Im Grenzland - Roman - Ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis

Im Grenzland - Roman - Ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis

von: Sherko Fatah

btb, 2015

ISBN: 9783641187262

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 1265 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Im Grenzland - Roman - Ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis



3


Obwohl es heiß war, zog sich der Schmuggler einen alten Militärmantel über, bevor er seine Reise antrat. Er brauchte die vielen Innentaschen, um das Geld und seine Habseligkeiten darin zu verstauen. Der Mantel war dunkelgrau wie Asphalt und nicht sehr lang. Der Schmuggler stand in der Küche und versuchte, sich auf das Kommende vorzubereiten. Er überprüfte noch einmal den Inhalt aller Taschen, knöpfte die zu, die noch Knöpfe hatten. Danach setzte er sich wieder an den Tisch und beendete sein Frühstück aus Fladenbrot und Schafkäse. Er warf noch drei Würfel Zucker in das halbleere Teeglas, rührte bedächtig um und trank den übersüßten Rest in einem Zug.

Er schnallte sich den großen, leeren Rucksack um. Dann griff er in der Manteltasche nach dem Tütchen Salz, dem Drahtstück und der kleinen Schaufel. Im Glas eines Küchenschranks warf er einen letzten Blick auf den Mantel, dessen dunkle Nähte seinen Körper segmentierten. Er dachte kurz an seine Frau, die diesen Mantel aufgetrieben hatte, als der Krieg zu Ende ging. Und er wußte, daß er nicht fortfahren durfte, an seine Familie zu denken, denn es öffnete den Boden unter ihm; eine Empfindung, die in dieser Stärke völlig neu für ihn war und die er sofort zu vergessen suchte.

Die Straßen hatten sich bereits stark aufgeheizt, Lastenträger und Teejungen drängten an dem Mann vorbei, der bedächtig das Haus verließ, ohne jemandem auf Wiedersehen zu sagen. Er ging die Straße entlang in genau dem Tempo, das er bis weit außerhalb der Stadt beizubehalten vorhatte. Als er die warmen Mauern erreichte, die sich zum Platz vor der Moschee öffneten, sah er kurz auf die Quarzuhr, die er ohne Armband, mehr zum Spaß in der Manteltasche trug. Er berechnete den Weg und stellte zufrieden fest, daß er gegen Spätnachmittag am Fluß sein würde.

Die Stadt um ihn bereitete sich auf die Mittagsruhe vor. Verschleierte Frauen machten einen deutlichen Bogen um den grauen Mann. Er schaute in den Himmel, wie um etwas daran abzulesen, doch außer dem undurchdringlich dichten Blau zeigte er nichts. Dieser Himmel war genau so wie der fast aller anderen Tage, und für den, der unter ihm lebte, lag der Gedanke nahe, daß er unabhängig von der Zeit und ihrem wechselnden Licht bestand.

Der Schmuggler nahm seinen Weg durch die Gassen, dorthin, wo die Stadt abrupt in einer Bauwüste endete. Die Häuser sahen roh und ungefügt aus, ihnen fehlte der Putz, ein paar hundert Meter weiter schon das Dach, und schließlich reckten sich nur noch Gerüste in die Höhe. Wo das Land begann, ging die Straße in trockenes Gras über, das anfangs noch von umherliegenden Gerüstteilen durchschnitten war, bis die ersten Steine auftauchten, unregelmäßig geformt, verstreut, wirkten sie doch ebenso sicher plaziert wie die Häuser, so vertraut, daß der Platz, an dem sie lagen, vorherbestimmt schien. Er sah die Ebene vor sich, den weichen Horizont in der Hitze und dachte unwillkürlich an den Fluß, tastete kurz nach der Wasserflasche unter dem Mantel.

Ungefähr auf halbem Wege über die Ebene traf er auf Soldaten, die er hier nicht erwartet hatte. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren, und er schämte sich dafür. In den Augenblicken, die er brauchte, um ein akzeptables Lächeln zu formen, spielte er alle Möglichkeiten durch. Das Geld reichte für die Grenzsoldaten und alles, was mit den Einkäufen zu tun hatte.

Schon bei der letzten Tour waren ihm Veränderungen aufgefallen. Einmal gab es viel mehr Reifenspuren als früher, und zudem sah er auf dem Rückweg vom Berg, dem höchsten Punkt seiner Reise, Rauch aus einem engen, unbewohnten Tal aufsteigen. Die Reifenspuren stammten wohl von hierher versetzten Soldaten, der Rauch aber konnte völlig andere Besucher der Gegend anzeigen. Die Frage war, ob sie mit oder ohne Duldung der Armee hier waren. Der zweite Fall war der für ihn schlechtere. Als er sich dem Transporter näherte, war er froh, vor diesem Gang seinen Preis erhöht zu haben, denn so blieb ihm eine gewisse Summe für unerwartete Begegnungen.

Es waren drei Soldaten, die ihn erst beachteten, als er vor ihnen stand. Ihre durchgeschwitzten Hemden hatten die Farbe des Sandes und klebten ihnen an den Körpern. Sie waren durch den Mantel des Schmugglers offensichtlich verwirrt, wahrscheinlich hatten sie ihn von ferne für einen Angehörigen der Armee gehalten. Der Lastwagen war mit Motorschaden stehengeblieben, und die Soldaten warteten.

