Als die Karpfen fliegen lernten - China am Beispiel meiner Familie

Als die Karpfen fliegen lernten - China am Beispiel meiner Familie

von: Xifan Yang

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446248717

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 5209 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Als die Karpfen fliegen lernten - China am Beispiel meiner Familie



1
HERR SOMMERBAMBUS


Mein Großvater heißt Peng Fangcong. Peng ist der Familienname, wie das Schussgeräusch. Fast alle Bewohner unseres südchinesischen Heimatdorfs tragen ihn. Das Zeichen für fang bedeutet »wohlriechend« und cong so viel wie »hellhörig« oder »gescheit«. Ich bin mir nicht sicher, was meine Urgroßeltern sich 1934 bei der Geburt ihres zweitältesten Sohnes dachten, aber der Name passt, finde ich, ganz gut: Auf sein Äußeres achtet mein Großvater von jeher. Und dass er überdurchschnittlich klug und begabt ist, kann man ihm nie oft genug sagen.

In diesen Tagen legt mein Großvater seinen Geburtsnamen gerne ab. Immer öfter nennt er sich »Herr Xia«. Herr Xia ist sein Künstlername, voll ausgeschrieben Xia Sunzhu, das Wort für »Sommerbambus«.

Während Herr Peng ein wortkarger Kauz mit Tendenz zum Sozialeremiten ist, sprudelt Herr Xia über vor Mitteilungsbedürfnis. Herr Peng fläzt sich schon vormittags im Fernsehsessel und zappt sich durch Historiendramen. Herr Xia widmet seine Zeit ausschließlich den schönen Künsten und bleibt überall, wo seine Schritte ihn hintragen, staunend vor Jadeschnitzereien, Wandtapeten und Steinskulpturen stehen. Herr Peng schrickt gelegentlich erst um 20 Uhr aus seinem Mittagsnickerchen auf und ruft im Schlafanzug in die Küche hinein: »Ist denn schon Morgen?« Herr Xia dagegen wird bis tief in die Nacht von Musen verfolgt.

Von der Existenz Herrn Xias erfuhren wir anderen Familienmitglieder das erste Mal wenige Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Großvater war damals bereits 77 Jahre alt. Meine Cousine und ich begleiteten ihn auf das Festbankett einer entfernten Urgroßtante, die ihren 100. Geburtstag in einem angemieteten Hotelsaal mit roten Samtvorhängen und Tischen für fünfhundert Gäste feierte. Nachdem Glitzerkostüm tragende Tänzerinnen mit ondulierten Locken ihre Beine geschwungen hatten, wurde das betagte Geburtstagskind im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, wo man die Jubilarin hochleben ließ. Außerdem sollte ein Foto von der Großtante im Kreis ihrer Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel gemacht werden. Der Nachwuchs summierte sich auf 47 Personen (zwei ihrer fünf Söhne waren bereits vor Jahren verstorben, aber das hatte man der alten Dame verschwiegen, um sie nicht zu bedrücken). In diesem Moment erstürmte Großvater die Bühne. Er drängte sich ins Bild und griff sich das Mikrofon. Dann stimmte er ungefragt ein Geburtstagsständchen an, gefolgt von einer neukomponierten Eigenkreation. Alle Blicke im Raum waren auf ihn gerichtet. Großvater trug eine Mandarin-Jacke aus purpurroter Seide mit goldenen Stickereien. Niemand strahlte an diesem Tag mehr Festtagsstimmung aus als er.

Manche Zungen behaupten, Herrn Xia habe es schon immer gegeben – was vermutlich der Wahrheit entspricht. Doch die meiste Zeit seines Lebens hielt Großvater ihn gut unter Verschluss. »Peng Fangcong, hör auf mit dem Blödsinn!«, schimpfte Großmutter ihn, sobald sich der Sommerbambus in ihm regte. In solchen Momenten verzog er sich murmelnd vor die Haustür und zündete eine seiner geliebten Zigaretten mit dem goldenen Kranich-Logo an, danach brachte er brav den Müll zur Tonne. Großmutter war, wenn man so will, die mächtige Gegenspielerin von Herrn Xia. Sie sorgte dafür, dass er Großvater keine Flausen in den Kopf setzte. Sie duldete Herrn Xia zwar, aber er war ihr suspekt.

