Eine Nummer zu groß - Roman

Eine Nummer zu groß - Roman

von: Johanna Madl

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641145125

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 584 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Eine Nummer zu groß - Roman



Zu kurz gekommen

Das Schicksal hatte manchmal einen merkwürdigen Sinn für Ironie. Als Schülerin fürchtete Ellen nichts mehr als ihren Mathelehrer, Herrn Meininger. Er war auch eine einschüchternde Persönlichkeit, groß und dunkel auf eine südländische Art und leider vollkommen humorlos. In jeder Stunde rief er einen Schüler auf, an die Tafel zu kommen und eine Aufgabe zu lösen. Die Augen der ganzen Klasse waren auf einen gerichtet, die von Herrn Meininger sowieso, und unter diesen erbarmungslosen Blicken sollte man dann sein mathematisches Können unter Beweis stellen – das bei Ellen relativ unterentwickelt war. Sogar heute, rund zehn Jahre später, träumte Ellen noch gelegentlich davon.

»Wenn fünf Arbeiter am Mittwoch, dem 3. März beginnen, einen Graben auszuheben, der dreihundert Meter lang sein soll, und bis Freitag acht Meter schaffen, wann werden sie dann fertig sein?«

Ellen hasste solche Aufgaben. Wozu brauchte man so etwas überhaupt? Schließlich hatte sie weder vor, Bauarbeiter zu werden noch einen Graben ausheben zu lassen. Wenn die Arbeiter fertig waren, waren sie eben fertig. Punkt. Sie stand an der Tafel, die Hände schweißnass, ihre Kleidung voller Kreidestaub. Verlegen stotterte sie herum. Irgendjemand kicherte. Herr Meininger seufzte schwer und fragte ein wenig genervt, ob jemand ihr nicht vielleicht helfen wolle.

Natürlich meldete sich niemand freiwillig.

Herr Meininger blickte sich kurz um und rief dann einen Jungen auf, der neu in der Klasse war. Er hieß Florian, wurde aber nur Flo genannt und hatte superkurzes, blondes Haar. Ellen schaute ihn gespannt an. Flo warf dem Lehrer einen gelangweilten Blick zu und meinte dann, dass die Aufgabe unlösbar wäre, da niemand wissen könne, wie viel die Arbeiter am Wochenende trinken würden, ob es in der Zeit regnen würde und wie es generell um die Arbeitsmoral der Leute bestellt wäre.

Die Klasse lachte. Herr Meiningers Gesicht verdüsterte sich.

»Du hältst dich wohl für sehr komisch?«

Flo grinste nur. Den Rest der Stunde verbrachte er auf dem Flur. Als er an Ellen vorbeiging, zwinkerte er ihr verstohlen zu. An dem Tag verknallte sie sich in ihn.

Ellen schüttelte den Kopf. Flo, die Adalbert-Stifter-Realschule und ihr Matheunterricht – das alles lag lange zurück, und sie hatte seit Jahren kaum an Herrn Meininger gedacht. Doch nun saß er vor ihr und zitterte vor Angst. Er war immer noch groß und dunkel, auch wenn sein Haar inzwischen leicht ergraut war, und wahrscheinlich machte er seinen Schülern immer noch das Leben zur Hölle.

»Herr Meininger, bitte«, sagte sie freundlich und verließ das Wartezimmer.

Der Mann folgte ihr zögernd durch den Empfangsbereich in das Sprechzimmer, wo er sich in den Behandlungsstuhl setzte und von Ellen ein Papierlätzchen umbinden ließ wie ein Säugling, der gefüttert werden sollte. Sie lächelte. Er erkannte sie nicht, aber das wunderte Ellen nicht, denn er hatte starke Zahnschmerzen und würde im Moment vermutlich nicht einmal seine eigene Mutter erkennen.

In diesem Augenblick ertönte aus dem Nebenraum ein lauter Schrei. Herr Meininger zuckte zusammen, und für eine Sekunde glaubte Ellen, er würde aufspringen und die Flucht ergreifen. Die Tür zum benachbarten Sprechzimmer öffnete sich, und eine junge Frau in einem schicken Kostüm kam heraus. Sie sah ziemlich ungehalten aus und zerrte ein vielleicht fünfjähriges Mädchen hinter sich her.

»Maria-Luisa, du kannst den netten Onkel Doktor doch nicht beißen!«, schimpfte sie, während sie einen Blick über die Schulter warf.

Der nette Onkel Doktor tauchte in der Tür auf. Rainer von Klattenbach war, in diesem Punkt waren sich seine Praxishelferinnen und seine weiblichen Patienten einig, der bestaussehende Zahnarzt Münchens. Allerdings nuckelte er gerade an seinem Daumen, was ihn in Ellens Augen ein wenig lächerlich erscheinen ließ. Nur Maria-Luisa konnte seinem Charme nicht viel abgewinnen, denn als sie sich zu ihm umdrehte, kniff sie die Augen zusammen und streckte ihm die Zunge raus. Ellen kicherte.

Rainer nahm den Daumen aus dem Mund und streckte dem Kind ebenfalls die Zunge raus, bevor er zu Ellen herüberkam und Herrn Meininger begrüßte.

Das helle, durchdringende Sirren eines zahnmedizinischen Bohrers gehört zu jenen Geräuschen, bei denen sich ängstliche Jungen in echte Kerle und gestandene Männer in weinerliche Kinder verwandelten. Herr Meininger gehörte definitiv zur letzteren Sorte, und Ellen fragte sich, warum sie sich jemals vor ihm gefürchtet hatte. Schon das Verabreichen der Betäubungsspritze wurde von einem leisen Wimmern begleitet, und als Rainer wenige Minuten später begann, den Zahnschmelz aufzubohren, brach Herrn Meininger der Angstschweiß aus, und er begann unkontrolliert zu zittern. Das ging so weit, dass Rainer innehalten und seinen Patienten beruhigen musste.

