China Girl - Neal Careys zweiter Fall

China Girl - Neal Careys zweiter Fall

von: Don Winslow

Suhrkamp, 2015

ISBN: 9783518740033

Sprache: Deutsch

441 Seiten, Download: 1380 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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China Girl - Neal Careys zweiter Fall



1


Graham sah erbärmlich aus, wie er dort stand. Der Regen tropfte von der Kapuze seines Regenmantels auf seine schlammverkrusteten Schuhe. Er stellte seinen kleinen Koffer in eine Pfütze und wischte sich mit seiner künstlichen rechten Hand das Wasser von der Nase, schaffte es dabei sogar noch, Neal sein ganz besonderes Joe-Graham-Grinsen zu schenken, gleichermaßen boshaft wie schelmisch.

»Freust du dich nicht?«, fragte er.

»Bin ganz außer mir.«

Neal hatte ihn nicht mehr gesehen, seit Graham ihm im August am Logan Airport in Boston ein einfaches Flugticket und einen Scheck über zehntausend Pfund mit dem Befehl überreicht hatte, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. In den Staaten waren ein paar Leute offenbar stinksauer. Neal hatte ihm die Hälfte des Geldes wiedergegeben, war nach London geflogen, hatte den Rest auf der Bank deponiert und sich in das Cottage verzogen.

»Was ist los?«, fragte Graham. »Hast du Damenbesuch, oder darf ich reinkommen?«

»Komm rein.«

Graham schob sich an Neal vorbei ins Haus. Joe Graham, triefende einmeterdreiundsechzig voller Hinterlist und Tücke, hatte Neal Carey praktisch von Kindheit an aufgezogen. Er schlüpfte aus seinem Regenmantel und schüttelte ihn aus. Dann fand er einen behelfsmäßigen Schrank, schob Neals Klamotten beiseite und hängte seinen Mantel hinein. Er trug einen knallblauen Anzug mit orangebraunem Hemd und weinroter Krawatte. Aus seinem Jackett zog er ein Taschentuch, wischte Neals Stuhl ab und setzte sich.

»Danke für deine zahlreichen Karten und Briefe«, sagte er.

»Du hast gesagt, ich soll verschwinden.«

»Was man so sagt.«

»Du hast doch gewusst, wo ich bin.«

»Wir wissen immer, wo du bist, Sohn.«

Wieder Grinsen.

Hat sich in den sieben Monaten kaum verändert, dachte Neal. Seine blauen Augen waren immer noch hellwach, sein strohblondes Haar höchstens ein klein bisschen dünner. Das Koboldgesicht sah immer noch aus, als würde es unter einem Fliegenpilz hervorlugen. Und er war jederzeit bereit, einem zu zeigen, wo der Eimer Scheiße am Ende des Regenbogens stand.

»Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen, Graham?«, fragte Neal.

»Keine Ahnung. Hab ich dich gestört?«

Er machte eine obszöne Geste mit seiner schweren Gummihand, die er stets halb geschlossen hielt. Damit bekam er so gut wie alles hin. Fast alles. Neal erinnerte sich, dass Graham sich einmal die linke Hand bei einer Prügelei gebrochen hatte. »Wenn du pissen musst«, hatte Graham gesagt, »weißt du, wer deine wahren Freunde sind.« Neal war einer davon.

Graham sah sich übertrieben demonstrativ um, obwohl Neal wusste, dass er in den wenigen Sekunden, die er gebraucht hatte, um seinen Mantel aufzuhängen, längst jedes Detail registriert hatte.

»Schön hast du’s hier«, sagte Graham mit ironischem Unterton.

»Für mich genau richtig.«

»Da hast du allerdings auch wieder recht.«

»Kaffee?«

»Gibt’s denn einen sauberen Becher?«

Neal ging in die kleine Küche und kam mit einem Becher wieder, den er Graham in den Schoß warf. Graham nahm ihn unter die Lupe.

»Vielleicht können wir ja irgendwohin gehen«, sagte er.

»Vielleicht können wir auch das ganze Theater lassen, und du erzählst mir, was du hier willst.«

»Wird Zeit, dass du wieder arbeitest.«

Neal zeigte auf die Bücherstapel vor und neben dem Kamin.

»Ich arbeite.«

»Ich meine richtige Arbeit.«

Neal lauschte dem Regen auf dem Reetdach. Seltsam, dachte er, dass er das hören konnte, Grahams Klopfen an der Tür vorhin aber nicht erkannt hatte. Graham hatte mit seiner harten Gummihand geklopft, weil er den Koffer in der rechten trug. Neal Carey war nicht in Form und wusste es.

Außerdem wusste er, dass es keinen Sinn hatte, Graham zu erklären, dass die Bücher auf dem Boden »richtige Arbeit« waren, also versuchte er es anders.

»Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, war ich ›suspendiert‹, schon vergessen?«

»Hast eine Abkühlung gebraucht.«

»Und jetzt bin ich kühl genug?«

»Kalt wie Eis.«

Ja, dachte Neal, genau. Eis. Steinhart, schmilzt aber schnell. Beim letzten Auftrag hätte man mich beinahe für immer kaltgemacht.

»Ich weiß nicht, Dad«, sagte Neal. »Ich glaube, ich hab mich zur Ruhe gesetzt.«

»Du bist vierundzwanzig.«

»Du weißt, wie ich das meine.«

Graham fing an zu lachen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er sah aus wie ein irischer Buddha ohne Bauch.

