Lob der Vergebung - Vom Schmerz des Betrogenwerdens und vom Neuanfang in der Liebe

Lob der Vergebung - Vom Schmerz des Betrogenwerdens und vom Neuanfang in der Liebe

von: Massimo Recalcati

Klett-Cotta, 2016

ISBN: 9783608109580

Sprache: Deutsch

203 Seiten, Download: 2387 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lob der Vergebung - Vom Schmerz des Betrogenwerdens und vom Neuanfang in der Liebe



Einführung


Der Psychoanalytiker bekommt tagtäglich die Qualen des Liebeslebens zu hören: Emotionale Isolierung, sexuelle Hemmungen und Symptome, die zwanghafte Suche nach Beziehungen, die keinerlei Erfüllung bringen, Enttäuschungen, die unweigerlich auf den ersten Rausch der Verliebtheit folgen, Untreue, Langeweile, Eifersucht, schwindendes Begehren, Trennungen, Misshandlungen, Unfähigkeit zu lieben, Schwierigkeiten, den richtigen Mann oder die richtige Frau zu finden. Aber die leidvollen Liebeserfahrungen folgen heute offenbar anderen Gesetzen als in der Vergangenheit. Die sexuelle Freiheit und die Emanzipation der Frau, um nur zwei der wichtigsten Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu nennen, haben einen bestimmten Stereotyp des Liebesleids auf den Kopf gestellt. An die Stelle des verzweifelten Platonismus all jener, die ihre Leidenschaften angesichts sozialer Hemmungen und Tabus nur im Geheimen auslebten, ist eine allgemeine Enthemmung getreten, und die sexuellen und amourösen Erfahrungen haben sich vervielfältigt. Ohne moralische Schranken und Zensur scheint sich alles schneller abzunutzen. Die Skepsis gegenüber jeder Form von Institutionalisierung der Geschlechterbeziehungen ist offenbar zu einem politisch korrekten Stereotyp geworden. Und doch ist der kollektive Kult einer Liebe ohne Bindung eine Illusion, die nichts als Irrlichter hervorgebracht hat. Die Beschwörung der absoluten Freiheit und die Ablehnung jeder Form von Beziehung, die Verantwortung mit sich bringt, haben einen neuen Gebieter ins Leben gerufen. Dieser schwingt nicht mehr die Rute des Verbotenen, sondern verlangt nach immer neuem Vergnügen und empfindet dauerhafte Beziehungen als einen Kerker, in dem die mysteriöse Faszination des Begehrens zwangsläufig zugrunde geht. Ist der Papst tot, wird ein neuer gewählt. Die Trauerzeit wird manisch übersprungen und als etwas unnötig Deprimierendes, als Zeitverschwendung abgelehnt. Anstatt den Verlust des geliebten Objekts aufzuarbeiten und den Schmerz zuzulassen, der damit einhergeht, muss möglichst rasch ein Ersatz her – ganz im Sinne der Logik, die den Diskurs des Kapitalisten1 beherrscht: Wenn ein Objekt nicht mehr funktioniert, trauere ihm nicht nach! Ersetze es einfach durch eine aktuellere Version!

In einer Zeit, in der alles dem perversen Lockruf des Neuen zu folgen scheint, möchte dieses Buch ein Loblied auf die Liebe sein – jene Liebe, die Bestand hat und die nicht müde wird, um das zu kämpfen, was die Zeit überdauert, was sich nicht abnutzen lässt. Das Buch befasst sich nicht mit den Liebschaften, die sich innerhalb weniger Nächte erschöpfen und von denen nichts bleibt. Vielmehr geht es um die Liebe, die ein Leben lang anhält, die Spuren hinterlässt, die unsterblich sein will und die das zynische Urteil Freuds widerlegt, wonach Liebe und Begehren unvereinbar sind, weil die Existenz des einen (der Liebe) zwangsläufig die des anderen (des sexuellen Begehrens) ausschließt.2 Es geht um die Liebe, bei der das Begehren im Laufe der Zeit nicht schwindet, sondern wächst, weil es auf erotische Weise den Horizont der Körper der Liebenden erweitert, und, gemeinsam, den der Welt. Jene Liebe, bei der die Ekstase der Begegnung darauf besteht, sich zu wiederholen, einander weiterhin zu wollen, sich selbst treu zu bleiben, bei der der Rausch nicht verfliegt, sondern sich die Zeit zunutze macht und dadurch unvergänglich wird. Jene Liebe, die durch das beseelt ist, was der Dichter Paul Éluard, den Jacques Lacan einst zitierte, als ein »hartes Ringen um Dauerhaftigkeit«3 bezeichnet hat.

In diesem Buch wird der Frage nachgegangen, was in solchen Beziehungen geschieht, wenn einer der beiden fremdgeht, das Treueversprechen bricht, heimlich und wortbrüchig eine andere Liebeserfahrung lebt. Was passiert, wenn die Liebe dem Trauma des Betrogen- und Verlassenwerdens ausgesetzt wird? Und was passiert, wenn der, der betrogen hat, um Vergebung bittet? Wenn er noch genau so geliebt werden möchte wie vorher und sich wünscht, dass alles wieder so wird wie früher? Ist Vergebung in solchen Fällen überhaupt möglich? Oder müssen wir uns mit dem Freud’schen Diktum abfinden, wonach die Liebe grundsätzlich ein narzisstischer Traum ist und es kein Versprechen, keine Liebe »für immer« gibt, und die Liebe zum Anderen4 zuallererst Selbstliebe ist? Sollen wir auf die Liebe pfeifen und die Liebenden, die sich bemühen, ihre Liebe zu bewahren, belächeln?

