Bevor er es wieder tut - Roman

Bevor er es wieder tut - Roman

von: Kristina Dunker

dtv, 2015

ISBN: 9783423425445

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3314 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Bevor er es wieder tut - Roman



Mittwoch, 14. August


1
Kim


Es sollte ihr letzter Tag sein.

Am liebsten wollte sie schon während der Tour aufhören. Doch sie riss sich zusammen, sagte sich, dass keine Gefahr bestand, es nicht so schlimm sei. Schlimmer war es im Herbst: die frühe Dunkelheit, der Regen, die eingeschränkte Sicht wegen der Kapuze. Dann fühlte man sich nicht nur verfolgt, dann konnte man auch nicht schnell genug prüfen, ob es stimmte.

Jetzt, im August – die Straßen hell und trocken, wenn auch wegen der großen Ferien verlassen –, irritierten sie weder blendende Autoscheinwerfer noch spiegelnde Pfützen. Der sperrige Stoff des großen Regencapes, das der Anzeiger seinen Austrägern zur Verfügung stellte, war auch nicht im Weg. Kim konnte sich sicher fühlen; sie war sportlich, schnell, nicht mehr naiv – nicht mehr seit der Trennung – und der Anzeiger hatte sie ein »kluges, kreatives Mädchen« genannt, von dem er noch viel berichten würde.

Das würde er.

Also: nur noch einmal für zwei Stunden das Wägelchen ziehen, möglichst ohne Blasen am Handballen zu bekommen, nur noch einmal vor jedem Haus den unhandlichen Packen Papier auf den linken Arm wuchten, ohne an den Sonnenbrand zu kommen, und mit dem rechten die widerspenstigen Zeitungen in überquellende Briefkästen stopfen, ohne sich die Fingernägel abzubrechen.

Ein letztes Mal.

Denn danach wollte sie kündigen; sie wollte den Brief gleich schreiben, wenn sie nach Hause kam. Sollten die von der Firma versuchen, Stress zu machen, von wegen Vertrag, sollten sie versuchen, sie einzuschüchtern, dann müsste es eben ihr Vater für sie regeln. Kim spürte, wie ihr Puls wieder anstieg. War da nicht doch jemand?

Normalerweise war sie nicht so leicht zu verunsichern. Sie hatte diesen Job über ein Jahr durchgehalten, den ganzen miesen Winter durch. Dabei hatte sie sich nicht wie ihre Mitschülerin Karla Begleitschutz durch den Bruder zugelegt, obwohl ihre Tour durch einen viel problematischeren Stadtteil als Karlas führte.

Kims Route war der Härtefall: In der Langen Straße kamen ständig schlitzäugige, braungestromerte Staffordshires aus den Hinterhöfen, sobald sie das Klappern der Zeitung in den Briefkasten hörten; in der Karlstraße, wo die Hälfte der Häuser leer stand, überfiel sie jedes Mal die totale Traurigkeit, denn es musste einfach ätzend sein, in einem Stadtteil zu wohnen, in dem jedes dritte Schaufenster mit Papier verklebt war und die Klingeln an ihren Drähten heraushingen. Bei manchen Häusern war sie sich anfangs nicht sicher gewesen, ob sie noch bewohnt waren, deshalb hatte sie sie mit Zeitungen versorgt und die Zustellung erst beendet, wenn die Exemplare bei der nächsten Runde grau, nass und aufgequollen auf dem Bürgersteig lagen. Prompt hatte sich eine Frau beschwert, sie habe ihr letzten Mittwoch keine Zeitung gebracht. Bei der Grundschule, die auch bald geschlossen werden sollte, hatte ein schmieriger Typ an der Schulhofmauer gelehnt und grinsend gefragt, ob im Anzeiger auch Nacktbilder von ihr seien. Und dort, wo man eigentlich erwartete, dass sich die Leute besser benehmen, im Neubaugebiet Herzfeld, wo es saubere Reihenhäuser, Garagen und kurz geschnittene Rasenflächen mit Kinderschaukeln gab, hatte ein Familienvater einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil sie ihm trotz des Keine-Werbung-Aufklebers eine Zeitung in den Briefkasten gesteckt hatte.

Kim wurde unwillkürlich schneller, nicht nur, weil es jetzt leicht bergab ging. Sie hatte wieder das Gefühl, dass ihr jemand folgte. Rasch riskierte sie einen Blick zurück. Oben, bei dem rot verklinkerten Haus, stand ein Typ mit Baseballkappe und sah zu ihr rüber. Als habe er gemerkt, dass sie ihn entdeckt hatte, huschte er plötzlich schnell in den Hauseingang. Aber war es wirklich so? War es nicht vielmehr Zufall? Jemand, der sich erst für etwas völlig anderes interessiert und es nun eilig hatte, nach Hause zu kommen? Um das herauszufinden, müsste sie anhalten und abwarten, aber das wagte sie nicht. Stattdessen drückte sie aufs Tempo.

Ihre Handinnenflächen, die den Griff des Wägelchens umschlossen, wurden feucht von Schweiß, der Rücken unter dem T-Shirt ebenfalls. Die verdammte Karre war schwer, ein viel zu großes, sperriges Dinosauriermodell.

Schon auf den letzten beiden Touren hatte Kim den Eindruck gehabt, als sei ihr jemand gefolgt. Letzten Mittwoch war die Abendsonne noch stärker gewesen und hatte manchmal einen Schatten aus einem Eingang und dem Schutz einiger ummauerter Mülltonnen auf die Straße geworfen. Sie hatte auch mehrmals Schritte gehört, deren Klang immer wieder abrupt verstummte. Kim hatte sich gefürchtet, aber gekündigt hatte sie nicht.

Ihr letzter Tag war heute.

