Totgesagte leben länger. Karl Marx und der Kapitalismus im 21. Jahrhundert

Totgesagte leben länger. Karl Marx und der Kapitalismus im 21. Jahrhundert

von: Konrad Paul Liessmann

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446248120

Sprache: Deutsch

112 Seiten, Download: 3657 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Totgesagte leben länger. Karl Marx und der Kapitalismus im 21. Jahrhundert



2. Der »tote Hund« und sein Stammbaum


Nach dem endgültigen Zusammenbruch aller realen Sozialismen war und ist gerne die Rede von Marx als einem »toten Hund«. Weniger bekannt ist, dass dies ein Zitat von Marx selbst ist; kaum bekannt allerdings ist, dass sich dahinter eine Kette von Zitationen verbirgt, die selbst ein famoses Stück deutscher Geistesgeschichte darstellt. Seit mehr als zwei Jahrhunderten geistert der »tote Hund« durch die deutsche Philosophie. Und an den Spuren dieses spirituellen Kadavers, von dem nicht gesagt werden kann, ob es Fausts zur Strecke gebrachter Pudel ist, lässt sich einiges von dem ablesen, was den Kern, aber auch den unvergleichlichen Charme dieses Denkens ausmacht.

Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, von Marx am 24. Jänner des Jahres 1873 verfasst, nimmt der Autor dieser »Kritik der politischen Ökonomie« Stellung zu einigen Meinungen und Kritiken, die nach Erscheinen des ersten Bandes des Kapitals ihm zugekommen sind – wobei ja eine besondere Pointe darin besteht, dass etliche Rezensionen, die zum Kapital erschienen sind, von Marx und Engels selber stammen sollen, weil sowohl Gegner als auch Freunde sich außerstande sahen, dieses Buch zu lesen. Im Nachwort geht Marx allerdings auf einige nichtfiktive Reaktionen ein, unter anderem versucht er, seine Methode der Analyse des Phänomens der bürgerlichen Gesellschaft darzustellen:

»Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber gerade als ich den ersten Band des Kapital ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel so zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit einen Spinoza behandelt hat, nämlich als ›toten Hund‹. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und ich kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zum ersten in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« (MEW 23, 27)1

Nein, kein Wort jetzt über Dialektik bei Marx und Hegel. Kein Wort über das einst viel strapazierte »Umstülpen«, kein Wort davon, dass hier irgendjemand vom Kopf auf die Füße gestellt werden soll. Uns interessieren an dieser Stelle eher Marxens Bemerkung, dass Hegel zu seiner Zeit so behandelt werde, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeiten Spinoza behandelt habe, nämlich als »toten Hund« – und die Anführungszeichen, zwischen die Marx den toten Hund setzte. Es handelt sich also anscheinend um ein, allerdings unausgewiesenes Zitat. Solche stummen Verweise und Anspielungen verraten mitunter mehr, als der erste Blick vermuten mag. Was also verbirgt sich hinter dieser etwas schiefen Metapher? Wer also wurde zitiert? Die relativ verlässliche Ausgabe der Marx-Engels-Werke, die vom längst aufgelösten Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED veranstaltet worden war und die in der Regel bemüht gewesen war, alle Zitate, die Marx eingeschmuggelt hat, zu entschlüsseln und nachzuweisen, hat die Quelle zu dem unter Anführungszeichen gesetzten toten Hund nicht belegt. Keine Frage: Spurensuche tut not.

Naheliegend, zuerst bei jenem Philosophen nachzuschlagen, den Marx wohl am besten gekannt hat, nämlich bei Hegel. Und in der Tat: In Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, und zwar im Abschnitt über jene »neueste deutsche Philosophie«, die heute eine alte, eine sehr alte deutsche Philosophie ist – was man nicht zuletzt daran sieht, dass Hegel dabei auch auf einen Denker einging, der mittlerweile nahezu vergessen ist: Friedrich Heinrich Jacobi. Jacobi (1743 bis 1819) war einer der Philosophen des Sturm und Drang gewesen, Realist und Denker des Gefühls, Kritiker von Kant, befreundet mit Mendelssohn, mit Lessing, mit Goethe, daneben Autor einer Reihe von Romanen, und nicht zuletzt war es Jacobi gewesen, der den Begriff Nihilismus geprägt und in die Philosophie eingeführt hatte. Zu Lebzeiten berühmt geworden war er durch ein Buch, das zunächst anonym erschienen war: Briefe an Mendelssohn über die Lehre des Spinoza. Hegel ging in seiner Vorlesung auf diese Schrift ein und sagte: »In dem Briefwechsel [zwischen Jacobi und Mendelssohn] kommt sogleich vor, wie Spinoza vergessen worden ist. Mendelssohn zeigte Ignoranz selbst über das äußerlich Historische der Spinozistischen Philosophie, vielmehr noch über das Innere. Dass Jacobi Lessing für einen Spinozisten ausgab und die Franzosen heraushob, dieser Ernst kam den Herren wie ein Donnerschlag vom blauen Himmel herunter. Sie – selbstgefällig, fertig, obenauf – waren ganz verwundert, dass er auch etwas wissen wolle, und von solchem ›toten Hund‹ wie Spinoza.«2

