Fallensteller

Fallensteller

von: Sa?a Stani?i?

Luchterhand Literaturverlag, 2016

ISBN: 9783641157104

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 817 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fallensteller



DIE GROSSE ILLUSION AM SÄGE-, HOLZ- UND HOBELWERK KLINGENREITER IMPORT EXPORT

Als Ferdinand Klingenreiter das Publikum, liebe Freunde, Familie, liebe Kinder, um Ruhe für seine Große Illusion bat, lachten einige, die meisten redeten weiter. Die Mädels vom Stadelmann unterbrachen ihre jauchzende Jagd und wandten sich zur Bühne. Die jüngere – Michaela oder Martina oder sonst ein Name, der für einen Jungen reserviert gewesen war und ein a angehängt bekam – rief schrill und munter durch den Saal: »Mami, wer ist der Opa?«

Klingenreiter winkte ihr zu, so süß wie die aussah, die Zöpfe, das Dirndl, worauf sie erschrocken zur Stadelmännin rannte und deren Arm umarmte. »Das ist doch Freddie, mein Schatz«, erklärte die Mutter, »Freddie … der Famose. Er zaubert uns gleich was.«

Freddie, der Fantastische, wäre korrekt gewesen, aber Klingenreiter machte sich nichts daraus, es war ja sein erster Auftritt überhaupt, wie sollte sich da jemand seinen Bühnennamen schon gemerkt haben?

Insgesamt war es doch etwas leiser geworden im Gemeindesaal, man hörte die Kaffeemaschine glucksen.

Klingenreiter sah zu dem Tisch, an dem Felix saß. Oder vielmehr lag, so tief war der Junge in den Stuhl gesunken, die Hände in den Taschen, der Kopf in der Kapuze, ein Auge unter der Frisur. Was Felix von seinem Körper unsichtbar machen konnte, machte er unsichtbar. Das andere Auge starrte auf die Cola oder auf die Salzstangen im Plastikbecher auf der Plastiktischdecke. Dem Blick des Großonkels begegnete es nicht.

Im Kopf woanders, der Junge. Oder einfach lieber nicht hier.

Ferdinand Klingenreiter machte das nichts aus. Auch in seinem Kopf hatten die Gedanken zeitlebens selten dort Vergnügen gehabt, wo er sie gebraucht hätte, na und? Sind Kirschen und Träume pflücken gegangen, statt Schulaufgaben zu lösen. Merkten sich weder Formeln noch Verse, und sehr schwer nur, wie man die Maschinen richtig bediente. Oder doch, einige Verse schon, welche, die seine Käthe schrieb.

Zaubertricks lernte er dafür mit jener Leichtigkeit, die so groß nur im Nutzlosen stecken konnte.

Im Kopf woanders, im Körper irgendwie auch. Klingenreiter konnte sich immer schon in einer Weise unauffällig verhalten, dass man seine Gegenwart vergaß. Felix hätte ihm dieses Talent neiden können. Diesen Zauber. Brachte aber nicht nur Vorteile. Klingenreiters Eltern hatten in seiner Anwesenheit so heftig gestritten, als wäre er gar nicht da. Das Geschrei ging oft noch weiter, nachdem er sich zu Wort gemeldet hatte. Das waren die einzigen Momente, in denen Klingenreiter sich seinen Bruder nah gewünscht hatte. Wenn Franz da war, ruckelte niemand am Haussegen.

Erst spät, vielleicht überhaupt erst nach Franzens Tod im letzten Jahr, kam es Klingenreiter in den Sinn, dass sein Talent keines zur Unauffälligkeit gewesen war. Es war seinen Eltern, Franz, überhaupt den Leuten schlicht egal, ob er anwesend war oder nicht. Womöglich ist aber auch das ein Talent, Leuten egal sein.

