Die Heilkraft der Musik - Einführung in die Musiktherapie

Die Heilkraft der Musik - Einführung in die Musiktherapie

von: Werner Kraus

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406690518

Sprache: Deutsch

235 Seiten, Download: 2816 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Mehr zum Inhalt

Die Heilkraft der Musik - Einführung in die Musiktherapie



II.


Wie arbeiten Musiktherapeuten?


 

Geschichte, Methoden und Anwendungsgebiete der Musiktherapie


Von Monika Nöcker-Ribaupierre


 

„Die Musik hat ihre eigene Kraft in sich. Musik ist eine Notwendigkeit für den Menschen, für seinen psychischen, aber auch seinen physischen Zustand. Musik hat Heilkraft für die Seele und den Körper. Musik eliminiert das Ablenkende und das Oberflächliche.“

Rafael Kubelik

Die Geschichte der Musik ist untrennbar mit der Geschichte der Menschheit verbunden. Schon in den Darstellungen, die uns Kulturen der Frühzeit hinterlassen haben, sind Menschen mit Instrumenten zu sehen. Musik gehört von Anbeginn zur lebensnotwendigen kulturellen Umwelt, die sich der Mensch geschaffen hat. Sie steht mit den vielfältigsten Bereichen des Lebens in Verbindung: Musik ist in zeremonielle und kultische Handlungen eingebunden, in Heilungsrituale, in das Arbeitsleben, in die Politik – von der Nationalhymne bis zur Militärmusik – und in den Alltag. Es gibt Musik für bestimmte Lebensbereiche, wie Wiegenlieder oder Freizeitmusik, aktives Musizieren, den Besuch im Konzertsaal, wir erdulden sie als musikalische Reizüberflutung in Kaufhäusern oder Lokalen. Wir benutzen Musik als Stimulanz, zur Beruhigung, als Droge.

Musik begleitet den Menschen von seiner vorgeburtlichen Zeit bis zum Ende seines Lebens. Schon im Mutterleib ist das Kind vielfältigen Geräuschen und Klängen ausgesetzt. Es hört neben lauten akustischen Reizen von außen den mütterlichen Herzschlag viele Millionen Male, die Geräusche des Bauches und die Stimme der Mutter. Das Kind kann diese gleich nach der Geburt wiedererkennen und von anderen Stimmen unterscheiden. Auch dann, wenn ein Mensch nach einem schweren Unfall im Koma liegt oder sterben wird, sind es oft nur noch die Klänge von Musik oder vertrauten Stimmen, die ihn erreichen.

Musik war und ist bei vielen Völkergemeinschaften immer schon eng mit Heilmethoden verbunden – früher und in sogenannten primitiven Kulturen mit Ritualen verknüpft, bei uns heute als Medium in einem therapeutischen Prozeß. Musik besteht aus Rhythmus, Klang, Melodie, Harmonie, Geräuschen und der Stille dazwischen. Diese Anteile stehen zueinander in Beziehung und berühren in ihrer Gesamtheit den Menschen. Dabei vermag Musik tiefste vorgeburtliche und vorsprachliche Schichten anzurühren, Vorstellungen, Bilder und Assoziationen freizusetzen, Gefühle zuzulassen und zu verändern. Die englische Musiktherapeutin Mary Priestley beschreibt dies so: „Musik vermag einerseits seelisches Chaos zu strukturieren und einer dynamisch-lebendigen, geordneten Gestalt zuzuführen, und sie vermag andrerseits, lahmgelegte Energien aus den starren Ketten des Zwanges und der Angst zu befreien und zu neuem Leben zu entbinden.“[1]

Musiktherapie ist ein kommunikatives und interaktives Geschehen. Auf der Basis unterschiedlicher theoretischer Grundlagen und psychotherapeutischer Methoden gibt es verschiedenste Formen von Musiktherapie. Diese stehen im Zusammenhang mit dem jeweiligen Menschenbild des Therapeuten und seinem Verständnis von der Krankheit, der Störung und dem Leid des Patienten sowie dessen Musikverständnis.

Geschichte der Musiktherapie

Die überlieferte Geschichte der Musiktherapie beginnt im Alten Testament mit der Vertreibung des bösen Geistes, der über König Saul gekommen war, durch Davids Lautenspiel (1. Samuel 16, 16). Der Gebrauch von Musik in der Heilkunde wandelt sich mit den kulturellen Veränderungen durch die Jahrhunderte (siehe S. 13ff.).

Ich beschränke mich auf einen Überblick über die neuere Geschichte der Musiktherapie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt, und auf die Methoden, die sich vor allem in den letzten vierzig Jahren in Deutschland entwickelt haben.

