Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung - Kuriose Prognosen, die knapp danebengingen

Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung - Kuriose Prognosen, die knapp danebengingen

von: Norbert Golluch

riva Verlag, 2016

ISBN: 9783959710619

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 887 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung - Kuriose Prognosen, die knapp danebengingen



Verkehr


Es ist ein grundlegendes Problem der menschlichen Existenz, sich von A nach B zu bewegen. Dies gelang in den frühen Jahren der Menschheit nur unzureichend und unter Zuhilfenahme der eigenen Füße, ein Faktum, dem wir unter anderem das Sprachengewirr auf diesem Planeten verdanken. Dem Jäger genügte es noch, der Beute möglichst schnell zu Fuß zu folgen, und der Sammler legte ziemlich langsam lange Wege zurück, um Kräuter und Beeren auf den Speisezettel setzen zu können. Die Inka und Maya verzichteten sogar auf das Rad und gingen zu Fuß. Wie wäre die Menschheitsgeschichte verlaufen, wenn wir schon früh beweglicher gewesen wären?

     

Erstickende Fahrgäste – die Eisenbahn


Die Wohlhabenden bewegten sich hoch zu Ross oder in der Kutsche, der Pöbel benutzte die eigenen Füße. So war es lang geübte Praxis. Warum etwas daran ändern? Zunächst siegte die Skepsis, als eine neue, großartige Erfindung sich anschickte, jedermann relativ preiswert mit mäßiger, aber bisher ungekannter Geschwindigkeit von A nach B zu transportieren. Allen voran schwante wohl dem Mediziner Dr. Dionysius Lardner Übles. Ihm wird das folgende Zitat nachgesagt:

»Das Reisen mit der Eisenbahn bei hohen Geschwindigkeiten ist nicht möglich, da Passagiere nicht in der Lage wären zu atmen und erstickten.«

Prof. Dr. Dionysius Lardner (1793–1859), britischer Arzt

Diese Aussage wird immer wieder aus dem Zusammenhang gerissen und so dargestellt, als sei sie für die damals übliche Reisegeschwindigkeit der Eisenbahn gemeint. Dr. Lardners Satz bezog sich wohl aber auf eine Extremsituation: Er befürchtete, dass ein Eisenbahnzug im 1841 fertiggestellten, leicht abschüssigen Box Tunnel auf der Great Western Main Line zwischen Bath und Chippenham bei einem vollständigen Bremsausfall unkontrolliert beschleunigen und eine Geschwindigkeit von 120 Miles per hour, also etwa 193 km/h erreichen könnte – und das könnte tödliche Folgen haben.

Britische Ärzte mussten also keineswegs Erstickende in großer Anzahl retten, als am 27. September 1825 erstmals gleich 600 Personen auf der neun Meilen langen Strecke der Stockton and Darlington Railway mit der Wahnsinnsgeschwindigkeit von 24 km/h auf Schienen befördert wurden. Stephensons Lokomotive Nr. 1 zog 38 Wagen, darunter etliche mit Passagieren voll besetzt.

So pessimistisch die Prognosen in den Anfangstagen der Eisenbahn waren, so positiv entwickelte sich das Verkehrssystem weiter. Dampflokomotiven wie die Mallard stellten unerhörte Geschwindigkeitsrekorde auf, so wie den vom 3. Juli 1938: beachtliche 201,2 km/h, bis heute der offizielle Geschwindigkeitsweltrekord für Dampflokomotiven. Alle Fahrgäste überlebten auch dieses hohe Tempo. Was Wunder, dass man Ende der 1950er-Jahre großartige Möglichkeiten für kommende Tage voraussah:

»Vierzig Meter lang ist die Atomlok. Sie entwickelt eine Leistung von 7 000 PS. Auf 14 Achsen ruht das Gewicht von 330 Tonnen. (…) In der Mitte der Atomlok liegt der Reaktorpanzer, eine Bleikammer, die die gefährliche Strahlung zurückhält.«

