Letzte Schicht

Letzte Schicht

von: Dominique Manotti

Argument Verlag GmbH, 2016

ISBN: 9783867549721

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 411 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Letzte Schicht



Zweiter Teil


15. Oktober

Pierre Benoît-Rey steht mit aufgeknöpftem Jackett und den Händen in den Hosentaschen vor dem großen Glasfenster und betrachtet den hell erleuchteten Eiffelturm, ihm direkt gegenüber, wie zum Greifen nah, in einer Linie mit der Terrasse des Palais Chaillot. Warten. An diesem Abend entscheidet die Regierung über die Übernahme von Thomson, das größte französische Rüstungselektronikunternehmen, ein Staatsbetrieb, dessen Privatisierung sie beschlossen hat. Um dieses Großprojekt, von dem die Neustrukturierung, vielleicht gar das Überleben der französischen Rüstungsindustrie abhängt, konkurrieren zwei – und nur zwei – Übernahmekandidaten: Alcatel und Matra. Und Pierre Benoît-Rey leitet das kleine Team, man könnte auch sagen Kommando, das direkt dem Generaldirektor untersteht und von der Alcatel-Spitze damit betraut ist, den Antrag auf Übernahme von Thomson zu stellen und das Projekt zum Erfolg zu führen.

Das Warten dauert an. Benoît-Rey drückt seine Stirn gegen die Scheibe, gegen die Dunkelheit, wie er es schon als Kind getan hat. Feuchte Kälte, das beruhigt. Und er muss jetzt ruhig bleiben. Ein brünetter Engel mit roten Lippen und dem Körper eines 10 000-Meter-Läufers, einem sicheren Geschmack in puncto Kokain und Alkohol, einem scharfen Verstand, der immer in Bewegung ist, manche sagen, zu viel Verstand, vielleicht liegen sie nicht falsch. Man sagt auch, ihm gelinge alles. Das wird man heute Abend ja sehen. In wenigen Minuten heißt es Kapitol oder Tarpejischer Fels, Karriere oder Tod. Leichte Anspannung im Unterleib. Er geht im Geist noch einmal alle Projektdaten durch. Alcatel verkauft seine Dampfkesselanlagen, um sich ganz auf das Elektronikgeschäft zu konzentrieren. Weniger Sparten, mehr Spitzenleistung. Mit dem Geld für die Dampfkessel finanziert Alcatel die Übernahme von Thomson und dessen Rüstungselektronik. Das Unternehmen bündelt die Kompetenzen im Elektronikbereich, schafft Synergien und sorgt für eine Umstrukturierung des gesamten Geschäftszweigs, was ohne die gigantischen Rüstungsgewinne unmöglich wäre. Mithilfe dieses französischen Giganten erschaffen wir gemeinsam mit unseren englischen Partnern, die unsere Dampfkessel gekauft haben (wodurch wir sie nicht ganz aus der Hand geben), einen europäischen Elektronikriesen, der die Amerikaner auf ihrem ureigenen Terrain herausfordern wird. Ein genial konstruiertes Imperium, zum Greifen nah wie der Eiffelturm, und wie er der Traum eines jeden Ingenieurs. Und über alldem ich. Wahrscheinlich als Chefstratege des künftigen Konzerns.

Die Zeit zieht sich. Die drei involvierten Ministerien – Verteidigung, Industrie, Finanzen – unterstützen uns auf ganzer Linie. Auf der Gegenseite Matra, ein Unternehmen, das viermal kleiner ist als der Konzern, den es übernehmen will. Um den Deal zu finanzieren, müssen sie zu faulen Tricks greifen und sich mit einem zweifelhaften Koreaner zusammentun. Der Chef von Matra ist ein Frosch, der sich größer machen will als ein Ochse. Unser Antrag ist hieb- und stichfest: Wie sollte da was schiefgehen? Bald haben wir die Macht über einen international tätigen Konzern. Noch dazu im Rüstungssektor. Die Königsindustrie: Politik, Riesengewinne, Geheimdienste. Erneutes Kribbeln im Unterleib, beinahe schmerzhaft. Alle Register. Ab morgen. Und heute Abend …

Ein Telefon klingelt. Benoît-Rey dreht sich um. In dem Konferenzzimmer, das ihnen als Hauptquartier dient, schlagen vier Männer die Zeit tot, sein komplettes Team, ein paar wenige Worte dann und wann und das zarte Klirren eines Glases gegen eine Whiskyflasche. Die Blicke richten sich auf den Telefonapparat, der am Rand des großen Tisches in der Mitte des Raums steht.

»Die Ehre gebührt dir, Pierre.«

Er hebt ab, hört zu, erstarrt, nickt, legt wortlos wieder auf, setzt sich, schlagartig leer.

»Unser Generaldirektor. Gerade kam der Anruf vom Kabinett des Premierministers. Es ist Matra.«

Eine endlose Minute herrscht Schweigen. Die Männer sehen sich an. Dies ist ihr Scheitern, keine Frage. Sie haben den Auftrag angenommen, sie haben gespielt, sie haben verloren. Ihr erstes Scheitern in dieser Größenordnung.

