die Arten eng verwandt und ihrem Äußeren nach ununterscheidbar seien. Wahrscheinlich beeinflussten die genetischen Unterschiede zufälligerweise auch die Form der Genitalien. Sehr praktisch, wenn man Spinnen klassifizieren wolle, aber ansonsten für den Biologen ein wahrscheinlich ganz bedeutungsloser Sachverhalt. Der Student war zwar nicht zufrieden mit dieser Auskunft, sah sich aber außerstande dagegenzuhalten, also legte er seine Frage vorübergehend auf Eis, schloss sein Studium mit der Promotion ab und wurde in der Folgezeit zu einem produktiven und erfolgreichen Tropenbiologen am Tropenforschungsinstitut der Smithsonian Institution in Panama.

Sein Name ist William G. Eberhard. Als viele Jahre später die ›Science‹-Ausgabe mit Waages Artikel über den Libellenpenis auf seinem Schreibtisch landete, rief ihm der Text jene alte Rätselfrage aus seiner Studentenzeit ins Gedächtnis zurück, die er selbst längst vergessen hatte. Unterschieden sich die Geschlechtsorgane vielleicht deswegen so sehr, weil jedes eine eigene Art von Spermabagger war? Zufällig stand...

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