Das Raunen des Flusses

Das Raunen des Flusses

von: Oscar Peer

Limmat Verlag, 2015

ISBN: 9783038550167

Sprache: Deutsch

300 Seiten, Download: 865 KB

 
Format:  EPUB

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Das Raunen des Flusses



Carolina, ein Prolog


Den ersten Wohnort meines Lebens hatte ich schon seit langem nicht mehr gesehen, hatte auch keinen zwingenden Grund, ihn aufzusuchen nach so viel Jahren. Was tue ich in Carolina? Zu sehen gibt es ja nicht viel in dieser einsamen Gegend – kein Dorf, kein reizendes Engadin, keine Postkartenlandschaft, kein Sils-Maria. Hier haben weder Giacometti noch Segantini ge­malt.

Carolina ist nichts als eine Station der Rhätischen Bahn, fünf Kilometer von Zernez entfernt, fünf von Cinuos-chel, eine Kreuzungsstation mitten im Wald: zwei auf braunem Schotter schimmernde Geleise, vier Serienhäuser für Bahnangestellte, die heute längst weggezogen sind. Ausser einem Alternativen wohnt niemand mehr da, die meisten Züge fahren vorbei ohne zu halten. Irgendwo ein ausgetrockneter Brunnen, am äussersten Ende des Areals ein Materialmagazin, gleich dahinter die Schlucht und der hohe Viadukt. Im Übrigen ringsum Wald, nichts als Wald.

Jemand hat gesagt, es sei nicht gut, an den Ort seiner Kindheit zu­rückzukehren. Vielleicht hatte er recht. Ein Wiedersehen, man weiss es, kann enttäuschen, weil unterdessen so vieles geändert hat, die ­Gegend aussen und die Gegend innen. Die Kindheit, die noch ein ­Ver­­sprechen war, liegt schon weit zurück, eine verdämmernde Traum­welt; und was nachher kam – ein Leben mehr oder weniger frag­­würdig, eine Kette von Widersprüchen, Niederlagen und Versäumnissen, fragmentarisch wie alles. Hat man sich überhaupt gekannt? Weiss man, wer man gewesen ist und wer man hätte sein können?

Mit dem Auto kann man nicht bis Carolina hinauffahren, ich habe es unten parken müssen, bei der Landstrasse, wo eine Steinbrücke über den Inn führt. Die gedeckte Holzbrücke von einst ist verschwunden, doch der schmale Weg über dem Ufer ist noch da. Ir­gendwo geht es über Felsen senkrecht auf den Fluss hinunter. Kein Zaun. Hier nahmen mich die Grossen immer an der Hand. Der Abgrund beeindruckte mich so sehr, dass ich nachts von ihm träum­te: ich fiel aus grosser Höhe in die Tiefe, unten rauschte der Fluss, ich fiel endlos, dachte aber dabei, alles sei vielleicht nur Traum und jemand werde mich schon auffangen. Einmal, wäh­rend ich fiel, hörte ich meine Mutter rufen, worauf ich erwachte. Wenn sich später dieser Fall-Traum wiederholte, wartete ich halb unbewusst auf ihre Stimme.

Ich erreiche die Mündung des Val Tantermozza, steige über den Bach, beziehungsweise über eine Wüste von Steinen und Ge­röll. Ein Pfad führt den Wald hinauf; irgendwo der schwarze Teich, der zerfallene Kalkofen, Föhrenstämme, Erikablumen, Ge­ruch von Harz und Moos. Oben das Pfeifen eines nahenden Zu­ges, man sieht ihn über den Viadukt kommen und wieder verschwinden. Dabei ein Gefühl des Déjà-vu, wie eine exakte Wie­derholung aus der Kindheit, jedoch ohne Emotion. Empfindungen sind nicht abrufbar; das Ma­gische, das erlebte man damals.