Rosselini, verantwortlich für die finanzielle Seite des Projekts, Anfang vierzig, sportlich, elegant, Absolvent einer Elitehochschule, dann Finanzinspektor, eine Zeitlang auch im Ministerium tätig, wo er nach wie vor über ein diskretes und effizientes persönliches Netz verfügt, hat in der laufenden Sache die Rolle des Alcatel-Finanzvorstands gespielt, ein Posten, der in ein paar Monaten neu zu besetzen sein wird. Mit gerade mal vierzig Finanzvorstand eines der weltweit größten Industriekonzerne, diese Bestimmung schien ihm in seinen Träumen durchaus angemessen. Nun rutscht er unversehens ins Gewühl der Abteilungsleiter ab und will es nicht wahrhaben. Alain Bentadj, ein junger Ingenieur vom Pariser Polytechnikum, der von Thomson gekommen ist, sich für neue Technologien begeistert und wegen seiner technischen Fähigkeiten, seines Erfindungsgeists und seiner klaren Ausdrucksweise von den Militärs sehr geschätzt wird, hat von einer internationalen Karriere geträumt und findet sich plötzlich unter Wert verkauft. Was soll er bei Alcatel, wenn die Rüstung sich um Matra konzentriert? Er ist doch gerade wegen der Aussicht auf die Thomson-Übernahme zu Alcatel gegangen. Und nun? Den Laden wechseln? Nicht leicht nach so einem Fehlschlag. Und wo soll er auch hin, wenn Matra Marktführer ist? Dort würde er kaum mit offenen Armen empfangen. Frédéric Marion ist Leiter der Kommunikation. Er hat geglaubt, er habe die Sache im Griff, da er alle Ministerialkabinette im Sack hatte, und davon geträumt, gleich nach der Übernahme seine eigene, an Alcatel angelehnte PR-Agentur hochzuziehen. Er fühlt sich wie ein Ballon, den man hat platzen lassen. Roger Valentin, der letzte von ihnen, schon älter, massige Statur, sitzt allein auf dem Sofa und betrachtet sie mit einem unterdrückten Lächeln. Der ehemalige stellvertretende Leiter der Spionageabwehr DST ist jetzt Chef des Sicherheitsdienstes von Alcatel und verdient innerhalb von ein paar Jahren so viel, wie er im öffentlichen Dienst nie verdient hat, hat aber kaum noch Ambitionen und ist nur schwer aus der Ruhe zu bringen.

Rossellini bricht das Schweigen. »Kann man ein bisschen mehr erfahren?«

»Nein. Mehr gibt es nicht. Der Premierminister hat sich für Matra entschieden. Das ist alles. Ganz einfach.«

»Schön. Stellt sich die Frage: Wo kann man zu dieser Jahreszeit Urlaub machen? In den Bergen liegt noch kein Schnee, und am Meer ist es nicht mehr schön.«

»Bleiben die Inseln.« Benoît-Rey greift mit einem schiefen Lächeln zum Telefonhörer. »Ich hatte eigentlich geplant, dass wir bei Joseph schlemmen gehen, um den Sieg zu feiern, ich muss unseren Tisch abbestellen.«

»Nun gut, trinken wir also ein letztes Glas und kehren dann in den Kreis unserer Lieben zurück. Die werden sich erst wieder an uns gewöhnen müssen, nachdem wir hier vier Monate in wilder Ehe zusammengelebt und sie praktisch nicht gesehen haben.«

»Du wirst mir fehlen, mein Süßer.«

»Alain, bist du sicher, dass die wunderschöne Madame Bentadj dich erwartet?«

»Rühr nicht an meinen wunden Punkt. Ich bin überhaupt nicht scharf darauf, unerwartet nach Hause zu kommen.«

»Ein Abend bei Mado und sich einen blasen lassen, bis man nicht mehr weiß, wie man heißt …«

»Klingt schon besser …«

Valentin sitzt immer noch schweigend auf dem Sofa. Wieder klingelt das Telefon. Die Männer sehen sich an. Benoît-Rey sagt: »Schlimmer kann es ja nicht mehr kommen«, und hebt ab.

»Ja, wir sind noch da, Herr Generaldirektor. Ja, auch Valentin.« Dann brummt er etwas, antwortet einsilbig, macht große Augen. »Gut, wir setzen uns gleich dran.« Und legt wieder auf.

»Und, hat der Premierminister es sich anders überlegt?«

Schulterzucken. »Unser Generaldirektor hat mehrere Anrufe erhalten. Zuerst von Prestat.«

»Von wem?«

Schwaches Lächeln. »Sehr witzig. Vom Generaldirektor von Thomson Multimédia, der Unterhaltungselektronik-Tochter. Er schwört, dass schon morgen das gesamte Unternehmen, vom Management bis zu den Hilfsarbeitern, gegen die Matra-Lösung mobil machen wird. Die wollen sie nämlich um keinen Preis, weil Matra sie an Daewoo verramschen wird, seiner Meinung nach absolut kein vertrauenswürdiges Unternehmen.« Pause. »Er spricht von Streik, von Demonstrationen.«

»Kein Schwein interessiert sich für Unterhaltungselektronik. Bei Thomson geht es vor allem um Rüstung, ausschließlich um Rüstung. Wir wussten ja selbst nicht, was wir mit der Unterhaltungselektronik anfangen sollten, auch wir hätten sie nicht behalten, sondern früher oder später an einen Japaner oder einen anderen Koreaner verkauft.«

»Mag sein, aber wir haben das nie laut gesagt. Danach hatte unser Generaldirektor ein sehr langes Gespräch mit einem seiner Kontakte im Finanzministerium. Der Minister billigt die Entscheidung des Premierministers nicht, wird sich ihr aber selbstverständlich beugen.«

»Selbstverständlich.«

»Allem Anschein nach sind die Ministerialräte ganz entschieden gegen die Matra-Lösung. Und die Führungsetagen der anderen Ministerien teilen wohl diese Meinung.« Er hält inne, atmet tief durch. »Ich mache es kurz: Der Minister legt uns nahe, die Entscheidung von heute Abend als nicht endgültig zu betrachten.«

»Er will uns verarschen.«

»Gut möglich, aber das ist nicht die...

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