Tiere (eBook)

Tiere (eBook)

von: Rafik Schami, Franz Hohler, Monika Helfer, Root Leeb, Michael Köhlmeier, Nata?a Dragni?

ars vivendi, 2016

ISBN: 9783869136950

Sprache: Deutsch

174 Seiten, Download: 979 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

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Tiere (eBook)



 

Die Unbeschwertheit des Himmels

 

Eines Morgens.

Ich erinnere mich noch genau. Eines Morgens, ich war vier Jahre alt, stand ich auf einem Bänkchen vor dem Spiegel im Badezimmer. Grün. Alles war grün. Grasgrün, smaragdgrün. Grün und federweich. Ich neigte den Kopf nach links, nach rechts, die schwarzen Augen folgten, ohne zu blinzeln. Der orangegelbe Schnabel. Ich machte ihn auf, und nichts kam heraus, kein Wort, nur ein Ton, wie bei einer Vogelwasserpfeife. Zu meinem vierten Geburtstag habe ich von meiner Oma eine bekommen. Man pustete in ihren gefächerten Schwanz hinein, und in ihrem Keramikbauch gluckerte das Wasser, und ein Piepsen war zu hören, ein Piepsen, das mich entzückte. Meine Mutter mochte es nicht, zu viel verschüttetes Wasser auf dem Parkettboden. Bald durfte ich nur noch im Freien mit ihr spielen, was ich nicht tat: Ich hatte Angst, sie fallen zu lassen. Ich hatte Angst, sie würde auf dem harten Asphalt vor unserm Wohnhaus zerbrechen. Ich hatte sie auf das Regal neben meinem Bett gestellt und sie vergessen, wie es nur ein vierjähriges Kind kann. Aber jetzt, mich im Spiegel betrachtend, erinnerte ich mich kurz daran, nur wegen dieses merkwürdigen Tons, der aus meinem glitzernden Schnabel kam. Tief und dunkel. Ich breitete die Flügel aus. Meine Brust war rot, ein kräftiges Rot, das mich an das Kleid meiner Mutter denken ließ, das Kleid, das sie noch nie anhatte, das in ihrem Schrank hing und sie angeblich vorwurfsvoll ansah, jedes Mal, wenn sie ihn aufmachte. Ich verstand es nicht. Ich hatte es geprüft, und es war nichts geschehen, absolut gar nichts: Das Kleid hing leblos und augenlos zwischen den anderen Kleidern meiner Mutter, und das Einzige, wodurch es sich von diesen unterschied, war das knallige Rot, so rot, als würde der Schrank brennen. Ich bewegte die Flügel, es fühlte sich leicht an. Ich hob ab, ganz wenig, aber genug, um meinen langen Schwanz zu sehen. Ich drehte eine Pirouette, und er schlug auf das Becken, streifte die Badewanne, blieb fast an der offenen Tür der Waschmaschine hängen. Ich landete wieder sanft auf der Bank, während sich meine Kopfhaare aufstellten, wie eine Haube sahen sie aus. Ich fand es lustig, richtete sie immer wieder auf. Wild sah ich aus, wild, aber nicht gefährlich. Und auch wenn unser Badezimmer vollkommen weiß und ich beinahe vollkommen grün war, fühlte ich mich gut versteckt, außer Gefahr, als könnte mich niemand finden. Mir meine Federn, meine wunderschönen langen Schwanzfedern entreißen. Ich blinzelte ein paarmal und entdeckte die roten Pünktchen in meinen Augen, ich neigte mich über das Waschbecken, kam dem Spiegel näher. Ja, tatsächlich rot. Taubengroß und prächtig, so war ich in dem Augenblick, an dem frühen Nachmittag. Während meine Eltern im Schlafzimmer stritten, der Holzboden knarrte und etwas in die Brüche ging. Aber ich war in Sicherheit, verschwand unter den weißen Fliesen und Kacheln und zwitscherte mal tief, mal schrill, an meine Wasserpfeife denkend. Während meine Mutter weinte, ganz laut und ohne Zurückhaltung, und mein Vater auf die Möbelstücke schlug. Jedenfalls dachte ich, er wäre das, diese dumpfen Schreie des Bettes, der Kommode unter dem Fenster, des Schrankes. Dunkles Holz, das älter war als ich, viel älter, was nicht schwierig war. Ich war erst vier. Erst vier, und schon so schön grün. Erst vier, und schon flügge.

