Das geniale Gedächtnis - Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht

Das geniale Gedächtnis - Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht

von: Hannah Monyer, Martin Gessmann

Knaus, 2015

ISBN: 9783641174019

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3506 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das geniale Gedächtnis - Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht



KAPITEL 1

Die Gedächtnis-Revolution – oder: Wie unser Gedächtnis als Zukunftsplaner den Ereignissen immer schon voraus ist

Stellen Sie sich folgende wundersame Wendung vor: Sie füllen Ihren Kühlschrank mit allem Möglichen, Sie suchen sich ein Kochrezept und öffnen ihn wieder: Nun steht nicht mehr alles so darin, wie Sie es hineingestellt haben, sondern wohlgeordnet und griffbereit, alles passend für das Gericht, das Sie jetzt gleich kochen wollen. Oder nehmen wir an, Sie sind Rechtsanwalt und haben es mit einer dramatischen Wende in Ihrem Fall zu tun. Sie öffnen den Aktenschrank, in dem alle Dokumente und Indizien aufbewahrt sind, und es hat den Anschein, als seien Ihnen fleißige Heinzelmännchen zur Hand gegangen: Alles ist so umsortiert, dass es zur neuen Lage passt. Was zuvor als Dokument der Anklage einsortiert war, taucht nun als Beleg für die Verteidigung auf. Und selbst wenn Sie die einzelnen Blätter aus dem Ordner nehmen, merken Sie, auch hier hat sich etwas getan. Irgendjemand hat sogar die neue Wendung der Dinge bereits eingearbeitet und die fraglichen Abläufe und Inhalte im Licht der neuen Sachlage umgeschrieben. Alles passt in das neue Bild und kann jetzt nahtlos in das Plädoyer eingefügt werden.

So ungefähr müssen sich Neurobiologen gefühlt haben, als sie zum ersten Mal auch nur eine ungefähre Vorstellung bekamen von dem, was unser Gedächtnis in Wahrheit alles zustande bringt. Eigenartige, unerwartete und zuletzt auch wundersame Dinge tun sich da im Verborgenen, und jeder Forscher, der sich der Sache zuwendet, muss sich zuerst einmal vorkommen wie das Kind, das unbedingt wissen will, ob das Licht im Kühlschrank denn wirklich ausgeht, wenn man ihn zumacht. Und die Leidenschaft, mit der Neurobiologen an die Erforschung ihres Gegenstandes gehen, kann man vielleicht noch besser verstehen, wenn man eben nicht nur fragen muss, ob da in unserem Kopf noch Licht (oder besser: Aktivität) ist – beispielsweise, wenn wir schlafen oder vor uns hinträumen. Noch viel spannender wird es, wenn man wissen will, wer die fleißigen Heinzelmännchen sind, die uns so selbstlos und bereitwillig zur Hand gehen, und vor allem, was genau sie dabei alles tun.

Zugegeben, die Namen der Vorgänge und Verfahren, mit denen man versucht, sich einen Zugang zu den verborgenen Aktivitäten zu verschaffen, sind ziemlich nüchtern, manchmal klingen sie auch kryptisch: Neurogenese, Optogenetik, Proteinsynthesehemmer, aber sobald sie in Fachkreisen ausgesprochen werden, beginnen sogleich die Augen zu leuchten, selbst bei jenen, die lange genug dabei sind, um eigentlich schon alles erlebt zu haben. Zu schnell und zu rasant vollziehen sich heute die Fortschritte, und schon bei der Beschreibung der Verfahren finden sich Vokabeln, die sonst nur von Kunstkritikern verwendet werden. Elegant sei jene Form des Eingriffs, anmutig ein Hirnschnitt, der Nervenverbindungen mit der Hilfe fluoreszierender Fasern wie in einem modernen Kunstwerk zum Leuchten bringt; fantastisch oder sogar spektakulär ein Verfahren, das es ermöglicht, ganze Zellverbände im Kopf durch Meditation an- und auszuschalten.

Von solchen Experimenten wollen wir gleich im ersten Kapitel berichten. Und wir wollen versuchen, mit ihrer Hilfe auch einen ersten Fuß in die Tür zu bekommen, was die Eigenarten und Besonderheiten betrifft, mit denen unser Gedächtnis uns tagein tagaus zur Hand geht. So selbstverständlich es uns auch bislang immer erscheinen musste, dass unser Gedächtnis im Grunde nur eine Art Kühlbox ist, in der das Erlernte frisch gehalten wird, oder ein großer Aktenschrank, in dem (hoffentlich) nichts wegkommt, was die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten ans Licht gebracht hat, lässt uns heute staunen und vor allem umdenken. Wir verstehen immer besser, dass unser Gedächtnis eine Art Eigenleben führt – auch wenn wir zuweilen schimpfen, wenn es uns einmal für einen Augenblick im Stich lässt, müssen wir in ihm doch einen großen Helfer erkennen. Und es ist schwer, die Rolle des Gedächtnisses in dieser Hinsicht zu überschätzen. Vermutlich wäre der Mensch nicht das, was er heute ist, wenn es uns nicht im Laufe der Evolution gelungen wäre, eine spezifisch menschliche Form des Behaltens und Erinnerns von Geschehnissen auszubilden. Es scheint vor allem die Flexibilität zu sein, die einen entscheidenden Schritt nach vorn bedeutete in der Menschheitsentwicklung. Gepaart mit einer Art von Klugheit, die unser Gedächtnis zur Grundlage von belastbaren Entscheidungen werden ließ. Mit der neuen Form, mit Geschehnissen umzugehen, sieht der Mensch sich jedenfalls in der Lage, nicht mehr nur den Ereignissen hinterherzulaufen, sondern ihnen immer schon einen Schritt voraus zu sein. Gedächtnis öffnet das Leben und erschließt ihm eine neue Dimension. Gedächtnis, wie wir heute nicht mehr umhin können festzustellen, wird zu einem großen Transformator, der aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht.