Da ist er also, der tote Hund. Das Problem ist nur: Auch Hegel setzt den toten Hund unter Anführungszeichen. Nachdem anzunehmen ist, dass Marx den toten Hund von Hegel kannte, handelt es sich offenkundig um das Zitat eines Zitats. Die Spurensuche geht weiter. Vorerst aber noch einige Bemerkungen zu diesem Briefwechsel zwischen Jacobi und Mendelssohn über Spinoza und Lessing: Er steht in Zusammenhang mit einer Debatte, die auch als der sogenannte Pantheismusstreit der deutschen Aufklärer in die Philosophie- und Kulturgeschichte eingegangen ist. Jacobi war sehr begierig gewesen, die Bekanntschaft von Gotthold Ephraim Lessing zu machen, und sandte diesem seinen Roman Woldemar. Lessing revanchierte sich mit dem Theaterstück, das er damals gerade fertiggestellt hatte: Nathan der Weise. Es kam tatsächlich zur Begegnung zwischen diesen beiden Aufklärern, und im Laufe derselben kam man auch auf Spinoza zu sprechen, einen Philosophen, der noch heute ein wenig wie ein toter Hund behandelt wird. In der Szene der Aufklärer galt Spinoza als Pantheist – aber Pantheisten schienen höchst anfällig für den Atheismus. Ein naheliegender Gedanke, wenn man den klassischen Theismus der christlichen Lehre mit einem personalen Gottesbegriff assoziiert: Denn dann ist der Pantheist, für den Gott in allem ist, bald dort, wo Gott überhaupt nicht mehr ist. Es dürfte Jacobi tatsächlich erregt haben, dass Lessing in diesem Gespräch anscheinend eine spinozistische Position vertrat; er schrieb auch sofort an Mendelssohn, ob er denn wisse, dass Lessing Spinozist, also Pantheist, also womöglich gar Atheist sei. Darauf entspann sich ein erbitterter Briefwechsel, Lessing starb, und der »brave« Moses Mendelssohn regte sich darüber, dass man Lessing für einen Atheisten halten könne, so auf, dass er kurz vor seinem Tode noch eine Erwiderung an Jacobi schrieb. Es ist also zu vermuten, dass diese Formel vom toten Hund irgendwo in dieser Auseinandersetzung zwischen Jacobi, Lessing und Mendelssohn zu suchen sein wird.

Tatsächlich, in seinem ersten langen Brief an Mendelssohn schildert Jacobi diese Begegnung und dieses Gespräch mit Lessing, ihren Diskurs über Spinoza. Jacobi rapportiert diese Auseinandersetzung in der literarischen Form eines Dialoges zwischen ›LESSING‹ und ›ICH‹. Er selbst, Jacobi, stellt die These auf, dass es eigentlich so etwas wie einen Parallelismus gäbe in der Auffassung der Einheit von Gedanke und Substanz bei Spinoza und bei Leibniz. Und das musste ein provokanter Gedanke gewesen sein, schien doch Leibniz, der geachtete Rationalist, den populären Aufklärern nicht zuletzt durch seine grandiose Abhandlung über die Theodizee gefeit davor, in den Geruch des Atheisten zu kommen. In dem Moment, in dem Jacobi Leibniz in die Nähe Spinozas rückt, springt Lessing auf und ruft: »Ich lasse Ihnen keine Ruhe, Sie müssen mit diesem Parallelismus [zwischen Leibniz und Spinoza] an den Tag ... reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem todten Hunde«3 – und damit haben wir die Stelle gefunden, wo der ›todte Hund‹ begraben liegt. Lessing also sagte dies zu Jacobi, dieser veröffentlicht es in seinen Briefen an Mendelssohn, daher kennt Hegel den toten Hund, und bei Hegel findet wahrscheinlich Marx diese Formel und wendet sie auf Hegel an – um sich dann selbst als toter Hund wiederzufinden. Er ist damit also in bester Gesellschaft: Spinoza, Hegel, Marx – eine Ahnengalerie, an deren Genese aber mehr beteiligt war als der Zufall philosophischer Kontroversen.

Die Familie der toten Hunde weist nämlich Gemeinsamkeiten auf: Der Pantheismusstreit um Spinoza, der dessen Philosophie denunzieren sollte, eine radikale, verharmlosende und christlich vereinnahmende Hegelrezeption in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, auf die Marx so scharf reagierte und durch die er sich genötigt sah, sich als Schüler Hegels zu bekennen, und heute die Attitüde, dass Marx nach dem Ende des Kommunismus ein für alle Mal erledigt wäre: Es ist diese Geste einer bornierten Ignoranz, die diese Denker vereint, indem sie ihr zum Opfer fallen. Spinoza, Hegel,...

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