Die vielen Farben des Autismus - Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung

Die vielen Farben des Autismus - Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung

von: Thomas Girsberger

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170287860

Sprache: Deutsch

182 Seiten, Download: 3941 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Die vielen Farben des Autismus - Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung



Einleitung


 

 

 

Das Thema »Autismus« hat in den letzten Jahren sowohl unter Fachleuten wie auch in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit ganz enorm an Bedeutung zugenommen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in den letzten 3 Jahrzehnten in diesem Fachgebiet viele neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Man kann von einer eigentlichen wissenschaftlichen Revolution reden.

Der Begriff »Autismus« geht zurück auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der im Jahre 1911 damit eines der Symptome der Schizophrenie (starke Zurückgezogenheit und Selbstbezogenheit) bezeichnete. Erst viele Jahre später (1938) wurde der Begriff erstmals in Zusammenhang mit psychisch auffälligen Kindern gebraucht, und zwar vom Wiener Kinderarzt Hans Asperger in seiner Publikation »Das psychisch abnorme Kind«. Weitere 5 Jahre später veröffentlichten praktisch zeitgleich Leo Kanner in den USA und Hans Asperger in Wien ihre wissenschaftlichen Arbeiten, die Kinder mit autistischer Symptomatik zum Thema hatten. Leo Kanner diagnostizierte bei den von ihm beschriebenen Kindern eine »Autistische Störung des affektiven Kontakts«. Seine Arbeit wurde zur Grundlage des Begriffs »Frühkindlicher Autismus«, und dieser war viele Jahrzehnte lang auch unter dem Namen »Kanner-Syndrom« identisch mit Autismus schlechthin.

Hans Asperger nannte in seiner Arbeit, die 1944 in Wien veröffentlicht wurde, die von ihm beschriebenen Kinder »Autistische Psychopathen« ( Anhang). Beim Studium jener Arbeit wird klar, dass Aspergers Konzept von Autismus breiter angelegt war als jenes von Kanner, welcher ausschließlich schwer beeinträchtigte Kinder beschrieb. Asperger hingegen nahm eigentlich schon das Konzept des Autismus-Spektrums vorweg: »Nun findet sich der autistische Charakter keineswegs nur bei intellektuell Hochwertigen, sondern auch bei Minderbegabten, ja bei tiefstehend Schwachsinnigen.« (Asperger 1944). Aus diesem Zitat geht auch hervor, dass Asperger in erster Linie normal begabte Kinder beschrieb, welche gemäß seinen eigenen Ausführungen später auch überwiegend eine gute gesellschaftliche und berufliche Integration erreichten. Für diese Gruppe von Kindern wurde später der Begriff »Asperger-Syndrom« geprägt.

Hier muss nun auf eine wichtige historische Tatsache hingewiesen werden: Leo Kanner veröffentlichte seine Arbeit 1943 in den USA. Sie wurde in der wissenschaftlichen Welt, welche nach dem 2. Weltkrieg und bis in die heutige Zeit sowieso stark von den USA dominiert und geprägt wurde, stark beachtet und für Jahrzehnte zum Maß aller Dinge. Hans Asperger hingegen ereilte mehr oder weniger das Schicksal des Vergessens. Er hatte das Pech, in einer äußerst ungünstigen Situation seine Arbeit zu schreiben. Wien war 1944 Teil des Großdeutschen Reiches, seine auf Deutsch publizierte Arbeit wurde schlicht von niemandem gelesen, schon gar nicht in der internationalen Fachwelt.

Leider dauerte es fast 40 Jahre, bis die bahnbrechende Arbeit von Hans Asperger wiederentdeckt wurde, ironischerweise zunächst nur im englischsprachigen Raum. Es war die englische Kinderärztin Lorna Wing, welche 1981 ihre Arbeit veröffentlichte, in welcher sie sich explizit auf Hans Asperger bezog und erstmals für autistische Kinder mit guten verbalen und intellektuellen Fähigkeiten den Begriff »Asperger-Syndrom« vorschlug. Damit wurde eine ganz bemerkenswerte Entwicklung in Gang gesetzt.

Die Tatsache, dass Leo Kanner über lange Zeit das Verständnis von Autismus geprägt hatte, hat sich rückblickend auf den wissenschaftlichen Fortschritt und auf die Versorgung der von Autismus Betroffenen als sehr schädlich erwiesen. Autismus wurde lange Zeit mit einer Krankheit mit schwerer Beeinträchtigung und generell schlechter Prognose gleichgesetzt. Entsprechend wurde diese Diagnose mit großer Zurückhaltung gestellt und auch dies erst in einer Phase der Kindheit, wo die Behinderung ganz offensichtlich wurde. Ich habe dies als Assistenzarzt Mitte der 1980er Jahre persönlich miterlebt. Bei einem Elterngespräch, wo die Eltern eines offensichtlich autistischen Kindes von meinem Oberarzt und mir über die Abklärungsergebnisse orientiert werden sollten, wurde um den »heißen Brei« herumgeredet und das Wort »Autismus« nicht ein einziges Mal erwähnt.

