Frederick - Roman

Frederick - Roman

von: Perikles Monioudis

dtv, 2016

ISBN: 9783423429047

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 818 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Frederick - Roman



1


Ganz hinten bei den Klappstühlen hatte man ihn sitzen heißen, und da saß der kleine Junge auch, er starrte nach vorn auf die Bühne. Frederick tat so, als würde ihn das alles kalt lassen, die freudige Erwartung des Publikums vor jeder Nummer, die Ovationen für die halbnackten Damen, die halbnackten Damen selbst, die Verhöhnung des älteren Tanzpaars, die schlüpfrigen Einlassungen des Direktors, der, ganz Impresario, es sich nicht nehmen ließ, die Nummern selbst anzusagen, um immer gleich von sich zu sprechen. Die Leute im düsteren Saal tobten ob seiner vulgären Gesten – Frederick nicht, er verzog keine Miene. Er wollte damit nicht etwa erwachsen erscheinen, es nahm ohnehin kein Mensch Notiz von dem kleinen Jungen im ausgebeulten Tweedanzug. Es ging Frederick einzig um seine zweieinhalb Jahre ältere Schwester Adele, die sich neben ihm auf dem Klappstuhl vor Lachen kaum mehr halten konnte. Sie weinte Tränen der Verzückung.

So wie seine Schwester mochte er sich unter keinen Umständen geben, nicht einmal hier und jetzt, bei seinem notgedrungen ersten Vaudeville-Besuch. Sein kindlicher Instinkt, ein aufkeimender Stolz ließen ihn Abstand nehmen von dem Geschehen, den feixenden Junggesellen in der ersten Reihe, den älteren Damen an den ihnen vorbehaltenen, mit Telefonen versehenen Tischchen.

Frederick konnte das Klingeln im Lärm des Saals zwar nicht hören, ihm blieb aber nicht verborgen, daß die mit rotem Damast bezogenen Apparate ununterbrochen Anrufe empfingen; manche verfügten über ein gelbes Lämpchen, das bei Anruf aufflackerte. Die älteren Damen schauten sich, den Hörer ans Ohr gedrückt, im Saal um. Frederick folgte ihren Blicken; die Anrufer schwenkten, den Hörer am Ohr, ihr Taschentuch, kurz, aus dem Handgelenk. Die Damen winkten zurück oder legten auf oder taten beides auf einmal, ganz verstand er die Sache nicht.

Peinlich war Frederick nur, daß Adele sich neben ihm vor Lachen krümmte; es brachte ihn auf, denn er fühlte sich verraten. In ihrer kindlichen Ausgelassenheit unterschied sie sich von den anderen Besuchern nicht im geringsten. Gerade deswegen wollte er sie zurechtweisen – wenngleich er wußte, daß sie sich nichts bieten ließ, schon gar nicht von ihrem jüngeren Bruder.

Frederick gab sich weiter unbeteiligt, ließ sich nichts von seiner wachsenden Abscheu anmerken, auch dann nicht, als er über das Gesicht seiner Mutter, die neben Adele saß und ihren Hut auch jetzt nicht abnehmen wollte, ein Lächeln huschen sah. Es focht ihn nicht an. Zumindest wollte Frederick das denken. Er versuchte sich einzureden, daß seine Mutter den Schwindel hier durchschaute und daß es ihr deshalb nicht im Traum einfiele, den Hampelmann von Direktor auf Adele und ihn anzusprechen; denn nichts anderes beabsichtigte Ann.

Im Saal wurde es still, Frederick blickte zur Bühne, wo nun, da das ältere Paar abgetreten war, ein alter Tänzer sich anschickte, seine Nummer zu geben. Schon nach den ersten Drehungen aber wurde er vom Publikum verspottet, mit groben Schmähungen bedacht, alsbald mit Münzen beworfen, worauf er sich unbeeindruckt verneigte und ohne weiteres abtrat. Dem Jungen, dem der Zigarettenrauch im Saal zusetzte, war, als ob ihn der Tänzer vor der Verbeugung angeschaut hätte. Er empfand das als beunruhigend, sowohl die Unklarheit darüber, ob wirklich ihm die Verbeugung gegolten hatte, als auch die Tatsache, daß ihn das peinlich berührte. Weshalb sollte sich jemand vor Frederick verneigen?

Der alte Tänzer, ein fast kahler, hagerer Mann in ausgebeultem Frack, schien ihm auch noch zugelächelt zu haben, bevor er die Bühne verließ. Dem Jungen kam das zumindest so vor, nicht wahr, Frederick? Er wusste vielleicht noch nicht, daß er tatsächlich gemeint war, persönlich gemeint, aber er ahnte sehr wohl schon, was da noch kommen würde von dem Alten da – eine Ahnung von künftigem Unglück, ein Ende mit Schrecken? Dabei war er doch noch ganz am Anfang, Frederick, und es wollte ihm nur gerade vorkommen, als ob dieser abgewrackte Tänzer noch etwas für ihn bereithielte, etwas Großes, Unermessliches; was soll’s werden, Frederick?

Das hier hatte gar nichts mehr mit den Damenkränzchen zu tun, bei denen Adele und Frederick bei Bedarf in bunten Kostümen tanzten und steppten, nichts mit dem kleinen Ballsaal der Alvienne Master School of the Theater and Academy of Cultural Arts, der Tanzschule, in der sie jeden Tag, oft von früh bis spät, Schritte einstudierten, vor den weiten Spiegeln Sprünge übten, gemeinsam mit den anderen, viel älteren Schülern gelegentlich kurze Nummern zur Aufführung brachten – zwei Geschwister, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Adele ließ nichts aus, während ihrem Bruder schon früh eine Distanz zur Welt – zumindest zur Welt seiner Schwester – eignete. Wenn sie tanzten, gaben sie ein seltsames Bild ab, der auch mit Zylinder um einen Kopf kürzere Junge und seine bereits mit dem Spiegel kokettierende Schwester, die ihm nicht nur dieser Unterschiede wegen überlegen war: ihr inneres Feuer schien heller zu brennen.