Als ich dann mit sieben Jahren endlich Mein großes Buch der Weltvögel zu Weihnachten bekam, erkannte ich mich sofort, mein Ich von damals. Ich sah mich auf einem hellbraunen Zweig hocken, ein wenig angespannt, kein roter Punkt im Auge, das Grün meiner Federn mit dem Grün des Urwalds verschmolzen. Ein Kammtrogon. Ein Pharomachrus antisianus. Ich wunderte mich nicht. Über nichts wunderte ich mich. Mit vier Jahren schon hatte ich alles selbstverständlich gefunden. Mit sieben Jahren wusste ich dann auch, dass ich alles sein konnte, jeder Vogel. Alle Vögel der Welt waren bei mir zu Hause. Und mein Zuhause war der Himmel.

Mit meinen vier Jahren wunderte es mich aber auch nicht, dass niemand sich über mein Aussehen wunderte. Über meine Unfähigkeit zu sprechen, mein buntes Gefieder. Alles war wie immer. Nachdem zuerst meine Mutter das Schlafzimmer verlassen hatte und ohne anzuklopfen ins Badezimmer hereingestürmt war, und kurz danach auch mein Vater. Wir standen alle drei in dem kleinen weißen Raum und taten so, als würden wir einander nicht bemerken oder als wäre alles ganz normal, die geröteten, verheulten Augen, die strähnigen, zerzogenen Haare meiner Mutter; und das blasse, fast weiße Gesicht, die roten zerkratzten Fäuste meines Vaters; und meine eigene Pracht, die sich im Spiegel wie in einem anderen Universum langsam und anmutig bewegte. Es wurde nicht geredet. Das Wasser lief in Strömen, was mir besonders auffiel, denn mein Vater achtete sehr darauf, dass nichts, aber wirklich gar nichts verschwendet wurde. Geizig würde ich ihn nicht nennen. Ich nicht. Aber meine Mutter zum Beispiel. Eben deswegen fand ich es seltsam, dass er nichts sagte, sie nicht einmal schief ansah, als sie das Wasser in der Badewanne einfach laufen ließ, auch als sie sich schon aufgerichtet hatte und ihr Gesicht im Handtuch versteckte. Mein Vater räusperte sich, nur das tat er, er räusperte sich, zog an meinem linken Flügel, als wäre das ganz normal, als wäre es ganz selbstverständlich, dass seine Tochter Flügel hatte. Er räusperte sich und ging in die Küche, wo er anfing, das Abendessen zuzubereiten, laut und unüberhörbar und voller Protest, voller Widerstand. Sie litten, sie mussten leiden, das war klar, all die Töpfe und Pfannen und danach die Teller und das Besteck. Sie mussten dafür bezahlen, und sie taten es ohne Widerrede. Als wir Stunden später am Tisch saßen und zu Abend aßen, sagte meine Mutter nichts, als ich mir mit meinem orangegelben Schnabel geräuschvoll die Fleischbrocken herauspickte und Rigatoni in einem Stück hinunterschlang. Zweimal legte sie lediglich ihre Hand auf meine grüne Haube und ließ sie da liegen, als wäre sie für jegliche Zärtlichkeitsbekundung eigentlich zu erschöpft. Mein Vater redete nicht mit mir. Auch nicht mit meiner Mutter. Er schmatzte sehr laut, und dann war der Tag schon vorbei, und ich zog mich in mein Nest zurück. Mein Schwanz hing hinaus, lang und unbedeckt, und berührte den Boden.

 

Eines Abends.

