Im Land der Verzweiflung - Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete

Im Land der Verzweiflung - Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete

von: Nir Baram

Carl Hanser Verlag München, 2016

ISBN: 9783446252080

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 2337 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Im Land der Verzweiflung - Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete



Prolog


 

 

Ich habe mich auf diese Reise gemacht, um herauszufinden, wie das Land wirklich aussieht, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe und in dem ich (Stand heute) auch bis an mein Lebensende bleiben werde.

Von Kindheit an werden wir mit Bildern, Karten und Zeitungsartikeln über den israelisch-palästinensischen Konflikt bombardiert. Wir lernen etwas über Unrecht und Morden, über die Zustände in Jenin, am Checkpoint Kalandia oder in Ramallah – und sind zumeist erschüttert. Manchmal will mir scheinen, der größte Teil unseres politischen Lebens ist in Erschütterung vergangen. Doch in den letzten Jahren gewinnt man den Eindruck, als seien die Israelis dieser Erschütterung müde, die immer auch mit einem Gefühl der Ohnmacht einhergeht. Oder vielleicht sind sie gerade wegen dieser Ohnmacht der Erschütterung müde. Auf jeden Fall haben sie das Interesse an den Palästinensern verloren. Die meisten Israelis und vielleicht auch die meisten Menschen auf der Welt sind inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass keine Aussicht mehr auf eine Lösung des Konfliktes besteht.

In den letzten Jahren sind Erschütterung, Gleichgültigkeit und Resignation immer mehr zu abgedroschenen Phrasen in der öffentlichen Diskussion in Israel und im Ausland geworden. Es hat den Anschein, als sei alles bereits gesagt. Faszinierend aber ist, dass die überwiegende Mehrheit aller Israelis (und der Menschen auf der Welt) – die schon über den Konflikt reden, solange sie denken können –, keine Ahnung hat, wie das Leben auf der Westbank aussieht, dem Gebiet, das Kern der Auseinandersetzung ist. Die meisten sind noch niemals dort gewesen, andere kennen es aus der Zeit ihres Militärdienstes, der in aller Regel aber schon eine ganze Weile zurückliegt. Inzwischen könnte man meinen, wir reden über einen theoretischen, nebulösen Ort, der in unserer politischen Vorstellung nur vage existiert, so wie über die Bürgerkriegsschauplätze in Syrien oder Kongo.

In den letzten Jahren ist offensichtlich geworden, dass nur wenige von uns heute noch ein umfassendes und genaues Bild von der Westbank und dem Verlauf der Grünen Linie haben. Daher habe ich mich auf diese Reise gemacht. Um so unvoreingenommen wie möglich das Verhältnis zwischen meinen politischen Ansichten und der Realität auf der Westbank zu überprüfen. Ich war sie einfach leid die Diskussion in den Cafés, auf Universitätskongressen oder in Genf, wo über die Okkupation geredet wird, ohne dass jemand tatsächlich eine Antwort auf bestimmte Fragen weiß: Wo verläuft denn nun die Grüne Linie? Und wie sieht es heute in einem Flüchtlingslager aus? Das ganze Jahr über, das ich auf der Westbank zugebracht habe, bin ich immer nach Tel Aviv zurückgekehrt, und habe meinen Freunden hier und anderswo auf der Welt erzählt, was ich gesehen hatte. Die Reaktionen, die ich erntete, schwankten zwischen Erstaunen und Unglauben: Gibt es in Jerusalem wirklich Viertel wie Ras Khamis, mit israelischen Einwohnern, die auf der palästinensischen Seite der Mauer leben? Existieren tatsächlich alle diesen nebulösen, unscharfen Exklaven ohne klare regionale und nationale Kontrolle? Sind die Siedlungen ernsthaft schon über die gesamte Westbank verteilt und nicht nur auf die »Siedlungsblöcke« konzentriert? Palästinenser und Siedler fahren wirklich auf denselben Straßen und stehen in denselben Verkehrsstaus? So viele nichtreligiöse Siedler soll es geben? Nach und nach habe ich verstanden, dass zwischen dem Israel, das ich kenne, und der Westbank nicht nur Checkpoints und Übergänge liegen wie der in Kalandia – sondern vor allem eine Bewusstseinssperre, die zusehends wächst.

Ich bin im Israel der achtziger Jahre aufgewachsen. In jenen Jahren arbeiteten täglich Hunderttausende von Palästinensern von der Westbank in Israel und waren im Straßenbild von Jerusalem, Tel Aviv, Haifa und anderen Städten allgegenwärtig. Seit den Verträgen von Oslo, und verstärkt seit dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Mauer, ist die Trennung zwischen den Palästinensern auf der Westbank und den Israelis immer rigoroser und systematischer geworden. Die Palästinenser scheinen inzwischen von unseren Straßen verschwunden zu sein und die meisten Israelis haben noch nie die Grüne Linie überquert. So kommt es, dass junge, achtzehn Jahre alte Juden, mit denen ich gesprochen habe, in ihrem Leben noch nicht einen einzigen Palästinenser getroffen haben, und gleichaltrige Palästinenser mich fassungslos angeschaut haben, weil ich der erste Jude war, dem sie in ihrem Leben begegnet sind. Aber auch ältere Israelis, die früher Palästinenser von der Westbank gekannt haben, ja mitunter sogar mit ihnen zusammenlebten, haben die alten Bekannten inzwischen schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Im Grunde ist die Westbank in den letzten Jahren in den Augen der meisten Israelis zu einem Reich jenseits der hohen Berge geworden, dem Blick entzogen. Sie wissen, bestimmte Dinge geschehen dort, manchmal reden sie über die Besatzung und die Siedlungen, doch eine Vorstellung, wie die Westbank heute aussieht und wie die Menschen dort leben, haben sie nicht. Auch führen die meisten Israelis politische Diskussionen über die Okkupation, während sie eine Karte aus dem Jahre 1995 oder 2004 vor Augen haben, ohne echten Bezug zu der vor Ort inzwischen herrschenden Realität – mit dem unvermeidlichen Ergebnis, dass die öffentliche Diskussion in Israel von Zombie-Begriffen nur so strotzt. Begriffen, die in der politischen und medialen Diskussion allgegenwärtig sind, aber auf den Straßen der Westbank, in Siedlungen und Flüchtlingslagern oder an Checkpoints, wie man vor Ort schnell feststellt, keinerlei Gültigkeit haben. Und schwierig ist es eben, über eine Lösung zu reden, wenn man keine Ahnung hat, wie der Ort aussieht, über den man spricht.