Birkel-Sammelalbum »Die Welt von morgen«, neue überarbeitete Auflage, 1962

So falsch ist manches nicht an dieser Prognose. 2007 leistete der Triebkopf eines ICE 3 ansehnliche 10 876 PS, allerdings bei einem Gewicht von 409 Tonnen. Nur: Die Atomkraft spielt bei der Eisenbahn des 21. Jahrhunderts nicht die geringste Rolle. Auch die folgende Prognose – quasi die Vision einer alles vereinnahmenden Super-Eisenbahn – blieb eine Seifenblase im Reich der Illusionen:

»Eine Hochleistungsschnellbahn meistert den Verkehr von morgen. In 10 Jahren wird sich die Zahl der Autos verdoppelt haben, im Jahr 2000 werden 35 000 Lastwagen täglich unterwegs sein. Die Autoschienenbahn nimmt sie huckepack. Sie befördert gleichermaßen Personen, Autos und Massengüter, mit einem Spitzentempo von 400 km/h die großen Industrieräume verbindend. In weit geschwungenem Bogen überquert eine eigene Trasse Gebirge und Siedlungen auf Stelzen. Die Züge gleiten, von Computern gesteuert und durch Luftkissen oder Elektromagneten frei schwebend gehalten, an den Schienen entlang.«

»Das neue Universum« Bd. 86, Union Verlag, Stuttgart, erschienen 1969

35 000 Lastwagen täglich – das wäre heute ein verkehrsberuhigter Traum. Zum Vergleich: Um die Jahrtausendwende waren in Deutschland 2,5 Millionen Lkws unterwegs, 2015 stieg die Zahl sogar auf über 2,7 Millionen. Möglicherweise sind nicht alle gleichzeitig auf Straßen und Autobahnen anzutreffen – aber 35 000 pro Tag wären nur mit einem partiellen Fahrverbot zu erreichen.

Die Hochleistungsschnellbahn, die nach dem Wunsch der Prognostiker aus dem »Neuen Universum« den Verkehr der Zukunft bewältigen helfen sollte, war allerdings mit 400 km/h für Robert M. Salter, einen RAND-Ingenieur der frühen 1970er-Jahre, viel zu langsam. Sein Very High Speed Transit System (VHTS) sollte New York und Los Angeles in nur zwei Stunden Fahrzeit verbinden. Dazu, so errechnete der Ingenieur, sei eine Geschwindigkeit von 14 000 Miles per hour nötig, was etwa 42 500 km/h entspricht, die 20-fache Schallgeschwindigkeit. Erreicht werden sollte dieses atemberaubende Tempo über ein Magnetbahnsystem in luftleeren Röhren. 1978 plante Salter noch ein weiteres, ähnliches und noch leistungsfähigeres System namens Planetran – es sollte eine Verbindung zu anderen Planeten schaffen.

Aus: R. M. Salter: »The Very High Speed System«, 1972

R. M. Salter: »Trans-Planetary Subway Systems – A Burgeoning Capability«, Februar 1978

Wie wir wissen, gab es nicht einmal Realisierungsansätze zu solchen Vorhaben. Aber man irrte in diesen Jahren nicht nur im großen Ganzen – auch bei Entwicklungen im Detail und bei der Einschätzung einzelner Projekte lagen die Verkehrsexperten gründlich daneben:

»Jetzt noch einen Kanaltunnel zwischen England und Frankreich bauen? Völlig überflüssig! Mit dem Jahr 1969 ist zwischen diesen beiden Eckpfeilern Europas endgültig das Zeitalter der Hovercrafts angebrochen – die befördern alles: Menschen, Autos, Post, Eilgüter, Frachten. Hovercrafts stündlich, schon heute!«

Heinz Conradi: »Der Traum vom Schweben«, in: Das neue Universum, Bd. 86, Union Verlag, Stuttgart, 1969, S.245

Dieser Lobgesang auf eine Art luftiger Fortbewegung verklang ungehört. Hovercrafts kamen aus der Mode, der 50 km lange Eurotunnel wurde gebaut und am 9. Februar 2009 für den Verkehr eröffnet.

