Im Schatten der Mohnblüte - Roman

Im Schatten der Mohnblüte - Roman

von: Jurij Wynnytschuk

Haymon, 2014

ISBN: 9783709935842

Sprache: Deutsch

456 Seiten, Download: 5079 KB

 
Format:  EPUB

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Im Schatten der Mohnblüte - Roman



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Als junge Menschen sind wir alle blank. Selbst die größten Genies, deren Laufbahn schon vorherbestimmt ist, bewegen sich nicht allzu geschickt durch die Welt. Daher braucht man sich nicht zu wundern, wenn wir nach der Heirat auf Prüfungen stoßen, die wir selten glücklich bestehen und die meistens in einer Scheidung enden. In genau solch eine Falle tappte auch der junge Mirko Jarosch, als er nach dem Studienabschluss die warmherzige und süße Romka heiratete. Er rezitierte für sie Gedichte seiner liebsten Dichter, und sie tat so, als hörte sie zu, blinzelte gar, blies die Bäckchen auf und bekam dabei ein so vergeistigtes Gesicht, dass er sich immer mehr, immer heftiger in sie verliebte und dachte, gerade sie sei für ihn wie gemacht. Sie lauschte gerührt der Flut der Worte, mit der er sie übergoss. Er ergötzte sich an den Worten, sie wickelten ihn ein wie Schlingpflanzen, schnürten ihm die Kehle zu. Wenn sie sich während einer solchen Rezitation an ihn schmiegte und ihr heißer Atem sein Ohr kitzelte, dachte er, diese Idylle würde ewig währen und sie beide wären füreinander bestimmt. Das Gefühl siegte über den gesunden Menschenverstand, nach der Hochzeit zogen sie bei Romkas Eltern ein, was der Anfang vom Ende war.

Zwei Jahre Schuldienst und dazu ein externes Doktoratsstudium verhießen nichts Erfreuliches, weil das Geld ziemlich knapp war und Romkas Eltern sich das Vergnügen nicht nehmen ließen, sie immer wieder daran zu erinnern, dass sie ihnen auf der Tasche lagen. Wenn abends ihr kleiner Sohn eingeschlafen war, breitete Jarosch seine Bücher am Küchentisch aus und schrieb an seiner Dissertation über die Literaturen des alten Ägypten, Babylons, des Zweistromlands, Sumers, Arkaniens*1 und des Hethitischen Reiches. Je tiefer er in die Materie eintauchte und je mehr Quellen er studierte, desto hoffnungsloser erschien ihm diese Arbeit, denn die Quellen verwiesen auf andere Quellen und diese wieder auf andere und so endlos fort. Er irrte herum in einem Labyrinth aus Verweisen und zog Schlussfolgerungen oft wie blind tastend. Alle, die sich mit diesem Thema beschäftigten, wussten, dass sie es nie mit vollständigen Materialien aus der damaligen Literatur zu tun hatten, sondern mit Fragmenten, die wie durch ein Wunder erhalten geblieben und wie durch ein Wunder entziffert und lesbar waren – jedoch nicht alle Fragmente, die arkanische Sprache hatte noch keiner entschlüsselt und über ihre Literatur wusste man lediglich aus hethitischen und hurritischen Quellen. Ebendieses Problem faszinierte Jarosch plötzlich so sehr, dass er alles andere beiseiteschob und sich an die Entschlüsselung der arkanischen Texte machte, was vor ihm nicht wenige Gelehrte vergeblich versucht hatten – die arkanische Keilschrift ähnelte keiner anderen.

