Der Regenwurm ist immer der Gärtner

Der Regenwurm ist immer der Gärtner

von: Amy Stewart

oekom Verlag, 2015

ISBN: 9783865819406

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 293 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Der Regenwurm ist immer der Gärtner



Darwins Würmer


Es darf bezweifelt werden, dass sich noch viel mehr solcher Tiere finden lassen, die in der Weltgeschichte eine derart wichtige Rolle gespielt haben wie diese einfach organisierten Lebewesen.
Charles Darwin, The Formation of Vegetable Mould, Through the Action of Worms, With Observations on Their Habits, 1881
ALS ICH DAS ERSTE MAL einen Wurm in der Hand hielt, war ich überrascht, wie leicht er war, wie harmlos. Er schlängelte sich nicht herum und versuchte auch nicht, mir zu entkommen. Nein, er lag still zusammengerollt in einem fast perfekten Kreis, als ob er sich bereits in sein Schicksal ergeben hätte.
Der Wurm in meiner Hand war ein Kompostwurm mit dem lateinischen Namen Eisenia fetida. In vielerlei Hinsicht ist er die Quintessenz eines Wurmes, klein und zartrosa, mit zarten Streifen zwischen jedem Segment. Er ist ein Meister im Kompostieren und mag einen Haufen verrottenden Abfalls lieber als alles andere. Wenn man irgendwo in Schweinefutter herumwühlt, in Stalldung oder auch in einem Haufen feuchter Blätter, dann hat man gute Chancen, solche Kompostwürmer zu finden, beim Fressen oder wie sie im »Schmutz« gerade ihre Kokons ablegen. Die Würmer selbst aber sind überhaupt nicht schmutzig; dieser hier war vollkommen sauber, als er aus seinem Abfallhaufen herausgeglitten kam.
Er kam aus meinem Wurmkomposter – einer kleinen Kompostieranlage auf meiner rückwärtigen Veranda, in dem ich meine Küchenabfälle entsorge. Ich weiß nicht, wie viele dieser Würmer es darin gibt – vielleicht zehntausend. Wenn ich darin herumstochere, liegen die Würmer manchmal so dicht aufeinander, dass sie aussehen wie Rinderhack, das sich bewegt, eine Masse sich heftig windender Leiber. Man kann sie sich kaum als Einzelwesen vorstellen; als ich dann aber einen herausholen und auf meine Handfläche legen wollte, schaute ich sie mir da unten doch noch etwas genauer an; ich wollte ja den richtigen auswählen. Ein gutes kräftiges Exemplar arbeitete sich gerade an der Seitenwand der Kiste hoch, als sei er auf Abenteuer aus.
Warum ich mir einen Wurm aussuchte und in die Hand nahm? Weil mir aufgefallen war, dass ich in all den Jahren, die ich Würmer in meinem Kompost hielt, eigentlich kein einziges Mal einen angefasst hatte. Irgendwie seltsam, dass ich eine solche Abneigung dagegen hatte, einen Wurm direkt an meine Haut zu lassen. Wie sollte ich etwas über den dunklen feuchten Ort da unten erfahren, in den meine Pflanzen im Garten ihre Wurzeln trieben, wenn ich nicht bereit war, engeren Kontakt mit einem Regenwurm aufzunehmen?
Ich stupste den Wurm in meiner Hand mit dem Finger an. Er war völlig schlaff. Ich konnte eine violette Ader sehen, die über seine ganze Länge lief, direkt unter der Haut. Dann wölbte ich meine Hand um den Wurm und faltete ihn mehrmals zusammen. Er zeigte keinerlei Reaktion. Langsam fragte ich mich, wie eine derart schwache Kreatur überhaupt irgendetwas fertigbringen konnte, und sei es auch nur, sich durch Erde zu wühlen. Wenige Sekunden später schien er dann von dieser Unternehmung genug zu haben. Er hob das eine Ende hoch – den Kopf vermutlich – und streckte sich in die Luft, ein Segment nach dem anderen. Und jetzt bewegte er sich endlich und hinterließ etwas Schleim auf meiner Hand. Ich schüttelte mich, ließ ihn aber nicht fallen. Dieser Schleim, dieser Wurmauswurf, war seine Art, auf Stress zu reagieren – auf den Stress, den ich ausgelöst hatte, indem ich ihn aus seinem Kompostbett holte und dem Licht aussetzte. Der Wurm bewegte sich zum Rand meiner Hand hin und wendete den Kopf diesmal nach unten Richtung Wurmkomposter, Richtung Heimat. Er wollte jetzt unbedingt nach Hause. In diesem Augenblick machte er den Eindruck, als sei er doch zu eigener Aktivität in der Lage. Er bewegte sich zielgerichtet, im Bestreben, zu entkommen und in seine vertraute Umgebung zurückzukehren. Ich entließ ihn wieder in den Behälter, wo er unter einer Schicht von feuchtem Zeitungspapier abtauchte und verschwand.
Danach nahm ich noch oft Würmer in die Hand – nicht nur aus dem Wurmkomposter. Regelmäßig holte ich vier oder fünf gleichzeitig heraus und erlaubte ihnen, sich zwischen meinen Fingern zu kringeln. Nach und nach hob ich auch Würmer auf, die ich im Garten fand, insbesondere die riesigen Gemeinen Regenwürmer, Lumbricus terrestris, die sich über die ganze Länge meiner Hand ausstreckten. Der Regenwurm drückte sein Schwanzende gern gegen mein Handgelenk, so meine Erfahrung, als suche er dort Bodenhaftung, und streckte dann den Kopf bis über das Ende meines Mittelfingers hoch. An regnerischen Tagen konnte es vorkommen, dass ich so ein halbes Dutzend Regenwürmer zwischen den Fingern hatte. Es ist ein faszinierendes, aber auch irgendwie verstörendes Gefühl, etwas einfach so aus dem Boden zu ziehen und anzustarren, etwas, das hier oben bei uns gar nichts zu suchen hat.