Zweifelsohne ist die Frage des Territoriums ein schicksalsträchtiges Thema. Aber was ist mit den Menschen, die dort leben? Wir alle reden im Namen von Menschen, wissen, auch ohne die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu kennen, welche politischen Ziele die Palästinenser haben. Auch glauben wir, dass alle Siedler nur die Losungen radikaler Rabbiner nachbeten, weil wir diese im Fernsehen gesehen haben; und dass Menschen wie Abu Mazen oder die Hamasführer oder die Siedlervertreter – alles in allem vielleicht zwei, drei Dutzend Gesichter – tatsächlich die Millionen repräsentierten, die auf der Westbank leben. Zumeist zitieren wir Leute, die unsere Ansichten bestätigen, oder geben wieder, was dubiose Meinungsführer, denen wir nie persönlich begegnet sind, gesagt haben, und greifen uns eine stereotype Figur heraus, mit der wir uns leicht auseinanderzusetzen können.

Auf meiner Reise habe ich das ganze letzte Jahr über mit Hunderten von Menschen gesprochen, Juden und Araber aus allen Schichten und politischen Lagern. Ich habe ihnen zugehört, habe Fragen gestellt, habe sie gebeten, ihr Leben zu schildern, ihre Hoffnungen und Ziele für die Zukunft. Ich habe sie in ihrem Zuhause getroffen, am Arbeitsplatz, am Checkpoint, unterwegs auf der Straße, in ihrer natürlichen Umgebung, und habe mich bemüht, ihre Alltagsnöte kennenzulernen. Zuweilen habe ich Menschen zugehört, die ich immer als politische Feinde betrachtet hatte – Anhänger der Hamas etwa oder Bewohner illegaler Siedlungsaußenposten –, und dabei gelernt, die Geschichte, an die sie glauben, zu akzeptieren, auch ihre Ideen für die Zukunft. Nach und nach habe ich begriffen, dass die uns bekannte Unterteilung in Befürworter und Gegner eines Friedens simplifizierend und wenig nützlich ist. Und dass die komplexe Realität, die auf der Westbank entstanden ist, sich de facto nicht mehr nur durch eine Antwort auf die Frage »Zwei Staaten – ja oder nein?« verstehen lässt. Denn diese Realität setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Auffassungen von Zeit und Raum, einem divergierenden Verständnis der entscheidenden historischen Ereignisse, gegenläufigen religiösen Überzeugungen, Angst vor dem jeweils anderen, tagtäglichen Gewohnheiten, Nöten und ideologischen Grundsätzen. Menschen zuhören heißt, ein komplexeres Weltbild zu riskieren, das manchmal voller Widersprüche sein mag. Es ermöglicht aber auch, in weniger starrer Form über die Zukunft zu sprechen, unterschiedliche Ideen unvoreingenommen zu prüfen und vor allem den Bezug zu verstehen zwischen der eigenen politischen Auffassung und der sich auf der Erde formenden Realität. Zweifellos hatte ich mitunter das Gefühl, dass meine politischen Einstellungen ins Wanken geraten und dass ich nicht immun bin gegen starre Vorstellungen. »Sie müssen lernen, dem Land zu lauschen«, hat mir ein junger Palästinenser im Flüchtlingslager Balata gesagt. »Und ich meine wirklich lauschen.« Dem Land lauschen. Ich habe lange über seine Worte nachgedacht. In seinem spannenden Buch Palestinian Walks zitiert der Schriftsteller und Rechtsanwalt Raja Shehadeh aus den Reiseerinnerungen Aufzeichnungen von Cornhill nach Gross Cairo des großen englischen Romanciers William Makepeace Thackeray, der in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts unter anderem das Westjordanland besuchte: »Entsetzen und Blut, Verbrechen und Strafe füllen Blatt für Blatt in grauenhafter Aufeinanderfolge. Da ist auch nicht ein Plätzchen – wohin das Auge auch blicken mag –, wo nicht irgendeine Gewalttat verübt, ein Blutbad angerichtet, ein Unglücklicher gemordet, einem Idole unter blutigen und furchtbaren Gebräuchen gehuldigt worden wären.«

Es ist ganz wie Thackeray schreibt, ja trifft zweihundert Jahre später noch mehr zu: Auf der Westbank hüllt die Vergangenheit die Landschaft ein, gleißt von jedem Hügel, schleicht sich in jeden Satz, dirigiert alles...

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