Vielleicht Käthe nicht. Nein, Käthe gewiss nicht, Käthe war er nicht egal gewesen, sie hatte in seiner Anwesenheit immer fröhlich gezwitschert, und man könnte natürlich jetzt sagen, ob mit oder ohne ihn, die Käthe habe so oder so viel gezwitschert, aber das stimmt nicht, Käthe stellte ihrem Mann gelegentlich auch eine Frage, und obwohl sie das vielleicht nur getan hat, um sicherzugehen, dass er zuhörte – indem sie Klingenreiter eine Frage stellte, nahm sie Klingenreiter wahr.

Die Tür sprang auf und in den Saal marschierten Thomas und die Familie, also alle außer Felix. Lisa, die Zwillinge, der kleine Max, ein Fässchen mit Fäustchen im Mund neben dem großen Fass, das sein Vater war.

Einige drehten die Köpfe, ein paar standen auf, um Thomas zu begrüßen, so soll es sein, der Chef trifft ein. Klingenreiter nickte seinem Neffen zu, der eine entschuldigende Geste Richtung Bühne machte und sich zu Felix an den Tisch setzte, was der mit einem Schluck Cola ignorierte.

Der Thomas machte das gut mit dem Sägewerk, das heißt, er war informiert und unnachgiebig. Holte jetzt sogar, am Sonntagnachmittag, einen Stapel Papiere aus seiner Tasche, gewiss für die Arbeit. Klingenreiter wollte fortfahren, da machte sein Neffe eine fragende, kreisende Geste über dem Stapel und zeigte in den Saal, er schien Klingenreiter etwas mitteilen zu wollen, und Klingenreiter zuckte wie zur Erlaubnis mit den Schultern.

Daraufhin ließ Thomas den Stapel herumgehen, »jeder nur eins«, und fast jeder nahm sich ein Blatt oder eine Broschüre, oder was das war, waren ja fast nur Werksarbeiter mit den Familien da. Es raschelte jetzt an jedem Tisch, alle lasen sich das durch. Ganz hinten beim Ausgang saß ein einzelner Mann, der alte Stangl war das, er lehnte den Stapel ab.

Klingenreiter wartete, was sollte er auch tun? Neben ihm seine Kiste. Zwei gelbe Blitze, ein rotes Fragezeichen. Eiche.

Der Stangl, der war ja auch ein Streitgrund gewesen für die Eltern. Dieser Name, in großer Lautstärke ausgesprochen, gehörte zu Klingenreiters frühesten Erinnerungen. Zog sich über Jahre hin, bis Vater ihn irgendwann verjagt hat.

Mutter hatte Stangl gemocht, das war Fakt. Sie duzten sich sogar, aber für mehr war doch das Sägewerk zu klein! Wäre etwas vorgefallen zwischen den beiden, ein Absauggebläse hätte es erfahren und ein Spaltkeil verraten.

Der Stangl müsste näher an hundert als an neunzig sein. Ist aus dem Tal extra heraufgekommen. Mit dem Bus. Hat Klingenreiter sofort gesucht, um ihn zu begrüßen. Das reicht doch, damit alles gut ist, zwischenmenschlich, jemanden suchen, um ihn zu begrüßen. Sonst einen Freund hatte der Stangl hier aber nicht.

Thomas holte sich jetzt einen Kaffee. Klingenreiter wollte darüber fast den Kopf schütteln, aber wie sähe das aus, ein kopfschüttelnder Magier?

Der Gang, der Nacken und immer der Ehrgeiz. Thomas war wie Franz. Wegen zu viel Ehrgeiz hatten Vater und Franz überhaupt ihren einzigen großen Streit gehabt.

Das war, als Franz vom Studium zurückgekommen war mit Ideen. Franz wollte erneuern, wollte investieren, den Laden ›entwurmen‹. Gabelstapler, Blockzüge, mechanische Sortieranlagen.

