Um Leben und Tod - Thriller

Um Leben und Tod - Thriller

von: Michael Robotham

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641154134

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 1999 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Um Leben und Tod - Thriller



2

Die Sirenen heulen. Moss versucht, in seinen Traum zurückzukehren, doch schwere Stiefel poltern über die Metalltreppen, Fäuste packen die Eisengeländer, Staub zittert auf den Stufen. Es ist zu früh. Normalerweise ist der morgendliche Zählappell erst um acht. Und weshalb die Sirenen? Die Zellentür schwingt mit einem metallischen Scheppern auf.

Moss öffnet stöhnend die Augen. Er hat von seiner Frau Crystal geträumt, und seine Boxershorts beulen sich mit einer Morgenlatte. Ich hab es immer noch drauf, denkt er und weiß auch, was Crystal sagen würde: »Willst du damit was anfangen oder sie dir bloß den ganzen Tag angucken?«

Gefangene werden aus ihren Zellen beordert, kratzen sich am Bauchnabel, greifen sich in den Schritt, wischen sich den Schlaf aus den Augen. Einige treten bereitwillig heraus, andere müssen mit einem geschwungenen Knüppel ermuntert werden. Die Zellen umschließen auf drei Etagen einen rechteckigen Hof, über den Sicherheitsnetze gespannt sind, damit niemand von den Laufgängen geworfen wird oder versucht, sich umzubringen. An der Decke verläuft ein Gewirr von Rohren, die gurgeln und klopfen, als würde in ihnen ein finsteres Wesen hausen.

Moss rappelt sich auf und trottet aus der Zelle. Er steht mit dem Gesicht zur Wand auf dem Gang, grunzt und furzt. Er ist ein großer Mann, in der Mitte ein bisschen schwabbelig, aber mit festen Schultern dank der Liegestütze und Klimmzüge, die er ein Dutzend Mal am Tag macht. Er hat milchschokoladenfarbene Haut und Augen, die für sein Gesicht zu groß wirken und ihn jünger aussehen lassen als achtundvierzig.

Moss blickt nach links. Junebug lehnt mit dem Kopf an der Wand und versucht, im Stehen weiterzuschlafen. Seine Tattoos winden und schlängeln sich um seine Unterarme und auf seiner Brust. Er war früher Meth-abhängig, hat ein schmales Gesicht und einen Schnurrbart mit gezwirbelten Spitzen, die sich halb über seine Wangen strecken.

»Was ist los?«

Junebug öffnet die Augen. »Klingt wie ein Fluchtversuch.«

Moss blickt in die andere Richtung. Auf dem Gang sieht er Dutzende von Gefangenen vor ihren Zellen stehen. Mittlerweile sind alle draußen. Nicht alle. Moss beugt sich nach rechts und versucht, in die Nachbarzelle zu spähen. Die Wärter kommen.

»Hey, Audie, steh auf, Mann«, murmelt er.

Stille.

Auf der oberen Ebene werden Stimmen laut. Es gibt ein Gedränge, bis die Ninja Turtles die Treppe hochstürmen und Schläge verteilen. Moss tritt einen Schritt näher an Audies Zelle. »Wach auf, Mann.«

Nichts.

Er wendet sich an Junebug. Sie sehen sich an, zucken die Achseln.

Moss macht zwei Schritte nach rechts, obwohl er weiß, dass die Wärter ihn beobachten könnten, dreht den Kopf und blickt in die dunkle Zelle. Er kann das in die Wand gedübelte Regal erkennen. Das Waschbecken, die Toilette. Aber weder einen warmen noch einen kalten Körper.

Ein Stockwerk höher ruft ein Wärter: »Alle vollzählig angetreten.«

Von unten ertönt eine zweite Stimme. »Alle vollzählig angetreten.«

Die Helme und Knüppel kommen. Die Insassen drücken ihre Körper an die Wand.

»Hier oben!«, ruft ein Wärter.

Stiefel folgen.

Zwei der Uniformierten durchsuchen Audies Zelle, als könnte er sich irgendwo versteckt haben – unter einem Kissen oder hinter dem Deostift. Moss wendet den Kopf und sieht den stellvertretenden Gefängnisdirektor Grayson keuchend und schwitzend die oberste Stufe erklimmen. Er ist fett wie ein Schwein, seine Wampe hängt über seinen glänzenden Ledergürtel, und Speckrollen versuchen seinen Kragen zu glätten.

Grayson erreicht Audies Zelle. Er blickt hinein, atmet durch und macht ein schmatzendes Geräusch. Er hakt seinen Schlagstock vom Gürtel, schlägt damit in seine offene Hand und wendet sich Moss zu.

»Wo ist Palmer?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

Der Stock trifft Moss in den Kniekehlen, sodass er zu Boden sinkt wie ein gefällter Baum. Grayson steht über ihm.

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Moss zögert, versucht sich zu erinnern. Das Ende des Stocks wird direkt unterhalb der Rippen in seine rechte Seite gestoßen. Die Welt vor seinen Augen schwillt kurz an und wieder ab.

»Beim Essen«, stöhnt er.

»Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß nicht.«

Ein Schimmer scheint von Graysons Gesicht aufzusteigen. »Alles verriegeln. Ich will, dass er gefunden wird.«

»Was ist mit dem Frühstück?«, fragt einer der Beamten.

»Das kann warten.«

Moss wird in seine Zelle geschleift. Die Türen werden geschlossen. Die nächsten zwei Stunden liegt er auf seiner Pritsche und lauscht dem Beben und Ächzen des Gebäudes. Jetzt sind sie in der Werkstatt. Vorher waren sie in der Wäscherei.