Jene beiden Aspekte: einerseits die Flexibilität, also die immer mögliche Veränderung unserer Gedächtnisinhalte, und andererseits die Lebensklugheit, die solche Veränderungen motiviert, wollen wir auf verschiedenen Ebenen der Gedächtnisbildung durchspielen.

Wie wir bei jeder Erinnerung zugleich dazulernen

Wir beginnen dort, wo die Neurobiologie bislang ihre größten Erfolge erzielt hat, nämlich in der Erforschung der kleinsten Bausteine unseres Gedächtnisses. Das erste Experiment wird dementsprechend bei den molekularen Strukturen ansetzen, bei den einzelnen Zellen, ihren Verbindungen und den Umbaumaßnahmen, die nötig sind, um eine Erinnerungsspur zu legen. Und was wir nun vorstellen, mag zuerst einmal erscheinen wie ein Taschenspielertrick: Man steckt etwas in einen Behälter und holt es wieder hervor. Und muss dann erkennen, dass es nicht mehr dasselbe Ding ist, das man hineingesteckt hat. In Gedächtnisangelegenheiten darf man natürlich nicht mit Kaninchen rechnen, die an der Stelle von Tauben aus dem Zauberhut herauskommen, aber das Erstaunen im Vorher-Nachher-Vergleich muss deshalb nicht weniger groß sein. Staunen konnte man auch schon deshalb, weil die Forschungen um das Wiedererinnern von Inhalten im Grunde nur noch eine Formalie zu sein schienen. Man hatte lange Zeit damit verbracht, erst einmal zu verstehen, wie Informationen überhaupt in unser Gedächtnis kommen und dort in der Lage sind, Spuren zu hinterlassen. Dann hat man weitergefragt, wie sich solche Spuren verfestigen und wo sie gelagert werden. Und erst als man meinte, davon hinreichende Kenntnis zu haben, ging es noch darum, genauer hinzuschauen, was beim Wiedererinnern passiert.

Die erste Idee war natürlich, wir gehen einfach den Weg wieder zurück, den wir zuvor gegangen sind. Holen also aus den Lagerbeständen den fraglichen Inhalt und präsentieren ihn von neuem. Stellen ihn ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Aber eben bei der Reaktivierung der Gedächtnisspur, wie man sagt, stellte sich heraus, dass die Dinge nicht so einfach liegen. Denn zuerst einmal wird offenbar das im Gedächtnis gelagerte Paket wieder aufgeschnürt. Aus einer zuvor konsolidierten oder auch stabilen Gedächtnisspur wird wieder eine labile. Das heißt nichts anderes, als dass diese Spur wiederum offen ist für Veränderungen, prinzipiell wenigstens. Dabei kann es also, muss aber nicht unbedingt zu inhaltlichen Veränderungen kommen. Jedoch: Was auch immer geschieht im Zuge der Wiedererinnerung, anschließend wird die veränderte Fassung abgespeichert, und nicht mehr die originale. Sie wurde bei der Neubetrachtung sozusagen überschrieben. Und jedes Mal, wenn wir uns an die vermeintlich selbe Szene oder den scheinbar selben Sachverhalt erinnern, haben wir es tatsächlich nur noch mit Kopien zu tun – Kopien, die sich im Laufe ihrer Fortschreibung durch Wiedererinnerung von der Originalfassung immer mehr unterscheiden können. Jede Neuvorlage bringt die Möglichkeit neuerlicher Veränderung mit sich, die letzte Version ist immer nur die letzte in der Folge einer Reihe vorangegangener Modifikationen.

Manche Romanschriftsteller benutzen für solche Vorgänge die Metapher einer Münze: Durch vieles Anfassen und In-die-Hand nehmen werden Erinnerungen demnach immer ungenauer, die ursprüngliche Prägung verschwindet mit der Zeit. Andere sehen denselben Vorgang nicht als ein Verlustgeschäft, bei ihnen sind Erinnerungen wie Gemälde, bei denen mit jeder Sitzung neue Linien und Farben mit hinzukommen mögen. Und dann kann man noch der Meinung sein, dass sich beide Sichtweisen nicht ausschließen müssen. Je weniger an originaler Prägung noch vorhanden ist, umso größer wird der Spielraum, Neues mit hineinzuarbeiten, hinzuzudichten. Wie wir im Laufe der folgenden Kapitel zeigen wollen, ist alles möglich: vom zunehmenden Vergessen, das sein Extrem in Krankheiten und Gedächtnisverlust findet, bis zur Gedächtnis-Manipulation, die wiederum sogar zum Versuch einer willentlichen und wissentlichen Dokumentenfälschung führen kann – wie sie uns etwa bei Zeugenaussagen vor Gericht dann als unbegreifliche Selbsttäuschung erscheinen mag.

Von Zelle zu Zelle – wie überhaupt eine Verbindung entsteht

Nun zur Neurobiologie und den Experimenten. Man muss sich erst einmal klarmachen, dass so hochkomplexe Dinge wie das Lernen und das Erinnern zuletzt auf der Kombination sehr einfacher Vorgänge beruhen. Ganz am Anfang einer jeden Denkaktivität steht dabei die Verbindung einzelner Zellen. Sie haben Fortsätze, Ausleitungen und Zuleitungen, die weit verzweigt sein können. Eine Zelle ist mit bis zu 10000 anderen Zellen verbunden. Für die Fortleitung von Signalen sind Fasern zuständig, die man nach dem...

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