Seit Großmutter nicht mehr da ist, lebt Großvater bei meiner Tante. Seitdem hat Herr Xia freie Bahn. Dass Großvaters Zweitcharakter zugange ist, weiß man in der Regel, wenn ein leises Summen aus seinem Schlafzimmer dringt. Dort findet man ihn dann hinter geschlossener Tür am runden Schreibtisch, wo er über einem Stapel zerfledderter Notenhefte brütet. Jeden Zentimeter dieser Hefte füllt er mit mikroskopisch kleinen Liedzeilen. In diversen Farben und unterschiedlichem Verschnörkelungsgrad wandern die Schriftzeichen vom linken Blattrand an den rechten, sie mäandern von oben nach unten, tanzen quer über ganze Doppelseiten und enden abrupt im Nichts. Hat Herr Xia einen guten Lauf, schreibt Großvater bis zu fünf Strophen am Tag. Die Inspiration nimmt ihn überall und zu jeder Uhrzeit in Beschlag: beim Spazierengehen, beim Rauchen, um vier Uhr früh auf der Toilette.

»In solchen Augenblicken kann ich nichts dagegen tun«, vertraute er mir einmal an, »ich bin wie von einem Fieber erfasst.« Herr Xia müsse sich hinsetzen, müsse singen und schreiben, an Melodien und Versen feilen. Wenn Großvater über Herrn Xia spricht, wirkt er energiegeladen wie ein kleiner Junge.

»Die Musik lässt mir keine Ruhe, Fanfan«, sagte er mir, nachdem er tief Luft geholt hatte. Fanfan – so nennt er mich von klein auf.

»Warum überhaupt ›Sommerbambus‹?«, fragte ich ihn.

»Die meisten Bambussetzlinge gehen bei Trockenheit und Hitze ein«, antwortete er. »Aber es gibt eine besondere Sorte Sommerbambus. Diese sprießt selbst dann, wenn andere Pflanzen vertrocknen.«

In seiner Erinnerung hat er Anfang der sechziger Jahre zum ersten Mal einen solchen Bambusspross entdeckt. Großvater sah damals kaum noch Hoffnung für sein Leben: Wegen kritischer Äußerungen gegen Mao hatte man ihn als »Rechtsabweichler« zu Zwangsarbeit in einem armen, entlegenen Bergdorf verurteilt. Eines Tages im Hochsommer marschierte er durch den Wald. China steckte mitten in der schlimmsten Hungersnot seiner Geschichte. Die Sonne brannte Großvater ins Gesicht, vor Hunger und Erschöpfung konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Auf einer Lichtung neben dem Feldweg hielt er an. Alle Sträucher und Blumen waren ausgedorrt. Nur aus einer Felsspalte ragte ein winziges Knöpfchen Grün. Der Sommerbambus. Großvater sagt: Ein Wunder.

Zur selben Zeit fing er an, sich in Gedanken in die Welt der Melodien und der Lyrik zu flüchten. Heute bereiten ihm nicht nur die Musen unruhige Nächte, sondern auch die Geister von früher, Erinnerungen an Gewalt und Schrecken. Seit mehr als vierzig Jahren jagen ihn dieselben Albträume aus dem Schlaf: eine Bühne, davor eine wütende, johlende Menge. Großvater kniet auf Glasscherben, auf dem Kopf trägt er einen spitzen Papierhut mit der Aufschrift »Nieder mit dem Konterrevolutionär Peng Fangcong!«. Vor ihm brüllen Männer mit Schlagstöcken: »Gestehe! Gestehe!«

Als Großmutter noch lebte, musste sie ihn im Bett festhalten, damit er nachts nicht um sich schlug. Aus Angst, sie versehentlich zu verletzen, schlief er mehrere Jahre auf dem Boden neben dem Ehebett. Auch heute noch schlafwandelt er regelmäßig; jede zweite Nacht hört meine Tante wilde Schreie und Gemurmel aus seinem Zimmer. Neulich brach er sich die Rippen, als er im Schlaf die Treppen hinunterlaufen wollte. Nach dem Aufwachen sagte er, er sei auf der Flucht vor Rotgardisten gewesen.