Dementsprechend ist es natürlich auch nicht verwunderlich, dass Autismus ursprünglich als eine sehr seltene Störung betrachtet wurde. Die neuen Erkenntnisse, die in den letzten 30 Jahren gewonnen wurden und die mit der erstmaligen Prägung des Begriffs »Asperger-Syndrom« ihren Anfang nahmen, haben auch zu einer völlig neuen Bewertung der Häufigkeit (Prävalenz) von Autismus geführt.

Noch Anfang der 1980er Jahre galt Autismus als eine sehr seltene Störung mit einem Vorkommen von 1:2.500. 26 Jahre später machte eine englische Kinderärztin eine breit angelegte Prävalenz-Studie an über 50.000 Kindern und kam auf eine Häufigkeit von 1:100 (Baird et al. 2006).

Innerhalb von knapp 30 Jahren hat sich also der Begriff »Autismus« grundlegend gewandelt, von einer seltenen, klar abgrenzbaren »Krankheit« zu einem breiten Spektrum verschiedener Störungen, die insgesamt 25 Mal häufiger sind als die mit dem ursprünglichen Begriff bezeichnete Diagnose!

Es muss hier angefügt werden, dass diese Entwicklung insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht unumstritten ist. Es gibt hier Widerstand, die neuen Erkenntnisse, die fast ausschließlich auf die äußerst vielfältige und lebendige Forschung im englischsprachigen Raum zurückzuführen sind, zu akzeptieren. Es gibt die Traditionalisten, man könnte sie auch »Kannerianer« nennen, die Autismus möglichst eng fassen wollen.

Als Beispiel möchte ich hier wieder eine persönliche Erfahrung beiziehen: Eine in meiner geographischen Region einflussreiche Fachperson hat mir gegenüber erwähnt, die wachsenden Prävalenzzahlen zum Autismus würden ihn »mit großer Sorge« erfüllen. Die Sorge bestehe darin, dass bei stark steigenden Diagnosezahlen im Bereich Autismus den Kindern mit Frühkindlichem Autismus, welche intensive (und damit auch kostenintensive) Hilfe brauchen, schlussendlich nicht die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt würden. Diese Sichtweise halte ich für falsch und unbegründet. Die wachsenden Prävalenzzahlen sind ja darauf zurückzuführen, dass auch jene Kinder diagnostisch miteinbezogen werden, die weniger stark beeinträchtigt sind und die keine intensive frühe Förderung benötigen, im Gegenteil: Diese Kinder brauchen keine kostenintensiven Therapien, sie brauchen in erster Linie Verständnis.

Dennoch ist eine Autismus-Diagnose bei vergleichsweise wenig beeinträchtigten Kindern ebenfalls sehr wichtig, weil sie eine entscheidende Grundlage für hilfreiche pädagogische Richtlinien (sowohl zu Hause wie in der Schule) sowie für gezielte anderweitige Maßnahmen (Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik, Psychotherapie) darstellt. Alle diese Maßnahmen betreffen eher die mittlere und spätere Kindheit und stehen in keiner Weise in Konkurrenz mit intensiven frühen Interventionsprogrammen, die Kinder mit Frühkindlichem Autismus benötigen.

Die Auseinandersetzung um die Definition und Häufigkeit von Autismus hat allerdings noch eine andere, sehr weitreichende Bedeutung. Es geht nämlich nicht nur um die Frage, ob Kanner oder ob Asperger »Recht hatte« oder wie häufig Autismus nun wirklich ist, sondern es geht auch um etwas viel Grundsätzlicheres. Es geht schlussendlich auch um die Frage, wie überhaupt psychische Störungen entstehen. Zeitgleich mit der Autismus-Debatte hat in den letzten 30 Jahren nämlich noch eine andere Veränderung stattgefunden, die ich aus eigener Sicht illustrieren möchte.

Als ich anfangs der 1980er Jahre mit meiner kinder- und jugendpsychiatrischen Ausbildung begann, standen sich verschiedene Psychotherapiemethoden im Wettstreit gegenüber: Psychoanalyse, humanistische Psychologie, Systemische Familientherapie usw., um nur die wichtigsten zu nennen. Psychische Störungen wurden von diesen Schulen fast ausschließlich psychodynamisch oder – neu – familiendynamisch/systemisch erklärt. Von neurobiologischen Theorien wollten viele Fachleute nichts wissen. Wenn also z. B. ein Kind ins Bett nässte oder stotterte, dann wurde von den psychodynamisch orientierten Therapeuten nach belastenden Ereignissen in der persönlichen Vorgeschichte des Kindes gesucht. Und die Familientherapeuten auf der anderen Seite fanden mit Sicherheit irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen Vater und Mutter, welche als Ursache für die Auffälligkeiten des Kindes herhalten mussten....

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