Das einsame Haus

Das einsame Haus

von: Hannes Nygaard

Emons Verlag, 2016

ISBN: 9783863589646

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 3409 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das einsame Haus



Eins

Weiße Wattetupfer hingen am blauen Himmel. Kumulus, überlegte Christoph, hießen diese dichten und scharf abgegrenzten Wolken, die ein wenig an einen aufquellenden Blumenkohl erinnerten. Dort, wo die Sonne sie bestrahlte, waren sie leuchtend weiß. Gedankenverloren schweifte sein Blick aus dem Fenster über die satte grüne Marsch hinweg, unterbrochen von Feldern, auf denen in wenigen Tagen der Raps blühen und das Auge mit einem unbeschreiblich grellen Gelb nahezu blenden würde. In der Ferne war der Seedeich zu erkennen, der in den letzten Jahren zu einer der sichersten Schutzanlagen an der Nordseeküste verstärkt worden war.

Die sieben Köge seiner Wahlheimat Nordstrand lagen tief, teilweise sogar unter Normalnull. Deshalb hatten die Menschen ihre Häuser früher an die Binnendeiche gebaut, die die Köge abgrenzten. Er wurde oft belächelt, wenn er seine Adresse nannte: England. Nein, war seine Standardantwort, wir haben keine Königin. England stammt von »enges Land«. Genauso wie der Osterkoog, über den er jetzt sah, nichts mit dem hohen christlichen Fest gemein hatte, sondern »östlicher Koog« bedeutete. Nordstrand war seit der Eindeichung des großen Naturschutzgebiets Beltringharder Koog eigentlich eine Halbinsel. Hier fühlte er sich wohl, hier würde er 

»Na?« Anna hatte ihren Arm ausgestreckt und ihre Hand auf seine gelegt. »Träumst du schon von der vielen freien Zeit, die du bald haben wirst?«

Er wollte protestieren, unterdrückte es aber. »Ich freue mich über den wunderbaren Ausblick. Haben wir es nicht gut hier?«

Anna seufzte. »Du. Ich muss noch ein paar Jahre arbeiten.«

»Du musst?«, fragte er vorsichtig.

Sie antwortete nicht. Alle Versuche, sie zu überreden, ihre Tätigkeit als Arzthelferin bei Dr. Hinrichsen im Husumer Schlossgang aufzugeben, waren gescheitert. Auch wenn sie immer wieder über den Stress und die hohe Belastung stöhnte, konnte sie sich ein Leben ohne diese Aufgabe nur schwer vorstellen.

Ihm ging es für sich selbst genauso. Aber für Beamte galt die Pensionsgrenze, insbesondere für Polizeibeamte. Ja, es war wirklich schön hier. Aber es würde eine Umstellung für ihn bedeuten, nicht mehr täglich zur Husumer Polizei fahren zu müssen. Zu müssen? Oder zu dürfen? Es hatte ihn getroffen, als vor einem Jahr Harm Mommsen als Kriminalrat nach Husum zurückgekehrt war und die Leitung der Kriminalpolizeistelle, wie sie etwas umständlich hieß, übernommen hatte; ein Amt, das er zehn Jahre als kommissarischer Leiter innegehabt hatte. Nun sollte es bald vorbei sein. Er hatte es nicht fertiggebracht, mit Anna über seinen Seelenzustand zu sprechen. Derzeit bummelte er seinen letzten Urlaub ab. Christoph empfand es fast als Generalprobe für die Zeit danach. Dann war er Erster Kriminalhauptkommissar a. D.

Anna sah auf die Uhr, dann auf den gedeckten Frühstückstisch.

»Ich muss los«, sagte sie und zeigte auf die Überreste des Morgenmahls. »Räumst du bitte ab? Du hast ja Zeit.«

Christoph nickte versonnen. »Leider«, murmelte er, aber Anna hatte es nicht mehr gehört.