Beim Anblick dieses Häufchen Elends hätte Ellen eigentlich Genugtuung empfinden müssen, aber der Mann tat ihr leid. Sie zog ihren iPod aus der Kitteltasche, den sie für genau solche Fälle bei sich trug, und bot ihn Herrn Meininger an. Er zögerte, doch dann nickte er, und Ellen steckte ihm behutsam die winzigen Kopfhörer in die Ohren. Wie überall in der Praxis war auch im Behandlungszimmer leise, klassische Musik zu hören, die beruhigend auf die Patienten wirken sollte, in dem Lärm des Bohrers aber leider völlig unterging. Ellen wählte einen fröhlichen Popsong aus und drehte die Lautstärke hoch. »Be OK« von Ingrid Michaelson flutete die Gehörgänge von Herrn Meininger, der die Augen schloss und sich seinem Schicksal ergab. Ellen tätschelte ihm die Hand, dann nickte sie Rainer zu, der seinen Bohrer startete.

Gut zehn Minuten später war alles überstanden, und ein sichtlich erschöpfter Herr Meininger verabschiedete sich von ihnen.

»Mathematik war ja nicht gerade Ihre Stärke«, nuschelte er, während er Ellen die Hand schüttelte, »aber das hier machen Sie prima.«

Hatte er sie also doch erkannt. Ellen errötete leicht und wünschte ihm noch einen schönen Tag. Herr Meininger war der letzte Patient, nicht nur für heute, sondern auch für diese Woche. Stille kehrte in die Praxis ein, die sich, nur einen Steinwurf vom Marienplatz entfernt, im ersten Stock eines herrschaftlichen Gründerzeitbaus befand. Mit ihren Grünpflanzen, den Parkettböden und bequemen Ledersesseln wirkte sie eher wie eine sparsam, aber luxuriös möblierte Wohnung denn wie eine Zahnarztpraxis. Rainer legte großen Wert darauf, seine Patienten, die natürlich allesamt privat versichert waren, in einem angenehmen, stressfreien Ambiente zu behandeln, weshalb die Wände in beruhigenden Blau- und Grüntönen gestrichen waren und aus den Lautsprechern Musik von Vivaldi oder Mozart plätscherte. Seit Rainer gelesen hatte, dass Jasminaroma angstlösend wirkte, verbreitete ein ausgeklügeltes Raumduftsystem Wohlgerüche. Natürlich befanden sich alle Geräte auf dem neuesten Stand der Technik, wie auch Rainer selbst mit den modernsten Behandlungsmethoden vertraut war. Zu ihren Patienten gehörten bekannte Schauspieler, Sportler und Politiker. Einmal im Jahr schaute der Ministerpräsident vorbei, um seine Zähne kontrollieren zu lassen – in seinem Beruf gehörte ein perfektes Lächeln quasi zur Stellenbeschreibung; er kam stets in der Mittagszeit, wenn die Praxis eigentlich geschlossen war, und das eine oder andere Mal war Ellen versucht, ihm zu sagen, was sie von seiner Politik hielt.

Bea war die Erste, die sich verabschiedete, und danach war es dann wirklich still. Ellen mochte ihre Kollegin, aber Bea redete ein bisschen zu viel. Meistens über ihren Sohn Moritz, der im zarten Alter von zwei Jahren bereits die erstaunlichsten Kunststücke beherrschte. Zumindest wenn man seiner Mutter Glauben schenken wollte. Frau Huber war die Nächste, die ging, und Rainer half ihr galant in den Mantel.

»Ein schönes Wochenende, Martha, und verdrehen Sie mir nicht allzu vielen Männern den Kopf, ja?« Er zwinkerte ihr schelmisch zu.

Martha kicherte wie ein junges Mädchen. »Aba, gehn s’, Herr Doktoa, es is doch bloß a Tangokurs.«

Die Vorstellung, wie sich ihre kleine, rundliche Kollegin von einem rassigen Latino über die Tanzfläche schieben ließ, brachte Ellen zum Schmunzeln. Aber niemand sagte, dass man mit sechzig keinen Spaß mehr im Leben haben sollte, und Martha Huber hatte so viel mitgemacht in den letzten Jahren, sie verdiente eine Menge Spaß.

»Ich kenne Sie doch, Martha, Sie sind eine ganz Schlimme.«

»Koa Ongst, Herr Doktoa, i werd Eahna scho ned untreu«, erwiderte sie und nickte ihrer Kollegin zu. »Pfiad di, Ellen.«

Rainer wartete, bis sich die Eingangstür hinter ihr geschlossen hatte, dann packte er Ellen, wirbelte sie herum wie ein Latin Lover und schob sie auf Marthas Empfangstisch. Ihr Chef beugte sich über sie und gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Ellen blieb die Luft weg – was allerdings am Locher lag, der sich in ihren Rücken drückte.

»Aber bitte, Herr Doktor, wo bleibt denn Ihre Professionalität?«, wisperte Ellen. Es war wie in einem der Arztromane, die ihre Freundin Biene verschlang.

Rainer hob vielsagend die Augenbrauen und machte sich an dem obersten Knopf ihres Kittels zu schaffen. Ihr Herz schlug schneller. Sie betrachtete sein dichtes, dunkles Haar, das von den ersten grauen Strähnen durchzogen war und dazu einlud, darin zu wühlen – was Ellen beim Sex manchmal tat. Obwohl er in das mittlere Alter kam, hatte er eine schlanke Figur, schließlich spielte er regelmäßig Tennis. Alles an ihm war...

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