Davon hat Vater nichts wissen wollen. Nicht, weil er nicht einverstanden gewesen wäre. Ihm gefiel nicht, dass Franz Sätze mit »An deiner Stelle würde ich« anfing. Ihm gefiel der Druck nicht. Schöne und gute Ideen sind schön und gut, aber Vater wollte Franz eine Lektion in Ideenwirtschaft erteilen, und Lektion eins hieß: Ideen gut verpacken.

Am Ende hat man modernisiert, ein wenig rationalisiert auch, aber eben erst als Vater selbst sich die Zeit angeschaut und gesagt hat, reif ist die jetzt.

Die einzigen Ideen, die Klingenreiter hatte, betrafen die Kantine und das Programm bei der Weihnachtsfeier. Ferdinand Klingenreiter liebte das Sägewerk, und er liebte die Unterhaltung, und es hat ihm nichts ausgemacht, ein Leben lang beim eigenen Bruder angestellt zu sein, mochten die Leute doch reden.

Zu einer Sache nur hat er sich geäußert, zu der Sache mit den Holzfässern. Klingenreiter war dagegen, die Herstellung von Fässern aufzugeben, wie Franz es vorgeschlagen hatte, vor allem aus nostalgischen Gründen. All das Bier, das in Klingenreiter-Fässern gelagert wurde! Und in Zukunft weiter gelagert werden könnte! Er wurde laut gegen Franz und Vater, als ginge es um wer weiß was Wichtiges.

Nostalgische Gründe waren in der Familie nie gewichtige Gründe gewesen. Die Nostalgie ist eine Komplizin von Spinnern, keine von Gewinnern. Die Fassproduktion wurde eingestellt, keine Minute zu früh. Der Rückgang des Produktionswerts in den folgenden Jahren fiel gigantisch aus, überall gab es nur noch Aluminium und Kunststoff und anderes herzloses Zeug, und immer mehr Leute tranken Bier aus Flaschen und Dosen, furchtbar.

Käthe, und was Käthe zu ihm sagte:

›Du Kindskopf, du.‹

›Wo bist du wieder, Freddie, du, bleib doch mal bei mir.‹

›Mein Freddie, du.‹

Das hatte er sich gut gemerkt. Viel von dem, was seine Käthe gesagt hat. Seine Gedanken mahnten ihn manchmal mit Käthes Stimme, gängelten ihn, nahmen ihm Entscheidungen ab, denn im Entscheiden war er erbärmlich. Es gab auch mal Tacheles von den Gedanken, leider viel zu selten.

Seine Hände zitterten. Er ballte sie zu Fäusten. Ferdinand Klingenreiter hatte nie viel zu sagen gehabt, und jetzt zitterte er auf der Bühne, während die Leute darauf warteten, dass er etwas sagte. Dabei wusste er und spürte er, dass immer noch allen egal war, was das war, was er sagen würde, Hauptsache, er nahm seine Medizin und ging in der Nacht nicht noch mal auf der Landstraße spazieren.

Vielleicht Felix, vielleicht war es Felix nicht egal.

Seine Kiste lauerte unerschütterlich an seiner Seite. Die beiden Blitze wie Augen. Vielleicht war den Leuten Magie nicht egal.

Klingenreiter räusperte sich, um die sogar jetzt, während er auf einer Bühne stand, davonjagenden Gedanken zurückzurufen, die Boxen räusperten sich schrill mit. Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit.

»Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Kinder.« Klingenreiters Lächeln wurde breiter. Gleich würde er aussprechen, was er ein Leben lang vor einem Publikum hatte aussprechen wollen, und alles, was über vierzig Seelen war, konnte freilich Publikum genannt werden, plus der Kirchenchor hinter der Bühne. Zwei Stunden vor Beginn des offiziellen Programms, für eine Zaubereinlage, nicht schlecht, Herr Specht, dachte Klingenreiter.

Wieder suchte er den Blick seines Großneffen, und diesmal erwischte er einen Zipfel blauer...

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