Ann ließ die beiden üben und wieder üben, wollte so bald wie möglich auf die Zuwendungen von ihrem Gatten Fritz aus dem fernen Omaha verzichten können, sie schien dabei – wie der dem Alkohol zugeneigte Fritz auch – ihre Hoffnungen auf Adele zu setzen. Frederick steuerte seinen Teil dazu bei, damit die Kinder als Tanzpaar und eben als Attraktion durchgehen konnten. Daß Frederick seine freudensprühende, allerdings leicht abzulenkende Schwester bald überflügeln und in der Folge jeden anderen in diesem Genre weit hinter sich lassen würde, konnte Ann nicht ahnen. Wer kann so etwas schon voraussehen? Wer kann sagen, was sein wird? Wer wird den Jungen und dann den jungen Mann hegen und pflegen, auf daß der arrivierte Tänzer seine Reife, seine Vollkommenheit auch wirklich erreiche? Sprich schon, Frederick!

Ann strich den Kragen seines Tweedjacketts glatt. Frederick stand auf, kniff seiner Schwester in die Schulter; zu dritt verließen sie den Saal durch die hintere Tür, folgten in dem stickigen, schwarz angestrichenen Flur den kleinen Messingpfeilen, die zur Künstlergarderobe wiesen. Der Flur entließ sie in einen düsteren Raum, der mit langen Vorhängen in mehrere Kojen gegliedert war. Die Kojen hatte man mit runden Spiegeln und Kleiderschränken versehen.

Vom Trubel im Saal war hier nichts mehr zu spüren. Als hätte alle Künstler eine große Müdigkeit, eine Melancholie angefallen, saßen sie herum, rauchten, zogen gemächlich ihre Straßenkleidung an, dem Showbiz oder dem, was sie und das Publikum dafür hielten, den – nackten – Rücken zugewandt. Ann fragte einen Kleinwüchsigen nach dem Direktor, der sie in seinem Büro sprechen wollte. Die Kinder sollten auf seinen Wunsch hin draußen warten. Ann bestand darauf, wenigstens Adele mitzunehmen. Sie blickte Frederick an, strich wieder den Kragen seines Tweedjacketts glatt und bedeutete ihm, sich in eine leere Koje zu setzen.

Die nackten Glühbirnen rund um den Spiegel blendeten ihn. Er wollte sich nicht ausmalen, was es hieße, an diesen unsäglichen Ort zurückkehren, womöglich immer wieder zurückkehren zu müssen. Allein, setzte er sich auf den Holzstuhl und blätterte im Programmheft. Die Künstler, deren Konterfeis darin in Bleistiftskizzen festgehalten waren, bedrückten ihn. Wenn der eigene Name nicht einmal in einem solchen Varieté zuvorderst steht, weshalb sollte man dann noch auftreten, nicht wahr, Frederick? Oder warst du da noch zu klein, um davon angewidert zu sein?

Den Jungen beengten diese Porträts, auch wenn er selbst bloß ahnte, was es bedeutet, beengt und angewidert zu sein von den Ambitionen der Minderbegabten, die in lächerlichen Shows nur gerade diese ihre Minderbegabung zum Besten gaben. War da etwas Vergnüglicheres, als Dilettanten beim Scheitern zuzusehen? Ja, die Begabten in ihrem Scheitern zu verfolgen, das dann einem wirklichen Scheitern gleichkommt. Dem umfassenden Mißerfolg der Begabten beizuwohnen, der Tragödie, ihrer Tragödie, das ist das Größte. Eine große Begabung zu hegen und zu pflegen – bis zum Ende.

Der Junge hatte bis dahin keine Gelegenheit, die Welt des Showbiz, wie Ann sich ausdrückte, kennenzulernen, geschweige, sich in ihr zu bewegen, seine Wünsche und Hoffnungen, so verborgen sie ihm selbst waren, an dem zu messen, was er gerade eben im Saal gesehen hatte – und jetzt nicht etwa vermißte. Die Nummern wirkten keineswegs in ihm nach; in seiner kleinen, kleinen Seele war das Showbiz noch nicht angekommen.

Er nahm sich, sein Gesicht in dem runden Spiegel betrachtend, vor, über die Geschehnisse auf und vor der Bühne in Ruhe nachzudenken, später, zu Hause, in der kleinen Pensionswohnung, die sie in der Stadt der Städte bezogen hatten, nachdem sie von Vater weggegangen waren. Das war Fredericks Art. Er dachte gern in Ruhe nach, schloß sich dazu in seinem Zimmer ein, worüber er hier, in der ihn nicht etwa beängstigenden, in Momenten wie diesen aber aufwühlenden Metropole, nicht mehr verfügte; auf das Privileg des eigenen Zimmers – im Elternhaus in Omaha, Nebraska, noch eine Selbstverständlichkeit – mußte er hier verzichten.

Frederick war dennoch am liebsten allein, er durfte nachmittags in den nahen kleinen Park, der meistens menschenleer war; wenn er unter Leute mußte, dann bitte vor sie hin, tanzend. Oft genug war sich Frederick sein eigenes Publikum, wenn auch ein tobendes, riesengroßes, und sah sich dabei zu, wie er auf dem Pfad im Park hüpfte, lief, steppte. Er...

Kategorien

Service

Info/Kontakt