Ich kam eines Abends von meinem Musikunterricht nach Hause, ich war erst fünf geworden, aber Musik war schon mein ganzes Leben. Ich sang und spielte Klavier. Vor allem sang ich. Und die Welt hörte zu: Ich sah die Welt in der ersten Reihe sitzen, die Welt saß in der ersten Reihe und lächelte mir wohlwollend zu. Und dann, eines Abends, machte ich die Haustür auf, meinen Kopf und meinen Körper meiner Oma zugewandt, sie hatte mich, wie so oft, abgeholt. Ich lachte, sie konnte mit mir nicht Schritt halten, ich flog buchstäblich die Treppe hoch, sie staunte und wunderte sich über meine Flinkheit. Ich trat in den Flur, trillerte immer noch, gluckste. Alles war dunkel, kein Licht, in der ganzen Wohnung nicht. Ich blieb stehen, rief nach Oma, sagte, sie solle sich beeilen. Dann erschien meine Mutter in der Küchentür, ihr Gesicht ebenfalls ­dunkel. Es war Sommer, und sie hatte ein leichtes helles Kleid an, aber ihr Gesicht, ihr ganzer Kopf war von Dunkelheit verschlungen. Kein Licht brannte in der ganzen Wohnung, und dennoch sah ich es. Auch in der Finsternis sah ich die blauen Schatten um ihre Augen, vor allem um ihr linkes Auge, blau war der Schatten und funkelte. Wie selbstverständlich. Wie, als wäre nichts. Ich fing an, von dem Lied zu erzählen, das ich an dem Tag gelernt hatte, ich erzählte und erzählte und hörte nur das Zwitschern, das aus meinem Schnabel strömte, strömte und fiel, ein Wasserfall an Tönen. Ein Seitenblick genügte, und ich bemerkte meine Flügel, ein Zittern, kleine winzige Flügelschläge wie ein Zittern. Und blau, türkisblau, königsblau. Der Oberkopf blau gebändert. Leuchtend blau wie das neue Lied. Blau wie das Gesicht meiner Mutter. Meine Oma schob mich zur Seite, ich flatterte weg, verströmte die blauen Noten in den Flur, in die Küche, ins Wohnzimmer, ließ sie um das blaue Gesicht meiner Mutter schweben, ein Küsschen hier, ein Küsschen da. Meine Mutter legte sich die Hände aufs Gesicht, als hätte ich sie verletzt, mit meinem langen Schnabel gestochen, ihr Gesicht blau gefärbt. Sie ließ sich von der Oma umarmen, lehnte die Stirn auf Omas Schulter, und weil sie so viel größer war als Oma, sah sie gebrochen aus, als wäre ihr ganzer Körper samt Haaren, die zu ordentlich waren, so ordentlich, als würden sie ihr nicht gehören, blau geworden. Ein Meer aus gebrochenem Blau. Und ich über diesem Wasser, fröhlich singend, ungehört, kaum wahrgenommen, schaukelte hin und her, hin und her und wünschte mir ein Vogelbuch zu Weihnachten. Ich wartete geduldig, schwang meine Flügel, flog niedrig und geradlinig und bekam es dann auch. Deutschlands Vögel hieß das große Buch und war voller großartiger Bilder. Und der Eisvogel hatte einen besonderen Platz darin, und ich lächelte zufrieden, als ich mich sah. Gleich zwitscherte ich los und überflog die nassen Oberflächen unbemerkt, fast wie ein Fliehender, ein Meister im Verschmelzen mit dem Blau um mich herum. Ein kühner Taucher. Ein leichtflügeliger Jäger.

Als ich am Heiligabend mit meiner Oma das Buch durchblätterte, erzählte sie von ihrer ersten Begegnung mit dem Eisvogel. An der Nordsee war das gewesen, da war die Oma noch ein Mädchen, hatte weder mich noch meine Mutter gehabt, ein Buch im Schoß, aber gelesen hatte sie nicht, sie hatte auf das Meer geblickt, Möwen beobachtet, als plötzlich, so unerwartet, dass es...

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