Physiotherapie in der Orthopädie

Physiotherapie in der Orthopädie

von: Antje Hüter-Becker, Mechthild Dölken

Georg Thieme Verlag KG, 2015

ISBN: 9783131681331

Sprache: Deutsch

784 Seiten, Download: 32621 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Physiotherapie in der Orthopädie



1 Charakteristika der Physiotherapie in der Orthopädie


1.1 Einleitung


In der Orthopädie sind viele Erkrankungen chronisch und haben häufig einen langsam zunehmenden, stetigen Verlauf. Den Schwerpunkt der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung bietet der Wirkort Bewegungssystem. Die dabei untersuchten und behandelten einzelnen Körperstrukturen bestehen zum größten Teil aus Bindegewebe (z. B. Kapsel, Ligamente, Muskulatur, Neuralstrukturen, Faszien).

Alle Lebewesen sind der Erdanziehungskraft ausgesetzt. Sie gibt einem Körper erst sein Gewicht, das ihn unweigerlich zu Boden zieht, wenn ihn nicht andere Kräfte davon abhalten. Damit der Mensch seine aufrechte Haltung beibehalten kann, muss er ständig (außer im Liegen) Kräfte gegen die Erdanziehung mobilisieren. Auch bei nahezu allen Arten von Bewegung, die der Mensch gegen die Anziehung der Masse zum Boden durchführt, werden Kräfte mobilisiert. Durch diese Kräfte erhalten die Körperstrukturen Reize, wie z. B. Druck- und Zugbelastungen. Diese Reize sind für Ernährung und Organisation der Bindegewebe unbedingt erforderlich.

Bei angeborenen anatomischen Fehlstellungen des Bewegungssystems (z. B. Fehlstellungen im Bereich des Hüftgelenks – Hüftdysplasie) wirken die Kräfte anders als an einem gesunden Gelenk. Der Körper besitzt viele Kompensationsstrategien, um mit der veränderten Belastung zurechtzukommen und toleriert sie oft sehr lange ohne Symptome. Auf Dauer kann die veränderte Belastung jedoch zur Überlastung der Körperstrukturen führen. Viele Schmerzsyndrome in der Orthopädie sind Folgen einer veränderten Belastung von Körperstrukturen. Überlastung durch Veränderung der biomechanischen Verhältnisse kann Schmerzen auslösen.

Aber auch eine zu geringe Belastung von Körperstrukturen über einen langen Zeitraum kann auf Dauer Schmerzsyndrome zur Folge haben. Da dem Bindegewebe der Körperstrukturen die Bildungsreize fehlen, die durch Bewegung im Schwerefeld der Erde auf sie einwirken, degenerieren sie. Dadurch reduziert sich die Belastbarkeit noch mehr, und ein Circulus vitiosus (Teufelskreis) beginnt.

Physiotherapeuten in der Orthopädie benötigen genaue Kenntnisse zu Anatomie, Funktion, Biomechanik, Aufbau und Ernährung verschiedener Körperstrukturen, um Kompensationsmechanismen des Körpers auf veränderte Bewegung und Belastung erkennen und entscheiden zu können, ob sie sinnvoll sind oder nicht.

Sehr häufig haben Physiotherapeuten die Aufgabe, Bewegungsverhalten des Patienten zu beurteilen und gegebenenfalls eine ökonomische Belastung der Körperstrukturen mit den Patienten zu erarbeiten. Bei den gut gemeinten Ratschlägen muss die Therapeutin aber immer daran denken, dass der Körper zum Leben Belastung durch Bewegung benötigt. Das Bewegungsverhalten des Patienten in der Art zu verändern, dass er zukünftig möglichst konsequent an einer vermeintlich wenig belastenden Position festhält, bedeutet eine massive Einschränkung der Leistungs- und Ausdrucksmöglichkeiten des Patienten. Im Allgemeinen sind diese auf Dauer kontraproduktiv.

Beispiel Ein Patient mit einer Bandscheibenoperation in der LWS erlernt in der Physiotherapie „rückengerechtes“ Bücken mit dem Auftrag, sich lebenslang so zu bücken. Er ist von Beruf Automechaniker und möchte in 3 Wochen wieder zu arbeiten beginnen. Ihm gehen alle Arbeitssituationen in seinem Betrieb durch den Kopf, bei denen er sich bücken muss. Dabei stellt er fest, dass es in den wenigsten Situationen möglich sein wird, sich wie verlangt zu bücken. Außerdem stellt er sich seine Kollegen vor, die ihn dann vermutlich belächeln werden. Die Therapeutin bemerkt die zunehmende Lustlosigkeit des Patienten bei den „rückengerechten“ Übungen und denkt, er ist von seiner Compliance her unmotiviert.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass bei der Untersuchung und Behandlung neben dem Bewegungssystem noch andere Wirkorte eine wesentliche Rolle spielen. Das Verhalten und Erleben von Patient und Therapeutin prägen wesentlich die Behandlungssituation: In diesem Fall hat die Therapeutin nur schematisch an die verletzte Bandscheibe gedacht und versucht, dem Patienten ein Bewegungsverhalten überzustülpen, mit dem dieser sich nicht identifizieren konnte.