Da er für seine wissenschaftliche Arbeit nur wenig Zeit zur Verfügung hatte, begann er, ernstlich am Sinn seines Familienlebens zu zweifeln. Die Routine des Schulunterrichts stumpfte ihn ab, er litt und fragte sich, wie es dazu kommen konnte, dass er Lehrer geworden war, obwohl er diesen Beruf bereits in seiner Schulzeit gehasst hatte. Er kam erschöpft nach Hause und das Einzige, was ihn zur wissenschaftlichen Arbeit stimulierte, war Wein. Das erste Glas löste die Anspannung des Tages, das zweite sprengte die Ketten, die seinen Geist fesselten, befreite die Gedanken, und dann raste seine Feder wie entfesselt über das Papier. Das hielt ungefähr zwei Stunden an, dann warf ihn die Müdigkeit um und er legte sich schlafen, den Kopf schwer von Hieroglyphen, Tontafeln und Papyrus. Dazu kam die völlige Geringschätzung seiner wissenschaftlichen Arbeit durch seine Frau und ihre Eltern. Sie hielten das, mit dem er sich beschäftigte, für Quatsch, Zeitverschwendung, und waren der Ansicht, dass er seine Dissertation ohnehin nie vollenden würde und sich deshalb mit dem bescheidenen Dasein eines Lehrers abfinden müsse. Es war ein festes Ritual geworden, ihn von der Arbeit abzuhalten und anderweitig zu beschäftigen: einkaufen, Müll hinausbringen, Wasser vom mobilen Wassertank holen, wenn die Wasserversorgung wieder zusammenbrach. Sie weckten ihn im Morgengrauen, damit er sich in die Schlange für Milch, Wurst, Käse und Mehl stellte – ganz egal, was es war, er musste immer rennen, als in den 1980er Jahren so gut wie alles zur Mangelware wurde und die Menschen sich in Jäger und Sammler verwandelten, durch die Stadt streiften und sich in mehreren Schlangen gleichzeitig Plätze frei hielten, um in jeder von ihnen ein Kilo Zucker oder eine Packung Waschmittel zu erstehen, mehr kriegte man nicht. Er musste auch die Buchläden abklappern, in die einmal pro Woche neue Bücher geliefert wurden. Die entsprechende Information erhielt nur ein enger Kreis von Eingeweihten, die nach der Lieferung der Ware, eine Stunde, bevor der Buchladen öffnete, bereits Schlange standen, um dann loszustürmen und einen Kafka, Camus, Márquez oder einen Borges zu ergattern.

Für dieses hehre Ziel fing Jarosch sogar eine platonische Beziehung mit einer Buchhändlerin an. Zu mehr konnte er sich nicht aufraffen, denn sie zählte zu jenen überreifen Frauen, die nach vielen Jahren allein verlebten Alltags unerträglich launenhaft und öde geworden waren. Wenn Jarosch sie zum Kaffee einlud, musste er sich ihre Lebensweisheiten anhören, einen ganzen Haufen schlaumeierhafter Regeln, die sie um sich herum aufstellte wie Signalflaggen. Im Grunde war auch ihre komplette Garderobe eine solche Signalflagge, die sämtliche Rundungen ihres Körpers wie bei einer Nonne verhüllte, denn sie wartete auf eine »ernsthafte Beziehung«, an einem Flirt hatte sie »kein Interesse«, doch Pan* Mirko sei »ein sehr angenehmer Mensch«, ihm könne man vertrauen. »Mir kommt es manchmal vor, als würden wir uns schon ewig kennen«, sagte sie und lächelte ein viel versprechendes, verheißungsvolles Lächeln – noch so ein Fähnchen, es flatterte am Horizont –, doch nicht ohne den vielsagenden Hinweis: »Keinem, keinem, keinem, nur dem Einen.« Jarosch betrachtete ihre blass-fahlen Hände, die von feinen rötlichen Härchen bedeckt waren, und stellte sich ihre Beine vor, vielleicht ebenso behaart, was in ihm gar den Wunsch weckte, diesen noch unberührten Kontinent mit all seinen verborgenen Winkeln zu erforschen. Vor seinem Forschergeist jedoch rettete ihn der totale Zeitmangel, und bereits das Kaffeetrinken reichte völlig aus, um die freundschaftliche Beziehung aufrechtzuerhalten und die benötigten Informationen über die Lieferung neuer Bücher zu bekommen.