Freuds Analysen in seinen Beiträgen zur Psychologie des Liebeslebens beschreiben lediglich die neurotische Seite der Liebe. Seine These von der Spaltung zwischen sexuellem Begehren und Liebe, wonach das Objekt der erotischen Lust von dem der emotionalen Liebe abgespalten wird, ist häufig missverstanden worden, so, als sei es grundsätzlich unmöglich, das sexuelle Genießen des Körpers mit der Liebe als Selbstgabe in Einklang zu bringen. Hier muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Wenn sich die Psychoanalyse mit dieser (neurotischen) Spaltung von sexuellem Genießen und Liebeszärtlichkeit befasst, heißt das noch lange nicht, dass diese Spaltung zwangsläufig zur Liebe gehört. Worauf zielt eine Psychoanalyse sonst ab, wenn nicht darauf, eben solche Verbindungen möglich zu machen, in denen das Liebesbegehren gegenüber dem Anderen mit dem erotischen Genießen des Körpers zusammentrifft? Ist das nicht eine ihrer wichtigsten Herausforderungen? Die Erfahrung zeigt: Es gibt Liebesbeziehungen, in denen das Liebesbegehren keineswegs von der sexuellen Lust abgespalten ist, sondern exponentiell zu der erotischen Leidenschaft für den Körper des Anderen wächst. Genau aus diesem Grund hat Lacan die Liebe als die einzige Möglichkeit definiert, um das Begehren mit dem Genießen zusammenzuführen, ohne das eine auf neurotische Weise vom anderen zu trennen.5 Die Pathologie der Spaltung von Begehren und Genießen ist nicht Gegenstand dieses Buches. Es befasst sich mit einem anderen wichtigen Aspekt des Liebeslebens, den die Psychoanalyse merkwürdigerweise immer vernachlässigt hat: dem der Vergebung. Die Vergebung stellt eine der anspruchsvollsten und härtesten Prüfungen für Liebende dar.

Der Vergebungsarbeit geht immer das Trauma des Betrogen- und Verlassenwerdens voraus. Das geliebte Objekt verwandelt sich, entfernt sich, verschwindet. Wie wir wissen, bringt jedes Trauma mit einem einzigen Erdstoß das Welt- und Selbstbild des Betroffenen ins Wanken. Nicht nur das geliebte Objekt kommt abhanden, sondern auch die Ordnung der Welt, welche angesichts des Verlusts in die Brüche geht, nicht wiederzuerkennen ist, dem puren Nicht-Sinn anheimfällt.

Was tun mit den Trümmern, die der Verlust des Anderen hinterlässt? Ähnlich wie die Trauerarbeit erfordert auch die Vergebungsarbeit viel Zeit. Manchmal stößt sie auch auf eine unüberwindbare Mauer, weil jegliches Vertrauen in das Wort des Anderen verlorengegangen ist. Dann kann es passieren, dass die Vergebung gerade wegen der Liebe unmöglich ist. Das ist eine der Thesen, die in diesem Buch aufgestellt werden: Das Scheitern der Vergebung ist gegenüber einer erfolgreichen Vergebungsarbeit nicht zweitklassig. Viele Patienten berichten von einem unumkehrbaren Verlust des Vertrauens in den Anderen, der jeden Versuch, die Trümmer wieder zusammenzufügen, zwecklos macht. Wie könnte man sie deswegen verurteilen? Auch in diesen Fällen stößt der Betrogene auf die Mauer des Unmöglichen: Er kann die Verletzung, die der Wortbruch bewirkt hat, nicht vergessen, er kann nicht vergeben, denn vergeben würde bedeuten, zu vergessen. Vergeben und vergessen? Vergeben heißt nicht, so zu tun, als sei nichts geschehen, sich den Folgen der traumatischen Wahrheit des Betrogen- und Verlassenwerdens nicht zu stellen. Die Vergebungsarbeit trotzt dem Unverzeihbaren und rettet die Liebe, indem sie der Versuchung des Rachegeists widersteht. Es ist ihr mysteriöses Glück, welches einen neuen Anfang, einen absoluten Neubeginn ermöglicht.

Der Leser wird zwei Bücher in einem finden: Das erste stellt theoretische und aus der analytischen Praxis gewonnene Überlegungen zur Vergebungsarbeit im Liebesleben an; das zweite erzählt die Geschichte von O., einem Mann, der inmitten von beruflichem Erfolg, Familienglück und einem erfüllten Liebesleben mit seiner langjährigen Partnerin aus vermeintlich heiterem Himmel mit dem Trauma des Betrogen- und Verlassenwerdens konfrontiert wird. Die literarische Figur des O. ist aus diversen...

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