Sie hat den Patienten nicht nach seinen Bedürfnissen gefragt und das Bewegungsverhalten nicht an dessen individuelle Arbeitssituationen angepasst. Da der Patient keine Informationen zu den Wundheilungsphasen des verletzten Bindegewebes erhalten hatte, war ihm nicht klar, dass er sich nicht lebenslang so bücken muss, sondern nur so lange die verletzten Strukturen eine reduzierte Belastbarkeit aufweisen. Danach müssen die erforderlichen alltagsspezifischen Bewegungsabläufe mit Bewegung der Wirbelsäule erarbeitet werden. Das normale motorische Bewegungsmuster des Körpers benötigt eine bewegte und keine starre, steife Wirbelsäule. Der Wirkort Bewegungsentwicklung und Bewegungskontrolle steuert jeden Bewegungsablauf, weshalb er bei der Untersuchung und Behandlung des Bewegungssystems nicht wegzudenken ist.

Der Patient hat von sich aus seine Bedenken nicht geäußert, weil er dachte, das müsse jetzt so sein. Durch die leicht autoritäre Art der Physiotherapeutin wurde er zusätzlich eingeschüchtert.

Das Verhältnis zwischen Therapeutin und Patient ist sehr entscheidend für die Motivation des Patienten und den Erfolg der Behandlungssequenz. Im therapeutischen Prozess ist das Konzept der Compliance relevant. Dieser Begriff wird definiert als „das Maß, worin das Verhalten einer Person mit den Empfehlungen der behandelnden Kliniker übereinstimmt“ (▶ [169]). Allerdings birgt er manchmal die Gefahr, dass dahinter wie im Fallbeispiel ein eindimensionales autoritäres Patient-Therapeutin-Verhältnis steckt (▶ [216]). Die Therapiesituation soll aber durch eine aktive Partnerrolle zwischen Patient und Therapeutin geprägt sein.

Zur Optimierung der Compliance müssen Therapeuten bewusste Informationsstrategien entwickeln und zusammen mit dem Patienten neben einem Behandlungs- auch einen Informationsplan aufstellen. Die Informationen vermitteln Verständnis über die pathomechanischen Prozesse, die eine Veränderung der Belastung und des Bewegungsverhaltens erfordern. Nur dadurch lässt sich eine dauerhafte Verhaltensänderung beim Patienten erzielen.

Patienten erwarten auch während der aktiven Interventionen einer physiotherapeutischen Behandlung die Vermittlung von Selbsthilfestrategien (z. B. zum Beeinflussen von Schmerzen), wodurch sie ihr eigenes Wohlbefinden kontrollieren können. In einer qualitativen Studie gaben die Teilnehmer an, dass die Vermittlung von Strategien zum Selbstmanagement die Zufriedenheit mit dem therapeutischen Prozess erhöht (▶ [269]).

Vor allem Patienten mit chronischen Erkrankungen und somit anhaltender Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit neigen dazu, sich zunehmend aus dem alltäglichen sozialen Leben zurückzuziehen und immer weniger zu belasten. Häufig fühlen sie sich minderwertig, was schließlich zu Depressionen führen kann (Ich kann gar nichts mehr, seitdem mich mein Kniegelenk so plagt.).

Selbst die Belastungsmöglichkeiten bis zur Grenze werden nicht mehr ausgeschöpft, was natürlich nicht nur den Trainingszustand, sondern auch die Belastbarkeit und das Schmerzempfinden negativ beeinflusst. Die Belastungsgrenze sinkt stetig weiter ab. Das körperliche Problem rückt in den Mittelpunkt des gedanklichen Tuns und Handelns. Daher muss der Patient in der Therapie das Gefühl vermittelt bekommen, dass er trotz des körperlichen Schwachpunkts durchaus noch leistungsfähig ist. Außerdem erlernt er, seine eigene Belastbarkeit einzuschätzen und zu erhalten bzw. zu verbessern.

Beispiel Eine adipöse Patientin mit einer...

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