Sie war aufgestanden und kramte ihre Sachen zusammen. Kurz darauf erschien sie wieder, gab ihm einen Kuss und verabschiedete sich. Er begleitete sie zur Tür und sah ihr nach, wie sie in den Golf stieg und Richtung Hauptstraße davonfuhr. Er winkte dem Wagen hinterher und registrierte, dass auch sie kurz den Arm gehoben hatte.

Mit hängenden Schultern kehrte er ins Haus zurück, räumte den Tisch ab, setzte sich ins Wohnzimmer und schlug die Husumer Nachrichten auf. Nach einer Weile registrierte er, dass er den Text gar nicht aufnahm. Ob es anderen Menschen auch so ging? Man sollte sich darüber freuen, wenn man nach einem erfüllten Arbeitsleben Zeit für sich fand. Vielleicht würde sich das Gefühl der Erleichterung noch einstellen, dachte Christoph. Noch spürte er es nicht.

Er legte die Zeitung auf den Tisch zurück und ging ins Arbeitszimmer, das er sich mit Anna teilte. Vorsichtig fuhr seine Hand über die Tischplatte. Der Schreibtisch war fast leer. So würde seiner in der Husumer Polizeidienststelle auch bald aussehen.

Er nahm einen der Zettel zur Hand, die er gemeinsam mit Anna über Excel erstellt hatte. Es waren die Notizen für seine Verabschiedung. Seit Wochen hatten sie daran gesessen, geplant, welche Gäste kommen würden. Dazu gehörten nicht nur Kollegen und Vorgesetzte, mit denen er in den letzten Jahren zusammengearbeitet hatte, auch Offizielle aus der Stadt und der Kreisverwaltung würden anwesend sein. Und die Presse. Anna und er hatten sich Gedanken zum Ablauf und zum Catering gemacht.

»Du wirst ein paar Worte sagen müssen«, hatte Anna ihm erklärt.

Davor fürchtete er sich fast ein wenig. Ebenso über die Reden, die andere über ihn halten würden. Am Abend würden sie sich im kleinen Kreis im »Glücklich am Meer« treffen. Dort würden nur die engsten Kollegen erscheinen. Kollegen? Nein! Christoph schüttelte für sich selbst den Kopf. Sie waren in den Jahren Freunde geworden. Gute Freunde.

Er kam sich ein wenig verloren vor, als er durchs leere Haus ging. Auf der Arbeitsfläche in der Küche fand er einen Zettel mit Annas Handschrift.

»Kannst du Brötchen besorgen? Und Friesenkruste? Es wäre schön, wenn du auch noch etwas zum Abendessen kaufen würdest. Mach dir etwas Schönes zum Mittag. Kuss.«

War das künftig sein Leben? Hausmann?

Gut, beschloss er, dann werde ich die Aufträge ausführen. Zuvor muss ich aber noch zur Sparkasse und Geld abheben.

Vor der Tür wurde er von seinem Nachbarn begrüßt.

»Moin«, rief Hinnerk Leversen und hielt mit dem Fegen inne. »Übst du schon für dein Rentnerdasein?«

Christoph erwiderte den Gruß. »Den Unterschied werde ich kaum bemerken«, erwiderte er. »Ich habe so viel auf meinem Zettel, dass ich froh bin, wenn ich nicht mehr täglich zum Dienst muss.«

»Na. Die Gangster werden sich freuen, wenn du ihnen nicht mehr auf den Fersen bist.«

»Dafür gibt es genug motivierte und erstklassig ausgebildete Kollegen. Die werden es gar nicht merken, wenn ich nicht mehr da bin.«

»Wir freuen uns schon auf deine Abschiedsparty«, rief Leversen und schien ein wenig enttäuscht zu sein, dass Christoph das Gespräch kurz hielt und in seinen Volvo einstieg.