Um sich vor seinen Träumen zu schützen, schläft Großvater seit dem Unfall daher mit einer selbstgebastelten Sicherheitsvorrichtung: Von der linken zur rechten Bettseite hat er hinter dem Kopfkissen ein Seil gespannt, an dem ein zur Schlaufe gebundener Ledergürtel hängt. Beim Zubettgehen steckt Großvater seinen linken Arm in die Schlaufe. So kann er nachts nicht herausfallen. Ein zweites Kopfkissen lehnt aufrecht an der Wand und verhindert, dass er seinen Kopf anstößt.

Trotz der Albträume zündet Großvater sich jeden Morgen mit einem Lächeln seine erste Zigarette an. Denn tagsüber verfolgt er einen anderen Traum: Herrn Xia stehe der große Durchbruch als Musiker bevor, erzählt er mir seit Jahren. Hundert selbstkomponierte Lieder werde Herr Xia in einem Sammelband veröffentlichen. Bald, kündigt er an, werde man seine Lieder auf Bühnen in ganz China singen.

 

 

Großvaters Notenheft mit selbstkomponierten Melodien

(Stand Juni 2014)

 

*

 

An einem kalten Novembertag ruft Großvater mich aus dem Zug nach Peking an. Seine Stimme klingt beschwingt: Er spiele im Schlafabteil mit einem Getränkehändler Karten. Heute Morgen sei er losgefahren – und Herr Xia sei jetzt bereit, sich samt seinen Werken der Welt zu stellen.

Ich mache mir Sorgen, denn die Reise nach Peking ist nicht gerade eine Spazierfahrt: 28 Stunden und drei Minuten dauert sie, Großvater durchquert drei Klimazonen, legt 2500 Kilometer zurück, reist alleine. Meine Tante erfuhr von seinen Plänen erst kurz vor seiner Abfahrt: Er wolle seinen dementen Bruder besuchen, meldete Großvater ihr. Schon Wochen zuvor war meiner Tante aufgefallen, dass er noch selbstversunkener wirkte als sonst. Wenn sie ihn auf einen Familienausflug mitnehmen wollte, habe er abgewinkt: keine Zeit. Am Telefon verrät er mir nun, was ihn wirklich nach Peking treibt: Er wolle sich bei einer Castingshow bewerben. Ich will in die Frühlingsgala heißt sie und zählt zu den beliebtesten Sendungen im chinesischen Staatsfernsehen. Wer gewinnt, darf am Vorabend des chinesischen Neujahrsfestes zusammen mit den größten Popstars des Landes auftreten. Die Frühlingsgala auf CCTV1 gilt mit bis zu 800 Millionen Zuschauern als die meistgesehene Unterhaltungsshow der Welt.

»Ich bin achtzig Jahre alt und habe keine Zeit mehr zu verlieren«, ruft Großvater, im Hintergrund höre ich das Quietschen der Zugräder auf den Schienen. »Wünsch mir Glück!«

Fünf Tage später lande ich in Peking. Wie so oft verschwindet die Hauptstadt unter einer gigantischen Smogglocke. Die Luft schmeckt nach Metall, die Umrisse der Hochhäuser sind nur zu erahnen.

Ich treffe Großvater in Apartment 502 in Haus 14 der Wohnanlage »Blumendorf«, einer Ansammlung von kastenförmigen Backsteinhäusern im Westen Pekings. Die Wohnung ist seine provisorische Unterkunft, bei seinem schwerkranken Bruder war kein Bett mehr frei. Hinter der rostigen Eisentür im...

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