Heringsmord

Heringsmord

von: Sina Beerwald

Emons Verlag, 2016

ISBN: 9783863589592

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 2966 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Heringsmord



EINS

Heute ist der 6. Juli, der große Tag. Die Rollläden an unserem Reihenendhäusle in Bopfingen sind runtergelassen, und mein Mann packt das Ersparte in den Strumpf und unseren Dackel Gustav samt Spätzlespresse in das Heiligsblechle. Einen Volkswagen T1, den wir uns vor vierundvierzig Jahren zur Hochzeit geschenkt haben und der von meinem Ernst definitiv mehr gehegt und gepflegt wird als unser Eheleben. Zu meinem Leidwesen hat er, also mein Mann, im Alter definitiv mehr Macken ausgebildet als das rote Autoblech.

Eigentlich kann jetzt nix mehr schiefgehen. Eigentlich, denke ich.

Ein eigenes Reetdachhäusle in Kampen – das wäre für uns, Frieda und Ernst Schmälzle aus dem Schwabenland, ein Traum.

Gewesen.

Denn trotz Bausparvertrag hat es leider nur zum Reihenendhäusle in Bopfingen gereicht, in das nun unsere jüngste Tochter zu Weihnachten einziehen wird. Wir wollten zur Rente so gern auf Sylt leben, richtig inmitten der Schönen und Reichen. Aber was soll’s, der Schwabe an sich ist ja genügsam, und ein Hauch von Luxus weht überall auf der Insel, also: Los geht’s zum Kampener Campingplatz! Dort hat mein Ernst bis zum Herbst einen Dauerstellplatz ergattert. Vor Ort müssen wir uns dann noch um eine Überwinterungsmöglichkeit kümmern. Aber kommt Zeit, kommt Rat, es ist ja erst Anfang Juli.

»Hast du die Bibel dabei?«, fragt mich mein Mann, als wir unser Dörfle am östlichsten Zipfel von Baden-Württemberg hinter uns lassen und bei Aalen-Westhausen auf die Autobahn fahren.

Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Ich habe an alles gedacht, wirklich an alles. Aber wie hätte ich ahnen sollen, dass mein Ernst auf seine alten Tage noch zum Kirchgänger wird? Mit dem Thema war er schon als Sechsjähriger durch, nachdem seine Eltern an einem Sonntag bei einem Autounfall ziemlich unbarmherzig ums Leben gekommen waren.

Seine Großmutter, bei der er fortan aufwuchs und die ich, Gott sei’s gedankt, nicht lange als Großschwiegermutter habe ertragen müssen, kommentierte damals dieses für meinen Mann epochale Ereignis, mit dem seine Kindheit ein abruptes Ende nahm, mit den Worten: »Wären deine Eltern am Vormittag in die Kirche gegangen, wie sich das für anständige Leute gehört, wäre der Unfall nicht passiert und sie würden noch leben.«

Von diesem Tag an wollte mein Ernst alles, nur nicht anständig sein und in die Kirche gehen.

So, und wie soll ich meinem Mann nun beibringen, dass ich, ausgerechnet ich, die immer an alles denkt, eben doch nicht an alles gedacht habe?

»Ernst, wie kommst du, um Himmels willen, auf so eine Idee? Ich weiß nicht mal, ob wir eine Bibel besitzen. Höchstens meine Konfirmandenbibel, die muss ich noch irgendwo haben. Wir könnten umdrehen und …«

»Frieda! Ich meine den Berger-Katalog. Die Bibel eines jeden Campers.«

Ich atme erleichtert auf, weil ich das fünfhundertvierzigseitige Einkaufsparadies meines Mannes natürlich nicht vergessen habe. Allerdings bin ich beunruhigt, wenn ich an unseren Sparstrumpf denke. Da wird nämlich bald nichts mehr drin sein, weil mein Ernst garantiert alle zwölftausend Artikel dieses Händlers zum Campen benötigt. Denn wo die Begeisterung für die unnützen, aber doch so praktischen Dinge des Lebens bei meinem Mann anfängt, hört seine schwäbische Tugend auf.

Genau achthundertvierundsiebzig Kilometer auf der A7 nach Norden liegen durch die geteilte Frontscheibe vor uns – und die Straßenkarte liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß. Zur Sicherheit. Denn mein Ernst bringt es noch fertig, sich auf dieser schnurgeraden Strecke zu verfahren. Er ist wie dieser gute Moses, der vierzig Jahre lang durch die Wüste irrte, weil er auch nicht nach dem Weg fragen wollte.

Ich allein darf meinem Mann von der Beifahrerseite aus dezente Richtungshinweise geben – nur ja nicht zu laut oder zu aufgeregt vorgetragen –, und so fungiere ich als sein lebendiges Navi.

Und wenn mein Ernst sich trotzdem mal verfährt, ist das Auto schuld. Ja, richtig, unser T1 ist schuld. Denn nach unserer letzten Fahrt nach Frankreich – genauer: durch Paris – habe ich meinen Mann vor die Wahl gestellt: Entweder er besorgt ein Navigationsgerät oder ich die Scheidungspapiere.

Er zog tatsächlich los und kam nach vier Stunden wieder, allerdings ohne Navi. Dafür mit einem Blumenstrauß. Ich habe ihn vor lauter Schreck gefragt, ob ich zum ersten Mal den Hochzeitstag vergessen hätte. Tatsache war aber, dass mein Ernst es nicht übers Herz gebracht hatte, seinen Bulli mit so einem zwar wirklich nützlichen, aber eben neumodischen Frevel zu verschandeln.

Mein Verständnis siegte über meinen Groll, und so haben wir uns wieder versöhnt. Daher kommt es, dass unser Bulli seither der Sündenbock ist, wenn Ernst sich mal verfährt.