Einmal ging er lange nach Mitternacht schlafen und ließ seine Papiere auf dem Küchentisch liegen. Am Morgen fand er darauf eine fettverklebte heiße Pfanne stehen, aus der sein Schwiegervater gerade großzügig mit Lauch garnierte Rühreier schaufelte und sich dann hinter der Zeitung vor der Welt versteckte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Ü;berlaufen brachte. Mit frechem Mut, den er sich früher nie erlaubt hatte, jedoch nicht ohne das übliche »’tschuldigung«, holte er seine Papiere unter der Pfanne hervor, schüttelte sie vor den Augen des vor Ü;berraschung starren Schwiegervaters über dem Tisch aus und ging. Sein Dilemma war ihm nun endgültig klar: Er musste etwas opfern. Entweder sein Familienleben oder die Wissenschaft. Er wählte Ersteres. Am nächsten Morgen ging er – um keinen Verdacht zu wecken – wie üblich zur Arbeit, wobei zu seinen üblichen Verpflichtungen auch gehörte, seinen Sohn in den Kindergarten zu bringen. Der Abschied von dem Kleinen fiel ihm besonders schwer, er wusste, dass er viele schöne Momente verlieren würde. Was er vorhatte, würde seine eingefahrene Lebensweise endgültig und von Grund auf ändern, doch er sah keinen anderen Ausweg. Er wartete ab, bis alle die Wohnung verlassen hatten, dann kehrte er ohne Hast zurück, packte seine Siebensachen, nahm seine Bücher und Aufzeichnungen und schrieb einen Brief, in dem er mitteilte, dass er die Familie unumstößlich und für immer verlasse. Alimente werde er zu Beginn eines jeden Monats zahlen. Danach rief er in der Schule an und teilte der Direktorin mit, dass er die Arbeit wegen unvorhergesehener Umstände aufgeben müsse.

»Aber Sie können doch nicht so einfach mitten im Schuljahr gehen!«, regte sich die Direktorin zu Recht auf.

»Ich habe einen ernsten Grund.«

»Darf man auch erfahren, welchen?«

»Ich bin krank.«

»Krank?«, fragte die Direktorin besorgt. »Was haben Sie denn?«

»Die Diagnose ist leider sehr unerfreulich«, wiederholte er eine Floskel, die er in einem Film gehört hatte, und seufzte.

»Ach, nun … ja, solange Sie eine Therapie machen, halten wir Ihre Stelle …«

»Nein, nein, eine Therapie ist überflüssig … unheilbar, verstehen Sie? Sinnlos.«

»Und wohin gehen Sie? Haben Sie eine andere Arbeit?«

»Nein. Ich will die mir noch vergönnten Tage genießen. Verstehen Sie?«

»Natürlich. Sie haben schon Recht. Sinnlos, sich abzurackern … aber Ihre amtliche Zuweisung für die Schule kann aufrecht bleiben … damit Ihre Praktikumszeit lückenlos ist. Ach, was denn für ein Praktikum noch! Aber so oder so, damit Sie keinen Ärger kriegen. Weil wenn die Miliz Sie aufhält und nach Ihrem Arbeitsplatz fragt … Arbeitsverweigerung und Parasitentum hängt man Ihnen dann an. Nein, so ist es sicherer …«

»Ja, natürlich. Danke für das Entgegenkommen.«

»Aber das ist doch selbstverständlich. Und denken Sie daran, unser Kollektiv war stets stolz auf Sie. Und auch die Schüler mögen Sie. Sie werden ihnen fehlen!«

Als das erledigt war, rief er ein Taxi und fuhr ans andere Ende von Lemberg, nach Majoriwka. Tags zuvor hatte er eine Unterkunft bei einem Rentnerehepaar zu einem bezahlbaren Preis besorgt....

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