Hier endlich die Lichtung, eine planierte Terrasse am Fuss der Bahnböschung. Unser Haus und das der Nachbarn (reichere Leu­te, die hier ihre Sommerferien verbrachten), beide verlassen, Tü­ren und Fensterläden geschlossen, weit und breit kein Mensch, keine Stimme, nichts als Vogelgezwitscher.

Ich setze mich auf die kleine Bank unter dem Vordach. Es herrscht schönes Wetter, ein Vormittag Mitte August. Der von einer Mauer eingefasste Vorplatz scheint kleiner geworden, in meiner Kind­heit war er riesengross. Jetzt, da niemand hier wohnt, wächst überall Gras, kein getretener Platz mehr, kein Holz, kein Scheitstock, keine Axt. Jemand hat neulich gemäht, am Rande mo­dert ein brauner Grashaufen. Vom unteren Boden, wo Mutter ihren Garten hatte, führen ein paar Steinstufen hier herauf. Ich stelle mir vor, wie ich da als Knirps nach oben kletterte – die Haustüre offen, man sieht in den Flur hinein, zuhinterst die Küche, Mamas Silhouette. Hie und da kam sie heraus, um zu schauen, ob ich noch da sei. Manchmal rief sie nach mir, und zwar nicht mit meinem Taufnamen, sondern mit einem spontan von ihr erfundenen «Kini», was der Kopfstimme besser entgegenkam – «Kii­nii!», das hörte man auch von weitem und wurde daher zu meinem eigentlichen Ruf-Namen. Auch die andern nannten mich öfters so, bis ich annahm, dass ich tatsächlich so heisse.

Ich sehe Vater, wie er energisch den Pfad herunter schreitet. Er war Linienarbeiter und Streckenwärter, trug eine Dienstmütze mit Buchstaben dran, oft auch eine blaue, nachthemdähnliche Überziehbluse, die er, weil sie so gross war, hie und da unten aufrollte und am Gürtel befestigte. Er war mittelgross, hatte einen markanten Kopf, dunkles, dichtes und leicht krauses Haar, eine kräftige und gebogene Nase und den forschen Blick des Willensmenschen. Mutter war gleich gross wie er, wirkte aber als Frau grösser, auch korpulenter und stattlicher, was an ihrer Frauenkleidung liegen mochte, vielleicht auch an einer gewissen Vornehmheit ihrer Erscheinung. Auch sie war dunkelhaarig, eine schöne Frau mit blaugrauen Augen und einem offenen Gesicht.

Es war mir nicht gleich, wer von beiden mich auf dem Arm hielt. Bei Mama war mir wohl, ihre Arme waren dick und weich, man fühlte sich darin geborgen; bei Vater störte mich die Härte seiner Hände, oft auch die Bartstoppeln, der Schnauz, die Uhrkette an meinen nackten Füssen.

Morgens und abends hatte er seine Streckenkontrolle. Wenn er gegen Abend wegging, sah man ihn oben über den Viadukt schreiten. Er trug ein Futteral mit den Signalfahnen wie ein Gewehr an der Schulter, in der Hand die Karbidlampe. Mutter nahm mich auf den Arm, öffnete das Fenster und rief huhuu!, worauf er stehen blieb und winkte. Manchmal trug er auch dort seine nachthemdähnliche Überziehbluse, sie flatterte, dabei schien mir, als könnte er auf einmal vom Wind davongetragen werden.

Der Bahnhof auf dem höher gelegenen Trassee ist von hier kaum mehr sichtbar, weil unterdessen an der Böschung Bäume gewachsen sind, ein Dickicht jugendlicher Tannen und Lärchen. Früher sah man oben die beiden Häuser, wo die Kochs und die Müllers wohnten – die Kochs mit zehn, Müllers mit zwölf Kindern. Man sah Holzstapel, einen abgestellten Güter- oder Viehwagen, einen Gartenzaun, eine Wäscheleine mit flatternden Tüchern, Rauch aus einem Kamin.