Christoph startete den Motor und ließ das Fahrzeug langsam die Straße entlangrollen. Einige Meter weiter fand in den Sommermonaten dienstags der Wochenmarkt statt, ein beliebter Anlaufpunkt für Urlaubsgäste. Er hob kurz die Hand vom Lenkrad, um einen Einheimischen zu grüßen. Es war hier üblich, jeden, dem man begegnete, mit einem »Moin« zu grüßen oder beim Autofahren kurz die Hand zu heben. Nicht nur das war ihm vertraut, sondern auch die Häuser, Gärten bis zum hölzernen Unterstand an der Straße, an dem Brennholz angeboten wurde, oder der fahrbare Verkaufsstand für Erdbeeren gegenüber.

Links tauchte das Haus mit dem besonders gepflegten Vorgarten auf. Im Sommer hatte der Bewohner oft die Landesflagge am Mast hochgezogen. Kurz darauf hatte Christoph sein erstes Ziel erreicht und parkte direkt vor der Geschäftsstelle der Uthlande-Sparkasse. Er hatte Glück, noch einen freien Platz zu bekommen. Die wenigen Parkmöglichkeiten wurden oft von den Patienten der stark frequentierten Arztpraxis und den Kunden des Friseursalons in Beschlag genommen. Sein Blick fiel kurz auf das Gebäude gegenüber, in dem früher die örtliche Polizeistation untergebracht gewesen war. Heute mussten die Ordnungshüter vom zwanzig Kilometer entfernten Festland anrücken.

Christoph ging zum Geldautomaten im kleinen Vorraum, führte seine Bankcard ein, legitimierte sich durch die Eingabe der PIN-Nummer und hielt gewohnheitsmäßig die linke Hand über die Tastatur. Es dauerte einen Moment, dann begann der Automat zu rattern und spuckte den gewünschten Betrag aus. Aus alter Gewohnheit trug er seine Kredit- und anderen Karten im Portemonnaie mit sich herum. Es war unklug, aber bequem. Nachdem er alles verstaut hatte, wandte er sich zum Ausgang und hatte schon die Tür geöffnet, als ihm einfiel, noch einmal nach einem Termin mit dem Anlageberater des Instituts zu fragen.

Er öffnete die zweite Tür, die in den eigentlichen Raum der kleinen Geschäftsstelle führte. Dorle Hansen, die einzige Angestellte, sah kurz auf, unterbrach ihr Gespräch mit einer älteren Dame, die Christoph vom Ansehen kannte, für ein freundliches »Moin« und setzte dann den Dialog mit der Kundin fort. Unfreiwillig hörte Christoph, wie die beiden über »den ollen Iwersen« sprachen. Im hier noch weitverbreiteten Plattdeutsch wunderte sich die ältere Dame, dass Iwersen trotz seiner enormen gesundheitlichen Beeinträchtigungen immer noch »hinter jedem Rock« her war.

»Mensch, Dorle, der kann kaum noch kriechen, der alte Bock. Seh’n tut er auch nix mehr.« Sie fasste sich an die Stirn. »Da oben ist doch auch nicht mehr all’ns in Ordnung. Aber wenn die Kerle ’nen Rock seh’n, ist die Demenz wie weggeblasen. Ich versteh die Fruunslüd auch nicht. Was woll’n die von dem?« Sie rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Die sind nur hinter sein’ Geld hinterher.« Sie beugte sich vor. »Sag mal, stimmt das, dass er so viel auffe hohe Kante hat?«

Dorle Hansen warf Christoph einen raschen Blick zu. »Du weißt doch, Meta, darüber darf ich nichts sagen.«

»Ich will ja nicht ’nen genauen Betrag wissen. Nur, ob er wirklich was anne Hacken hat.«

Die Sparkassenangestellte sah erneut Christoph an. »Tut mir leid, Meta. Aber ich muss mich um den Kunden kümmern. Bis andernmal.«

Die alte Dame raffte ihre Sachen...

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