WENN ICH SO AUF EINEM FLECKCHEN Erde stehe und darüber nachdenke, was sich unter meinen Füßen alles abspielt, dann bin ich damit nicht allein. Gärtnerinnen und Gärtner sind von Natur aus neugierig; wir sind Entdecker; wir drehen gerne ein Stück Holz um oder ziehen Pflanzen an den Wurzeln heraus, um zu sehen, was da alles los ist. Die meisten Gärtner, die ich kenne, interessieren sich durchaus für Regenwürmer, so wie ich, für die Arbeit, die sie leisten, wie sie den Boden durchwühlen und neue Erde herstellen. Wir nehmen die Erde in die Hand, drücken sie zusammen, riechen daran wie beim Prüfen einer reifen Melone und lassen sie prüfend durch die Hände rieseln, um zu sehen, was sich darin verbirgt. Fragen Sie nur einmal eine Gärtnerin nach den Regenwürmern in ihrem Garten – ich garantiere Ihnen, dass sie dazu einiges zu sagen weiß.
So ist es eigentlich merkwürdig, dass die meisten Wissenschaftler vor Charles Darwin es nicht für lohnend hielten, sich mit Würmern zu beschäftigen. Im neunzehnten Jahrhundert wusste man ganz wenig über sie. Dann tauchte Darwin auf als eine Art Vorkämpfer in Sachen Würmer und widmete sein letztes Buch einer bis in die letzten Einzelheiten gehenden Untersuchung zu Physiologie und Verhalten der Würmer. The Formation of Vegetable Mould, Through the Action of Worms, With Observations on Their Habits (dt. Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer, mit Beobachtungen zu ihren Gewohnheiten) wurde im Jahr 1881 veröffentlicht. Zu dem Zeitpunkt, als er das Buch schrieb, war er ein alter Mann; das Thema aber hatte ihn schon jahrzehntelang fasziniert.
Wie konnte ein so unbedeutendes Lebewesen die Aufmerksamkeit eines so herausragenden Forschers wie Darwin erregen? Seit seiner Jugendzeit war ihm klar, dass Regenwürmer viel mehr leisten konnten, als die Wissenschaftler ihnen zutrauten. Wie kein anderer Forscher vor ihm hatte er erkannt, dass sie die Fähigkeit besaßen, über Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte hin schrittweise geologische Veränderungen zu bewerkstelligen. Dieser Gedanke – dass nämlich die kleinsten Veränderungen enorme Auswirkungen haben konnten – fügte sich hervorragend in seine Arbeit über Evolution und den Ursprung der Arten ein.
Die Geschichte von Darwin und seinen Würmern beginnt im Jahr 1837, als Darwin noch nicht einmal 30 Jahre alt war. Er war gerade von einer Weltreise auf der Beagle, einem britischen Segelschiff, zurückgekehrt. Man hatte ihn auf die Fahrt eingeladen, weil der Kapitän, Robert FitzRoy, einen Gentleman an Bord zu haben wünschte, der ihm am Kapitänstisch Gesellschaft leistete. Ziel der Schiffsreise war die Küste Südamerikas, wo Darwin reichlich Gelegenheit haben würde, naturwissenschaftlich zu arbeiten, Musterexemplare zu sammeln und seine Beobachtungen aufzuschreiben. Dieser Gelegenheit konnte Darwin nicht widerstehen – er war zu der Zeit gerade dabei, einen Ausweg aus der Karriere zu suchen, die sein Vater für ihn vorgezeichnet hatte, nämlich der eines Pastors in einer Landpfarrei, wo der junge Darwin zwischen seinen Pflichten gegenüber der Gemeinde viel Zeit haben würde, Schmetterlinge und Käfer zu jagen. Für den Mann, der einmal als der Vater der Evolution berühmt werden sollte, war dies nicht gerade der optimale Berufsweg. Um es mit den Worten eines seiner Biografen zu sagen: »Es gab da, unnötig zu erwähnen, ein kleines Problem: seinen Glauben.« Eine Weltreise würde diese lästigen Fragen eine Zeit lang aufschieben, und so willigte sein Vater in die Expedition ein. Als er dann aber an Bord war, wurde Darwin klar, dass dies nicht das idyllische Abenteuer werden würde, das er sich erträumt hatte: Die Mannschaft musste sich ungewöhnlich oft mit gefährlichen Stürmen herumschlagen, auf halbem Weg erlitt der Kapitän eine Art Zusammenbruch, und auch Darwin selbst war oft krank und mutlos. Dennoch war er ununterbrochen am Arbeiten, sammelte Artefakte und machte sich Notizen.
Fünf Jahre war er unterwegs, länger als erwartet, und er kam mit weit mehr neuen Entdeckungen nach Hause, als er sich je hätte träumen lassen. Als er an Land ging, hatte er mehr als zweitausend Seiten Notizbücher bei sich, dazu fünfzehnhundert konservierte Tier- und Pflanzenarten und fast viertausend Häute, Knochen und getrocknete Anschauungsexemplare. Er würde Jahre brauchen, um das alles zu sichten und zu ordnen, und noch länger, um die ganze Bedeutung dessen zu erkennen, was er hier gesammelt hatte; denn genau hier, in dieser Sammlung von Fossilien, Insekten und Vogelskeletten, würde er Schritt für Schritt jene Muster erkennen, die ihn dann auf die Spur einer Theorie der Evolution bringen sollten. Die idyllische Vorstellung eines ländlichen Pfarrhauses war längst vergessen. Darwin hatte sich nun für ein...

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