Glückselig lächelnd hält mein Mann das vibrierende Lenkrad umfasst und schaut auf das spartanische Armaturenbrett, das einzig die Geschwindigkeit anzeigt. Selbst das ist eigentlich überflüssig, da es unser Heiligsblechle gerade mal auf achtzig Kilometer pro Stunde bringt und wir kaum Gefahr laufen, eines dieser sündhaft teuren Fotos von einem modernen Wegelagerer zu erhalten.

Die musikalische Untermalung während der nächsten zehn, elf Stunden wird aus dem Heulen des Lüfterrads und dem tiefen Röcheln des Vergasers bestehen – ein Sound, bei dem mein Mann alle Beatles und Rolling Stones dieser Welt vergisst. Ich hätte ja lieber Radio gehört. Dann hätten wir nämlich auch die Verkehrsnachrichten mitbekommen.

Erstaunlicherweise zuckeln wir staufrei an Dinkelsbühl-Fichtenau und Feuchtwangen-West vorbei – Orte, die ich nur aus ebendiesen Meldungen kenne – und hoppeln im Rhythmus der Bodenwellen auf unserem orange-weiß bezogenen Doppelsitz weiter, bis mir zwischen Würzburg und Fulda beim Anblick unseres Dackels Gustav auf der Rückbank klar wird, dass der Erfinder des Wackeldackels wohl auch einen T1 gefahren haben muss.

Noch während ich voller Mitleid für unseren Hund überlege, wie ich meinen Mann zu einer Pause überreden könnte, heißt es vor Kassel: Stopp.

Nein, keine Rast. Stau. Und zwar von einem solchen Ausmaß, dass die Leute weiter vorn bereits ausgestiegen sind.

Hätte uns mal früher jemand sagen können, dass in NRW bereits die Sommerferien angefangen haben? Jetzt wissen wir es.

Während meinem Mann der kalte Schweiß ausbricht, besinne ich mich auf meine hausfraulichen Pflichten, denn es ist ohnehin Zeit fürs Mittagessen. Ich stelle einen großen Topf mit selbst gemachten Maultaschen auf den Gaskocher und den Klapptisch samt Stühlen auf den Grünstreifen neben den Fahrbahnrand. Es dauert nicht lange, bis sich, vom leckeren Duft angelockt, sämtliche Stau-Nachbarn zu uns gesellen und wir eine verschworene Schicksalsgemeinschaft bilden.

Auch Gustav findet dieses Picknick famos, denn für ihn fällt die eine oder andere Maultasche unter den Tisch, die er gierig verschlingt.

Als einer der Männer auf die Idee kommt, nach dem Essen noch ein leckeres Bierchen zu trinken, löst sich glücklicherweise der Stau und damit auch unsere Tischgemeinschaft auf.

* * *

Nach zwölf Stunden kommen wir schließlich in Niebüll an. Noch sind wir auf dem Festland, und der Ortsname klingt nicht gerade vertrauenerweckend, aber für Sylt-Liebhaber ist er ein Zauberwort, um dunkle Wolken aus staugeplagten Gemütern zu vertreiben.

Mir tut jeder Knochen einzeln weh. Obwohl, das stimmt nicht, meinen Hintern spüre ich gar nicht mehr. An der Auto-Verladestation des Sylt-Shuttles weiß ich dann jedoch wieder, warum ich die ganzen Strapazen auf mich genommen habe, auch wenn wir uns jetzt wieder in eine Schlange einreihen müssen. Von Kindesbeinen an und später zusammen mit meinem Mann habe ich mindestens einmal jährlich meinen Urlaub auf diesem wunderschönen Eiland verbracht. Es stimmt schon, was man über die Insel der Kontraste sagt: Entweder man liebt sie, oder man hasst sie.

Dieser herrliche, vom rauen Meer umspülte Sandknust, wo sich Sonne und dunkle Wolken im Minutentakt abwechseln können, hat einen spröden Charme. Er erschließt sich einem nicht auf den ersten Blick – allerdings habe ich mich in meinen Mann damals auch auf den ersten Blick verliebt. Vielleicht hätte ich besser hinschauen sollen. Aber ich war schon immer zu eitel, eine Brille zu tragen.

Dennoch, die Zeit hat uns zusammengeschweißt. Ihn mit seinem Bulli während Tausender Restaurierungsstunden und mich mit dem Putzlappen und den drei Kindern. Zeitweilig habe ich wirklich darüber nachgedacht, an der Garage eine Klingel samt seinem Namen anbringen zu lassen.

Trösten durfte ich mich immer mit einem Blick zum Nachbarn, der mit seinem Motorrad einen noch schlimmeren Fetisch pflegt. Heute Morgen etwa, als mein Mann sich vor unserer Abreise von ihm verabschieden wollte, hat der Herr Nachbar schon in aller Herrgottsfrüh in der Auffahrt mit Zahnseide die Chromteile seiner Harley poliert, wie Ernst mir brühwarm erzählte.

Das hatte ich gar nicht mitbekommen, obwohl mir doch sonst nichts entgeht. Muss wohl gewesen sein, als ich den Gehweg gesaugt habe. Ein gründlicher Abschied von der Kehrwoche musste sein, schließlich hat mich dieses Ritual beinahe ein halbes Jahrhundert lang begleitet. Ebenso wie der Traum, den mein Mann und ich immer gehabt haben: ein Leben auf Sylt. Und nun wird dieser Traum wahr.

»Heiligsblechle aber au, di send jo nemme ganz gscheid. Scho widder a Preiserhöhung. Des mach i ned mit!«, poltert...

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