Im Sommer, dank Farben und Geräuschen, war der Ort noch einigermassen belebt. Ich konnte mit meinen zwei oder drei Altersgenossen spielen, gelegentlich sah man auch Bahnarbeiter. Im Winter war alles verwandelt. Draussen lag Schnee, oft meterhoch, kein Weg mehr, kein Laut, die Tannen, weiss verhangen, schwiegen wie im Mär­chen. Morgens sah man oben die Schüler, die auf den Zug nach Zernez warteten, etwa fünfzehn Knaben und Mädchen, alle mit Schultasche, dickem Pullover und Wollmütze. Man sah Koch, den kleinen Stationsvorstand, wie er die Signalkelle hochhielt, den Lokführer am Fenster seiner Maschine, an den Leitungsdrähten ein violettes Blitzen. Und wenn der Zug vorbei war, wieder Schatten, Frost, Winterstille.

Mittags blieben die Schüler in Zernez. Die Kochs und meine zwei älteren Brüder assen bei Bekannten oder Verwandten; die Müllers, Kinder der grössten der drei Familien, nahmen ihre Mahl­zeit am Bahnhof ein, und zwar im Güter­schup­pen. Ihre Mutter übergab dem Zugsschaffner einen Korb mit dem Essen, in Zernez nahm ihn der Stationsvorstand in Empfang und behielt ihn in seinem warmen Bü­­ro, bis sich mittags die Schar meldete. Der geheizte Warteraum kam als Esslokal leider nicht in Frage, und so blieb ihnen nur der kalte Schuppen.

Hier zuoberst am Hang das Materialmagazin, ein kleiner Holzbau mit rostigem Blechdach, in dem die Eltern damals den Fremden übernachten liessen. Eines Abends spät klopfte jemand ans Fenster, sie gingen hinaus, vor der Türe stand ein zerlumpter Mann, braunhäutig und kraushaarig, mit fremdländischem Gesicht. Er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstanden. Nach einigem Zögern liessen sie ihn hereinkommen, Mutter tischte etwas auf, wärmte einen Rest Kaffee. Er schien ausgehungert. Er hatte dicke Lippen, dunkelbraune, fiebrig schimmernde Augen. Vater zeigte ihm, wie man Butter aufs Brot streicht. Er nahm das Butterbrot und ass, sagte dann etwas, das vielleicht «danke» bedeutete. Natürlich keine Rede von Deutsch oder Romanisch, er schüttelte nur den Kopf. Vater versuchte es mit den Überresten seines Sekundarschulfranzösisch, worauf der Fremde immerhin lächel­te, als hätte er so etwas auch schon ge­hört. Seine eigene Sprache klang merkwürdig rau, er versuchte etwas zu erklären, zeichnete dabei mit dem Finger auf den Tisch. Man verstand nur ein paar Namen – Casablanca, Tunis, Italy, Triest –, vielleicht Wegzeichen seiner Reise. Dann fügte er hinzu: «Deserteur – Francia.»

Sie beschlossen, ihn oben im Magazin schlafen zu lassen. Mama hatte zuerst an die Couch in der Stube gedacht, doch Vater wollte nicht – man konnte nie wissen. Da der Fremde nebst einem Hals­tuch nur Lumpen und zerschlissene Sandalen trug, holte man ihm Hosen und Schuhe von Vater. Die Hosen waren ein bisschen zu kurz, worüber er lachen musste. Er hatte blendende Zähne. Es waren Vaters ehemalige Militärhosen, auf die er verzichten konn­te, doch die Schuhe wollte er unbedingt zurückhaben, sie waren noch relativ neu, Bergschuhe mit Gummisohlen; man gab sie dem Mann nur für heute, weil es draussen regnete. Die Eltern versuchten, es ihm mit Zeichen verständlich zu machen. Er nickte. Vater führte ihn die Böschung hinauf, wahrscheinlich hat­te er die Karbidlampe dabei, die er jeweils in den Tunneln brauchte, dazu zwei Wolldecken. Im Magazin zeigte er ihm eine...

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