London Undercover - Neal Careys erster Fall

London Undercover - Neal Careys erster Fall

von: Don Winslow

Suhrkamp, 2015

ISBN: 9783518740026

Sprache: Deutsch

370 Seiten, Download: 1325 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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London Undercover - Neal Careys erster Fall



13


Im nebligen London schien die Sonne. Es war heiß, richtig heiß. Der Sommer hatte das Frühjahr lange hinter sich gelassen. Neal trat aus dem notdürftig klimatisierten Flughafen Heathrow in die Sauna draußen.

»Recht warm zur Zeit, fürchte ich«, sagte Simon. »Kurz vor einer Dürre. Plötzlich ist alles braun.«

»Ich dachte, hier regnet es ununterbrochen«, sagte Neal.

»Ich bin heilfroh, dass ich bald nach Afrika fliege, da ist es kühler«, erwiderte Simon.

Neal lachte höflich über den Scherz, bis ihm Simons verdutzter Gesichtsausdruck verriet, dass es gar keiner hatte sein sollen.

»Da ist es wirklich kühler. Waren Sie mal dort?«

»Nein, ich fürchte nicht.«

Simon war Exzentriker. Neal schätzte ihn auf Ende fünfzig, wusste aber, dass er sich damit um gute zehn Jahre drüber oder drunter vertan haben konnte. Er war groß und kantig, sein Adamsapfel schien zu einer anderen Spezies zu gehören, und er bewegte sich mit der eigentümlich britischen Zielstrebigkeit, die viele entweder liebenswürdig oder nervig finden. Da das Thermometer knapp dreißig Grad anzeigte, vermutlich eher letzteres.

Simon trug ein rosafarben gestreiftes Hemd, eine blattgrüne Hose, einen Krawattenschal mit Paisleymuster, Burlingtonsocken und Schuhe, die wie Mokassins aussahen, aber geschnürt wurden. Das Ganze wurde abgerundet durch einen grauhaarigen Charakterkopf mit vereinzelten braunen Locken, strahlend blauen Augen und einer Nase, die eigentlich auf den Mount Rushmore gehört hätte, wäre dieser nicht zu klein dafür gewesen.

Simon war ein Freund von Kitteredge, ging gelegentlich mit Ethan und dessen Frau auf Safari, lebte ansonsten aber in seiner Heimat auf dem Land. Die zivilisierte Welt bot wenig, das für ihn von Interesse gewesen wäre, und schon deshalb durfte man ihm vertrauen, dass er die Geschichte von Allie Chase für sich behielt. Er war Neals Londoner Gastgeber.

»In einer Woche fahre ich, aber das müsste genügen. Ich schätze, ich bin so was wie ihr Ansprechpartner vor Ort. Und Sie sind Menschenjäger?«

»Mädchenjäger.«

Simon lachte. »Ach ja. Sehr schön.«

Er führte sie durch ein Labyrinth aus parkenden Autos, als kämen sie zu spät zum Mittagessen mit der Queen. An einem kleinen silberfarbenen Sportwagen mit aufklappbarem Verdeck blieb er stehen.

»Das«, verkündete er mit überschwänglicher Geste, »ist ein Gordon Keble.«

»Sehr schön«, sagte Neal stumpf vor Verlegenheit. Über Autos wusste er nicht mehr, als dass sie ein Lenkrad hatten und vier Räder – es sei denn, man ließ sie über Nacht in seinem Viertel stehen.

»Auf der ganzen Welt wurden überhaupt nur dreizehn gebaut«, fuhr Simon fort. »Ich besitze drei.«

»Toll.«

»Eine meiner ganz großen Schwächen«, vertraute ihm Simon in einem Ton an, als wollte er eigentlich gestehen, Sex mit zwölfjährigen, als Nonnen verkleideten Chinesinnen gehabt zu haben.

»Und die anderen?«

»Die anderen Autos?«

»Schwächen.«

»Das werden Sie schon sehen«, erwiderte Simon ernst. »Wollen wir erst mal eine kleine Spritztour mit dem Keble machen?«

Simon warf Neals Reisetasche in die schmale Lücke hinter den Sitzen, während sich Neal auf den Beifahrersitz schob. Er versank darin und hatte das Gefühl, keine fünf Zentimeter über dem Boden zu sitzen.

Simon drehte den Schlüssel im Zündschloss, und der kleine Wagen erwachte mit dämonischer Energie zum Leben. Neal hatte den beängstigenden Eindruck, der Wagen habe genau auf diesen Moment gewartet − von den Fußsohlen bis in die Haarspitzen wurde Neal von Vibrationen erfasst. Der Motor brummte wie ein Wolf vor einer Schafherde.

»Tolles Gefühl, oder?«, fragte Simon stolz.

»Ja.« Entsetzen.

Simon fuhr, als sei er im Besitz physikalischer Erkenntnisse, von denen weder Einstein noch Gott etwas wussten. Die Natur scheut das Vakuum, Simon fürchtete es wie der Teufel das Weihwasser, er beeilte sich, auch noch die kleinste Lücke im dicht fließenden Verkehr zu füllen. Er zog nach rechts, nach links, in die Mitte und an allen anderen Wagen vorbei, der Keble reagierte, als wäre er mit seinem Herrn durch eine Art Blutsbrüderschaft verbunden.

Neal sank so tief wie möglich in seinen Sitz und schloss die Augen so fest, wie es ihm seine Würde erlaubte.

»Warum wurden nur dreizehn gebaut?«, überschrie er den pfeifenden Wind und bemühte sich, seinen Brechreiz zu unterdrücken.