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts entstand unter dem Einfluß des Positivismus eine naturwissenschaftliche Psychologie und Medizin, die allein Tatsachen beziehungsweise streng empirische Prüfungsverfahren, „das Positive“, gelten läßt. Sie versuchte, die Wirkung von Musik und ihre mögliche Heilkraft über meßbare vegetative Reaktionen zu erklären. Die körperlichen Reaktionen während des Hörens wurden dabei auf bestimmte Eigenschaften eines Musikstückes wie Dynamik, Rhythmik oder Harmoniefolgen bezogen. Man analysierte Veränderungen in biologischen, chemischen und physiologischen Prozessen, wie beim Pulsschlag, Blutdruck, Sauerstoffverbrauch, Hautwiderstand oder bei der Muskelspannung. In vielen Ländern, vor allem in den USA, kamen diese Ergebnisse in der medizinischen Versorgung zur Anwendung,[2] und es entwickelte sich der heute sehr ausgedehnte Bereich der MusikMedizin. In Deutschland, wo nach dem Zweiten Weltkrieg das Interesse an Musiktherapie wuchs, standen zunächst auch hier die meßbaren körperlichen Reaktionen auf Musik im Vordergrund.

Die MusikMedizin (oder auch: Musik in der Medizin beziehungsweise Musik und Medizin) beruht auf der funktionalen Wirkung von Musik. Sie wurde bis in die siebziger Jahre als die Musiktherapie bezeichnet. Bei der MusikMedizin leitet die Musik den Patienten beziehungsweise wirkt auf ihn, nicht aber der Therapeut als Person. Der Patient hört je nach Indikation entsprechende Musik, liegend, sitzend oder in Bewegung. Die Musik wirkt entspannend, anregend, aktivierend oder beruhigend. Sie wird angestellt und nach der vorgesehenen Zeit wieder abgestellt. Eine psychotherapeutische Begleitung, etwa in Form eines anschließenden Gespräches, gibt es nicht.

Die naturwissenschaftliche Erforschung der Wirkungen von Musik zeitigte aber auch sehr widersprüchliche Ergebnisse. Sie stellte ganz unterschiedliche Reaktionen beim Hören desselben Musikstücks fest. Erklärbar wurde dies erst, als man die gemessenen Daten in Beziehung zur Stimmungslage beziehungsweise zum psychisch-emotionalen Erleben und zur Lebensgeschichte der Probanten setzte. So entstand ein neuer Bereich, die sogenannte Musik-Rezeptionsforschung, die psychotherapeutisches Vorgehen mit den Ergebnissen der funktionalen Wirkung von Musik verband.

Seit den siebziger Jahren entwickelte sich daraus eine erweiterte Sichtweise der Musiktherapie, auf der Grundlage eines ganzheitlichen Menschenbildes im Gesundheitswesen. Der Weg, den die Psychotherapie, ausgehend von Sigmund Freud und C. G. Jung, aufgezeigt hatte, wurde von vielen (nichtmedizinischen) Pionieren der Musiktherapie in ihr Behandlungskonzept übernommen. Der Mensch wird nun als psychosomatische Einheit, als Ganzes, unter Einbeziehung seines persönlichen Lebenskonzeptes gesehen. Der Therapeut achtet auf die emotionale Qualität des individuellen Erlebens bei seinem Patienten während des Musikhörens oder der Improvisation. Er nimmt diese als Grundlage, um mit dem Patienten dessen Biographie zu verstehen und krankmachende Erlebnisse zu bearbeiten.

Diese neue, explizit psychotherapeutische Musiktherapie arbeitet mit den emotionalen Reaktionen von Menschen auf Musik, also mit qualitativen Aussagen: Wie erlebt der Mensch welche Musik, mit welchen Assoziationen und Erinnerungen an Situationen, an bestimmte Zeiten, an Menschen, an Gefühle? Welcher Bezug besteht zu früheren kränkenden oder traumatischen Ereignissen oder auch zu Gefühlen und Stimmungen, die mit guten oder traurigen, präsenten oder halb vergessenen Erinnerungen zusammenhängen.

Aus meiner Sicht vernachlässigte die moderne Musiktherapie zunächst die Musik zugunsten der Zweierbeziehung zwischen Therapeut und Patient. In den neunziger Jahren wird eine Position zwischen diesen Polen eingenommen, zwischen der Qualität der Beziehung von Patient und Therapeut einerseits und der Besonderheit und Kraft des Mediums Musik andererseits.

Was wir heute unter Musiktherapie verstehen, ist angewandte Psychotherapie mit Musik. Sie arbeitet als rezeptive und/oder als aktive therapeutische Methode, mit dem Hören und/oder der Improvisation. Wenn irgend möglich, soll der Patient anschließend das Erlebte in Worte fassen, damit es über das Gespräch verstanden und bearbeitet werden kann.

Die Vereinigung der deutschen musiktherapeutischen Verbände hat sich 1997 in der sogenannten Kasseler Konferenz auf folgende Definition von Musiktherapie geeinigt:

Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Geisteswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik. Der Begriff „Musiktherapie“ ist eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. Musiktherapeutische Methoden folgen gleichberechtigt tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Konzepten.[3]

Methoden und Anwendungsgebiete

Die drei wesentlichen methodischen Richtungen der Musiktherapie sind: die funktionelle Musik, die rezeptive und die aktive Musiktherapie. Die Inhalte der rezeptiven und aktiven Musiktherapie beschreibt Tonius Timmermann im nächsten Beitrag, ich beschränke...

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