Der letzte beim Anzeiger, der letzte in der Beziehung mit ihrem ersten Freund, der letzte für die schöne Halskette, die ihr kein Glück gebracht hatte. Viel Aufregendes war in diesen Ferien passiert, vielleicht lagen deshalb ihre Nerven blank.

Noch einmal blickte sie blitzschnell zurück: keine Bewegung, kein Schatten, kein Geräusch. Beim Blick unter die parkenden Autos konnte sie auch keine Füße und Beine entdecken, niemanden, der sich versteckte. Sie atmete auf. Vielleicht irrte sie sich.

Dennoch ging sie keinen Schritt langsamer und nahm noch im Laufen die Kette ab. Zu schade. Sie könnte sie verschenken, aber dazu war es zu spät, sie hatte sich soeben entschlossen. Diese Kette würde ihr Grab gleich hier in einem der verstopften Gullis finden, und der Schutzengel-Schlüsselanhänger, den ihr Ex ihr geschenkt hatte, auch.

Kim räumte auf in ihrem Leben. Sie stoppte kurz, ließ beides mit einem Seufzer durch die Metallschlitze in den Morast gleiten – und erschauerte. Die Kette hatte sich wie eine Schlinge um den Hals des Engels geschlungen. Verunsichert kniff Kim die Augen zusammen. Sie hatte den starken Wunsch, den Talisman wieder herauszuholen, wollte sich in ihr Unbehagen aber auch nicht reinsteigern und zog weiter.

Es folgten ein großer Mehrfamilienhauskomplex mit zwei düsteren Toreinfahrten und unübersichtlichen Innenhöfen. Im ersten standen drei Jungen in ihrem Alter vor ein paar kaputten Sitzbänken, spielten mit ihren Smartphones und Kettchen und glotzten sie an. Als sie zehn Minuten später wieder an ihnen vorbeiging, nass geschwitzt mittlerweile, kamen natürlich Kommentare.

»Wie lange arbeitest du noch? Hast du Freund?« Der forscheste von ihnen trat auf sie zu. Kim wich zur Seite, der Zeitungswagen schaukelte, ein lose aufliegendes Exemplar fiel herunter.

Sie hastete weiter und hielt erst wieder an einem Mehrfamilienhaus, vor dem ein Liebespaar stand. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt ihren Freund an der Seite hätte! Wenn er sie jetzt anriefe, würde sie ihm sofort verzeihen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als neidisch zu dem Paar herüberzuschielen und ihre Zeitungen einzusortieren.

Das nächste Mehrfamilienhaus. Der Packen wurde kleiner; jetzt ging es leichter, schneller, mehr als drei Viertel waren schon weg und sie lag gut in der Zeit. In zwanzig Minuten würde sie zum letzten Mal im Hof der Druckerei ihr Wägelchen abstellen und den Bus nach Hause nehmen.

Vor ihr lagen nur noch das Kleine und das Große Herzfeld – zwei lang gezogene Straßenschleifen, die aus der Luft gesehen ein asymmetrisches Herz bildeten und an deren Ende sie wieder am gleichen Punkt herauskam. Die Zielgerade bildete die Alte Bahnhofstraße. Das Ende war nah.

Kim erlaubte sich ausnahmsweise ein sparsames Austeilen. Dort, wo sie die Bewohner noch in den Ferien vermutete, gab’s keine Zeitung, und wenn man in Nummer 20 keine Zustellung wünschte, bekam man in 20a, b und c heute auch keine. Die überzähligen Exemplare warf sie dem cholerischen Familienvater, den sie ebenfalls im Urlaub vermutete, in seine werbungsfreie Altpapiertonne.

Das besserte ihre Laune und spornte ihren Widerstandsgeist an. Zum ersten Mal in ihrer schlecht bezahlten Austrägerkarriere nahm sie den Fußweg zwischen den Gärten der beiden Straßenschleifen als Abkürzung und ließ damit das Kleine Herzfeld aus.

Beobachtet fühlte sie sich jetzt nicht mehr. Das Gefühl der Bedrohung passte nicht zu der friedlichen Straße, in der sie kurzzeitig zwei nette Jungs aus der Schule mit ihren Skateboards umkurvten und mit ihren witzigen Sprüchen unterhielten.

Was aber nichts mehr änderte. Die Weichen waren gestellt.

Zurück auf der Hauptstraße, warf sie in der Bahnlinienunterführung die überzähligen Zeitungen wie Ballast ab und wurde dann so flott, dass sie eine Frau mit einem Collie überholte. Das offenbar gestörte Tier einer noch gestörteren Besitzerin, die es ständig mit weinerlicher Stimme zutextete, fürchtete sich vor dem Widerhall des Ratterns der Räder. Am Ende des kurzen Tunnels sah sie sich noch einmal um, sah noch einmal in das Hundegesicht, merkwürdig irritiert vom hysterischen Bellen. Ihr Unbehagen kehrte zurück.

Die hohen Töne klangen ihr noch in den Ohren nach, während sie weitereilte, vorbei an den neben dem kleinen Bahnhof liegenden, fast leeren Parkplätzen auf das vor Kurzem eröffnete Gesundheitszentrum zu. Kim passierte ein paar letzte Baucontainer und einen schmutzigen Kleinbus vor dem Hintereingang, stellte die Karre neben hohen Stapeln grauer Pflastersteine ab, ging ums Haus herum und sprang, den einen Arm schon in Richtung der halb verglasten Eingangstür ausgestreckt, die Treppenstufen hinunter. Es war kurz vor 20 Uhr.

Die Postkästen der Ärzte befanden sich im Hausflur. Die Putzfrauen, deren monotones Staubsaugerbrummen durch die gekippten Fenster drang, würden...

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