»Nach Gordons Tod war Keble einfach nicht mehr mit ganzem Herzen dabei!«

»Wie ist Gordon denn gestorben?«, fragte Neal und hasste sich dafür, weil er wusste, dass ihm von der Antwort noch schlechter werden würde.

»Er ist einem Raufußhuhn ausgewichen, über eine Steinmauer geflogen und auf dem Kirchhof gelandet! Praktisch, oder?«

Simon überquerte drei Spuren, nahm das Hupkonzert und die Flüche der anderen gar nicht wahr, sondern schob sich in die sechzig Zentimeter lange Lücke, die entstand, als ein Wagen von der Autobahn abfuhr. In einer gemeinen Außenkurve beschleunigte Simon, stürzte sich anschließend ein Gefälle hinunter und bremste gerade noch rechtzeitig, um es dem voranfahrenden Milchlaster nicht unfreiwillig von hinten zu besorgen, dann glitt er auf die Überholspur und trat das Gaspedal durch. Das Getriebe klang wie eine chinesische Oper.

»Ich selbst hatte auch schon drei schwere Unfälle!«, schrie Simon zu Neals Beruhigung. »Einen in Madagaskar! Lag monatelang flach! Alle möglichen Knochen waren gebrochen!«

Als der Verkehr ausdünnte und Simon Gelegenheit bekam, seine Begabung und das Höllenpotential des Wagens vollständig unter Beweis zu stellen, betete Neal, Simons Schädel habe nicht zu den gebrochenen Knochen gezählt. Aufgrund der Fliehkräfte – zumindest glaubte Neal das – klebte er bleich und elend in seinem Sitz und hatte die Hoffnung zu überleben bereits aufgegeben. Während sich Angstschweiß mit hitzeinduzierter Transpiration vermischte und der silberfarbene Dämon immer schneller seinem drohenden Feuertod entgegenraste, setzte Neal schweigend eine Postkarte an Joe Graham auf: »Lieber Dad, es ist sehr schön hier. Schade, dass du nicht dabei sein kannst.«

14


Simon wohnte im ersten Stock eines Hauses in der Regent’s Park Road, einer ruhigen Straße unweit des Londoner Zoos: eine gute Gegend für einen geheimen Unterschlupf. Simon gehörte das ganze Haus, das Erdgeschoss hatte er aber an ein verheiratetes schwules Paar vermietet.

»Den Großteil der Zeit bin ich in Afrika, deshalb kam es mir ein bisschen unpraktisch vor, das ganze Haus zu behalten«, erklärte Simon, als sie die enge Treppe zu seiner Wohnung hinaufstiegen.

Sie war klein. Das Wohnzimmer zeigte zur Straße und nahm die gesamte Breite ein. Von diesem Raum ging eine kleine Küche ab, und von dieser wiederum gelangte man in Schlaf- und Badezimmer.

Zwei bodentiefe Fenster ließen Licht ins Wohnzimmer, in dem auch eine Liege stand. Neben dieser stellte Simon Neals Tasche ab. »Das könnte Ihr Bett sein, zumindest bis zu meiner Abreise nächste Woche. Ich hoffe, Sie haben es hier bequem.«

»Das ist super«, sagte Neal, dann warf er zum ersten Mal einen Blick auf die Wände. Und bekam den Mund nicht mehr zu.

Simon bemerkte es.

»Eine weitere Schwäche von mir«, sagte er. »Ich liebe Bücher.«

Ohne Scheiß. Der komplette Raum war mit Bücherregalen ausgestattet und vollbepackt mit Erstauflagen. Auf einem kleinen Beistelltischchen in der Mitte stapelten sich schwere Bildbände. In allen Ecken wuchsen Büchertürme aus dem Boden. Neal trat an das Regal neben ihm heran und starrte auf die Buchrücken. Viele Memoiren von Forschungsreisenden aus dem neunzehnten Jahrhundert – Burton, Speke, Stanley –, allesamt Erstausgaben. Dann entdeckte Neal Fielding und Smollett.

»Simon, das ist ja phantastisch.«

Simon freute sich sichtlich. »Lesen Sie gerne?«

Neal nickte und starrte weiter die Bücher an.

»Was lesen Sie?«, fragte Simon.

»So was«, erwiderte Neal und zeigte auf die Regale. »Ich lese genau so was. In der Taschenbuchausgabe.«

»Sie dürfen die Bücher ruhig anfassen.«

»Nein, nein, schon gut.«

»Sie werden in Ihren Händen schon nicht zu Staub zerfallen.«

Davor hatte Neal tatsächlich Angst – solch kostbare, alte Bücher. Er dachte, er könnte den Rest seines Lebens glücklich in diesem Zimmer verbringen.

»Sammeln Sie auch?«, fragte Simon.

»Ich bin ein armer Student.«

»Mir wurde gesagt, Sie sind Privatdetektiv.«

Neal grinste. »Das auch.«

Aber damit verdiene ich nicht viel Geld, dachte er.

»Was studieren Sie?«

»Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.«

»Interessante Kombination, Detektiv und Akademiker.«

Neal fiel eine ganze Reihe ironischer Antworten ein, aber er begnügte sich mit dem Hinweis, dass man für beides »recherchieren« müsse.

»Ach, wirklich?«

Selbst mit einem Stemmeisen hätte man Neals Blick nicht vom Bücherregal lösen können.

»Wer ist Ihr Lieblingsautor?«, fragte Simon.

»Ich schreibe meine Abschlussarbeit über Smollett.«

»Aah.«

Das sagen sie alle, dachte Neal. Und meinen: »Wie langweilig.«

Simon ging ans Regal und zog vier Bände heraus. Einen davon reichte er Neal und sah ihn erwartungsvoll an, während dieser ihn...

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