Er hört, wie Junebug in der Nachbarzelle an die Wand klopft.

»Hey, Moss!«

»Was?«

»Glaubst du, er ist rausgekommen?«

Moss antwortet nicht.

»Warum sollte er in seiner letzten Nacht so was Bescheuertes machen?«

Moss schweigt weiter.

»Ich hab immer gesagt, der Kerl ist verrückt.«

Die Wärter kommen zurück. Junebug legt sich wieder auf seine Pritsche. Moss lauscht und spürt, wie sein Schließmuskel arbeitet. Vor seiner Zelle bleiben die Stiefel stehen.

»Aufstehen! An die Rückwand! Beine gespreizt!«

Drei Mann betreten die Zelle. Moss’ Hände werden mit Handschellen gefesselt und mit einer Kette um seine Taille gesichert, eine zweite Kette wird um seine Füße gelegt, sodass er nur schlurfen kann. Ihm bleibt keine Zeit, seine offene Hose zuzuknöpfen, sodass er sie mit einer Hand festhalten muss. Die Gefangenen in ihren Zellen johlen und brüllen ihm alles Mögliche zu. Moss geht durch die Sonnenstrahlen und sieht mehrere Polizeiwagen vor dem Haupttor stehen. In ihren glänzenden Karossen spiegelt sich glitzernd das Licht.

Im Verwaltungstrakt befiehlt man ihm, in einem Zimmer Platz zu nehmen. Die Wärter links und rechts von ihm sagen nichts. Er wendet den Kopf und betrachtet ihr Profil, hohe Schirmmütze, Sonnenbrille, braunes Hemd mit dunkelbraunen Schulterstücken. Aus einem Besprechungszimmer dringen Stimmen. Hin und wieder erhebt sich eine über die anderen. Schuld wird zugewiesen.

Essen kommt. Moss spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht und ihm das Wasser im Mund zusammenläuft. Eine weitere Stunde verstreicht. Leute gehen. Schließlich ist Moss an der Reihe. Mit kleinen Trippelschritten und gesenktem Blick schlurft er in das Zimmer. Direktor Sparkes trägt einen dunklen Anzug, der vom Sitzen schon zerknittert aussieht. Er ist ein großer Mann mit silberner Mähne und einer langen schmalen Nase, und er geht, als würde er ein Buch auf dem Kopf balancieren. Er macht den Beamten ein Zeichen zurückzutreten, und sie beziehen Posten links und rechts der Tür.

An einer Wand steht ein Tisch voll mit einem halb gegessenen Büfett, frittierte Krebse, Spareribs, Brathähnchen, Kartoffelbrei und Salat. Die Maiskolben haben schwarze Grillabdrücke und sind mit glänzender Butter überzogen. Der Direktor nimmt ein Rippchen, lutscht das Fleisch vom Knochen und wischt sich die Hände mit einem Erfrischungstuch ab.

»Wie heißen Sie, mein Sohn?«

»Moss Jeremiah Webster.«

»Was für ein Name ist das denn? Moss?«

»Na ja, auf der Geburtsurkunde wusste meine Mama wohl nicht, wie man Moses schreibt, Sir.«

Einer der Wärter lacht. Der Direktor kneift sich in die Nasenwurzel.

»Haben Sie Hunger, Mr Webster? Nehmen Sie sich einen Teller.«

Moss blickt mit knurrendem Magen auf das Festmahl. »Werden Sie mich hinrichten, Sir?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»So ein Essen könnte gut eine Henkersmahlzeit sein.«

Der Direktor lacht. »Niemand wird Sie hinrichten … nicht an einem Freitag.«

Das findet Moss nicht komisch. Er hat sich nicht gerührt.

»Nehmen Sie sich einen Teller. Packen Sie ihn ordentlich voll.«

Es ist womöglich vergiftet. Der Direktor isst es auch. Vielleicht weiß er, welche Stücke er nehmen muss. Verdammt! Das ist mir egal!

Moss schlurft ans Büfett und belädt einen Plastikteller mit Spareribs, Krebsscheren und Kartoffelbrei und packt noch einen Maiskolben obendrauf. Er isst über den Teller gebeugt mit beiden Händen, Flüssigkeit verschmiert seine Wangen und tropft von seinem Kinn. Auch Direktor Sparkes nimmt noch ein Rippchen und setzt sich ihm mit vage angewiderter Miene gegenüber.

»Erpressung, Betrug, Drogenhandel – man hat sie mit Marihuana im Wert von zwei Millionen Dollar erwischt.«

»Es war bloß Gras.«

»Dann haben Sie im Gefängnis einen Mann erschlagen. Hatte er es verdient?«

»Das hab ich damals gedacht.«

»Und heute?«

»Würde ich vieles anders machen.«

»Wie lange sind Sie schon drin?«

»Fünfzehn Jahre.«

Moss hat zu schnell gegessen. Ein Stück Fleisch sitzt ihm quer im Hals. Als er sich auf die Brust schlägt, klappern seine Handschellen. Der Direktor bietet ihm etwas zu trinken an. Aus Angst, man könnte sie ihm wieder abnehmen, trinkt Moss die ganze Dose leer, wischt sich den Mund ab, rülpst und isst weiter.

Direktor Sparkes hat den Knochen abgelutscht. Er beugt sich vor und pflanzt ihn in Moss’ Kartoffelbrei, wo er aufrecht stehen bleibt, wie ein Flaggenmast.

»Fangen wir ganz vorne an. Sie sind mit Audie Palmer befreundet, ist das...

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