»Das Geld hast du noch, jedenfalls das meiste, oder? Wie lange kannst du davon leben?«

»Lange.«

»Wer hat dir beigebracht, so gut mit Geld zu haushalten?«

»Du.«

Du hast mir noch viel mehr beigebracht, dachte Neal. Wie man eine Zielperson verfolgt, ohne erkannt zu werden, wie man in eine Wohnung einsteigt, einen verschlossenen Aktenschrank öffnet und einen Raum durchsucht. Außerdem, wie man drei einfache, preiswerte Mahlzeiten pro Tag zubereitet, seine Wohnung in Ordnung hält und Selbstachtung wahrt. Einfach alles, was ein privater Ermittler draufhaben muss.

Neal war zehn Jahre alt gewesen, als er Graham zum ersten Mal begegnet war. Er hatte versucht, ihn zu beklauen, und sich dabei erwischen lassen. Danach fing er an, für ihn zu arbeiten. Neals Mutter ging auf den Strich, und seinen Vater hatte er nie gekannt, um Neals Selbstwertgefühl war es also nicht zum Besten bestellt. Er hatte kein Geld, nichts zu essen und keine Ahnung, was er eigentlich machen sollte. Joe Graham schaffte Abhilfe.

»Gern geschehen«, sagte Graham und riss Neal aus seiner Versunkenheit.

»Danke«, sagte Neal und kam sich undankbar vor, was Graham exakt so beabsichtigt hatte. Joe Graham war ein Talent allererster Güte.

»Ich meine, du willst doch an deine arschige Uni zurück, oder?«, fragte Graham.

Wahrscheinlich hat er längst schon wieder mit meinem Prof gesprochen, dachte Neal. Joe Graham stellte selten Fragen, deren Antworten er nicht kannte.

»Hast du mit Dr. Boskin gesprochen?«, fragte Neal.

Graham nickte vergnügt.

»Und?«

»Und er sagt dasselbe wie wir: ›Komm nach Hause, dir wird alles verziehen.‹«

Verziehen?!, dachte Neal. Ich hab getan, worum ihr mich gebeten habt. Für meine Mühen wurde ich mit einem Packen Geld und einer Fahrkarte ins Exil belohnt. Letzteres kommt mir gelegen, vielen Dank. Hat mich ja auch nur die Liebe meines Lebens und ein Jahr meiner Ausbildung gekostet. Aber Diane hätte mich sowieso verlassen, und ich brauchte Zeit für die Forschung.

Graham wollte ihn nicht allzu ausführlich nachdenken lassen, also sagte er: »Du kannst nicht ewig leben wie ein Molch, hab ich recht?«

»Wie ein Mönch, meinst du?«

»Ich weiß schon, was ich meine.«

Genau genommen, dachte Neal, könnte ich sehr gut ewig wie ein Mönch leben und dabei sehr glücklich sein.

Das stimmte. Neal hatte einige Zeit gebraucht, um sich an dieses Leben zu gewöhnen, aber jetzt machte es ihm Spaß, das Wasser selbst zu pumpen, auf dem Herd heiß zu machen, und sich dann draußen in eine lauwarme Wanne zu legen. Er war glücklich mit seinen Einkaufsausflügen runter ins Dorf, zweimal die Woche ein schnelles Bier trinken und vielleicht noch eine Partie Darts, auch wenn er meistens verlor, anschließend die Vorräte den Berg raufschleppen.

Sein Tagesablauf veränderte sich kaum, und das gefiel ihm. Er stand in der Dämmerung auf, setzte Kaffee auf und badete. Dann machte er es sich draußen mit dem ersten Becher bequem und betrachtete den Sonnenaufgang. Anschließend ging er zum Frühstücken rein – Toast, dazu zwei beidseitig gebratene Eier – und las bis zum Mittagessen − meist gab es Käse, Brot und Obst. Am Nachmittag wanderte er zur anderen Seite des Moors und widmete sich dann wieder seinen Büchern. Hardin und sein Hund tauchten meist gegen vier bei ihm auf, und zu dritt tranken sie jeder einen Schluck Whisky, der Schäfer und sein Schäferhund litten beide an leichten Gelenkschmerzen. Nach ungefähr einer Stunde war Hardin mit seinen Geschichten am Ende, und Neal sah noch einmal die Notizen durch, die er den Tag über gemacht hatte, dann warf er den Generator an. Anschließend machte er sich eine Dose Suppe oder einen Eintopf heiß, las noch ein bisschen und ging zu Bett.

Einsam, aber das kam ihm entgegen. Er machte Fortschritte mit seiner Masterarbeit, die er vorher immer wieder auf die lange Bank geschoben hatte, und eigentlich gefiel ihm das Alleinsein sehr gut. Schon möglich, dass er das Leben eines Mönchs führte, aber vielleicht war er ja einer.

Klar, Graham, ich könnte ewig so weitermachen, dachte er.

Und fragte stattdessen: »Was ist das für ein Job?«

»Irgendeine Hühnerkacke.«

»Klar, und du bist wegen irgendeiner Hühnerkacke extra von New York hierhergeflogen.«

Graham liebte das. Seine dreckige irische Visage strahlte wie das Gesicht eines Engels, dem Gott höchstpersönlich auf die Schulter klopft.

»Nein, Sohn, es geht wirklich um Hühnerkacke.«

In diesem Augenblick machte Neal seinen nächsten großen Fehler: Er glaubte ihm.

Graham öffnete seinen Koffer und nahm einen dicken Aktenordner heraus. Reichte ihn Neal.

»Darf ich vorstellen? Dr. Robert Pendleton.«

Pendletons Foto sah aus wie für einen internen Firmennewsletter...

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