Hässliche Fehlkonstruktion – das Automobil


Der Wagen ohne Pferde – dieser Wunschtraum ist mit Sicherheit alt. Vermutlich rollte er schon in grauer Vorzeit durch viele archaische Träume und Wunschvorstellungen. Der Weg zu den modernen Illusionen aus Blech und Chrom war jedoch lang. Allerdings hat schon Mother Shipton, die englische Seherin des 15. Jahrhunderts und Zeitgenossin von Nostradamus, es kommen sehen:

»Die Armen werden großes Wissen besitzen

Große Häuser stehen in weitem Tal

Alles bedeckt mit Schnee und Hagel

Ein Wagen ohne Pferd wird fahren

Unglück füllt die Welt mit Gram.«

Mother Shipton (1488–1561)

Diese fünf Zeilen enthalten erstaunlich viel Wahrheit – Wikipedia, die Verstädterung der Welt, das Automobil und die Depression als Massenphänomen – nur in punkto Klima­erwärmung lag die Seherin vermutlich falsch. Wenn man allerdings eine Verschiebung des Golfstroms als Folge einer Klimaänderung als Möglichkeit in Betracht zieht, ist eine Eiszeit für Mitteleuropa nicht unwahrscheinlich.

Zeitnäher und auf weitaus weniger prophetischer Höhe mutmaßte der französische Ur-Sciencefiction-Autor Jules Verne über das künftige, allgemein gebräuchliche Fortbewegungsmittel der Zukunft im 20. Jahrhundert:

»Die unzähligen Wagen wurden von einer unsichtbaren Kraft bewegt, mithilfe eines Motors, bei dem sich Luft durch Gasverbrennung ausdehnte. Der wichtigste Vorteil (dieses Motors) besteht darin, dass er Kessel, Feuerstelle und Brennstoff abschaffte.«

Jules Verne, französischer Schriftsteller, in »Paris im 20. Jahrhundert«, 1863

Benzinmotor? Gasantrieb? Diese Prognose enthält Deutungspotenzial – Sie erinnern sich an das Orakel von Delphi? Es kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet, Irrtum ausgeschlossen. Noch Jahrzehnte später irrte sich hingegen ein Mann, der Überblick über den Stand der Technik seiner Zeit hätte haben sollen, in deutlicher Weise: Dr. G. van Muyden, Bibliothekar des Kaiserlichen Patentamtes zu Berlin, der 1881 sogar Mitherausgeber eines Buches zum Thema war: »Die Erfindungen der neuesten Zeit. 20 Jahre industrieller Fortschritte im Zeitalter der Weltausstellungen«. An anderer Stelle meinte er:

»Auch hat Benz einen Benzinwagen gebaut, welcher auf der Münchener Ausstellung Aufsehen erregte. Diese Anwendung der Benzinmaschine dürfte indessen ebenso wenig zukunftsreich sein wie die des Dampfes auf die Fortbewegung von Straßenfuhrwerken.«

Dr. G. van Muyden, Bibliothekar des Kaiserlichen Patentamtes zu Berlin, im »Herderschen Jahrbuch der Naturwissenschaften, 1888/89«, herausgegeben von Dr. M. Wildermann

Dass allerdings auch die Hersteller ihr Produkt und seine Möglichkeiten extrem kritisch sahen, verwundert ein wenig. Offenbar waren die Autos jener Tage noch so schwer zu bändigen, dass sie einen eigens ausgebildeten Fahrer benötigten:

»Wegen der begrenzten Anzahl an Chauffeuren wird die weltweite Nachfrage nach...

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