Der Schmuggler sprach einen an, der sich wie ein Tier unter den Wagen gelegt hatte. Der rollte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn in die Hand. Nach den vagen Antworten auf die üblichen Fragen – woher, wohin – ließ der Schmuggler bewußt eine kurze Pause entstehen. Der Gesichtsausdruck des Mannes zwischen den Achsen veränderte sich kaum, doch genug, um die Ahnung aufleuchten zu lassen, was den Schmuggler in diese Gegend trieb. Aus dem Führerhaus sprang der zweite Soldat hinab in den Sand und teilte dem dritten hinter dem Laster mit, daß der Wagen abgeschleppt werden müsse. Der Schmuggler begriff, daß die Sache für ihn günstig stand, da die Soldaten zu sehr mit dem Laster beschäftigt waren, um sich auf ihn zu konzentrieren. Die beiden vorne strich er in Gedanken gleich, sie hatten offensichtlich niedere Ränge. Das Problem war der Mann unter dem Laster, der ihn nicht aus den Augen ließ: wenn er jemanden bezahlen mußte, dann ihn.

Er hockte sich nieder, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und erzählte von dem Rauch oben im Tal. Der Soldat nickte andeutungsweise. Es gebe tatsächlich irgendwelche neuen Leute im Grenzland, sagte er, aber die hielten sich oben im verminten Gebiet auf, fern von den Patrouillen. Gesehen hätten sie sie noch nicht, aber gerochen. Der Soldat lachte kurz, und der Schmuggler nickte lächelnd. Plötzlich startete der Motor, und durch den Laster ging ein Ruck. Sand spritzte auf, der Soldat rollte sich rasch in die Richtung der Bewegung. Der Transporter hatte sich nur ein paar Zentimeter bewegt und stand längst wieder, als der Mann hervorkroch und mit einer Salve von Beschimpfungen auf die beiden anderen losging. Der Schmuggler richtete sich auf, lief um das Heck des Lasters herum und hörte noch, wie sich einer der Soldaten mit dem Hinweis rechtfertigte, daß der Motor wieder laufe, was dem Zornigen jedoch kaum Eindruck machte. Der Schmuggler schritt stur weiter, nicht langsam, nicht schnell. Er war bereit, jeden Moment auf einen Zuruf zu reagieren und umzukehren, ließ es aber darauf ankommen.

Am frühen Nachmittag hatte er die Ebene hinter sich gelassen. In der ansteigenden Hügellandschaft wandte er sich um und sah den Transporter noch immer. Diese neuen Leute, von denen der Soldat gesprochen hatte, machten ihm Sorgen. Aber immerhin, kurz hellte sich seine Stimmung auf, war die Begegnung mit den Dreien zu etwas nütze gewesen. Während seiner Touren durch das immergleiche Gebiet hatte er zu einer Art privatem Aberglauben gefunden. Da ihm sein Weg Schritt für Schritt bekannt war, mußte alles Unerwartete hier einen ihm dienlichen Sinn haben, wenn er sich auch erst hinterher als solcher zeigte. So war er einmal bei den Äckern einem kleinen Jungen begegnet. Das Kind saß wie aufgebaut mit dem Rücken zu ihm am äußersten Rand der Fläche. Er war sofort stehengeblieben, um das Bild ruhig vor sich zu haben; die Hitze, den braunen Boden, die zäh aufgereckten, halbtoten Pflanzen, den unbewegten Himmel und in all dem die kleine Gestalt, die ihn zunächst an die immer wieder am Wege aufgestellten Totems erinnerte. Aber das Kind war lebendig, seine Arme bewegten sich. Es spielte, schob etwas hin und her. Er trat zu ihm. Der Junge erschrak und wich aus. Mit dieser Bewegung war auf seltsame Weise das Auftauchen eines Mannes und einer Frau verbunden. Doch das beachtete der Schmuggler nicht weiter, denn seine Aufmerksamkeit galt dem, womit der Junge gespielt hatte. Es war ein Minensplitter mit scharfer Rißkante und dem Fetzen einer fremdsprachigen Aufschrift. Er hockte sich hin und nahm das Trümmerstück in die Hand. Was immer darauf geschrieben stand, es bedeutete etwas über den konkreten Sinn, gewiß eine Typenbezeichnung, hinaus, denn es konnte einfach kein Zufall sein, daß es ihm an diesem Tag und an diesem Ort durch jenen Jungen unter die Augen kam. Die Schriftzeichen sahen aus wie in schwärzlichen Schmauchspuren verschwindende Strichmuster. Er hielt das Ding ins Licht und versuchte, eine nur an ihn gerichtete Botschaft zu entziffern. Die Leute hinter ihm mußten ihn entweder für einen Spezialisten oder einen Verrückten halten, sie verhielten sich vollkommen still. Noch einmal blickte er auf, um sich ein Bild zu machen. Diese Menschen, Nomaden aus den Bergen, wie er später erfuhr, hielten sich immer am Rand der Felder, die aber bisher nicht vermint waren. Der Junge spielte mit dem Splitter, den er im Feld gefunden hatte. Der Schmuggler folgte mit den Augen seinem üblichen Pfad, der keine fünfzehn Schritte entfernt durch das Feld verlief, und starrte wieder auf die Schriftzeichen oder Nummern. Er erhob sich und ging auf den Jungen zu. Der versteckte sich hinter dem schmalen Mann, in dessen Nähe er sich geflüchtet hatte. Dabei rutschte ihm ein Ärmel der halbzerfetzten Lammfelljacke, die er auf der nackten Haut trug, von der Schulter und schob sich über die Hand. Der Schmuggler fragte in die Richtung des Jungen, wo genau er den Splitter gefunden habe. Der schmale Mann wandte sich halb nach hinten und wiederholte die Frage in einem Dialekt, der in den nördlich gelegenen Tälern gesprochen wurde. Plötzlich kam der Junge hervor, lief rasch an den Feldrand und zeigte auf die Stelle. Dort zeichnete sich tatsächlich die Vertiefung ab, in der der Splitter gelegen haben mußte. Der Schmuggler aber begriff, daß das Feld gepflügt worden war....

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