Autismus und ADHS - Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit

Autismus und ADHS - Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit

von: Ludger Tebartz van Elst

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170286894

Sprache: Deutsch

175 Seiten, Download: 4280 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Autismus und ADHS - Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit



 

2         Was ist normal?


 

 

 

»Der Typ ist nicht mehr ganz normal, der spinnt!«

»Das war echt krass, absolut nicht normal!«

»Die Frau ist völlig abgedreht, echt abartig, total unnormal!«

»Wie krank ist das denn, die ticken nicht mehr sauber, die sind wirklich nicht mehr normal!«

In derartigen Redewendungen wird so manchem Leser1 das Thema des Normalen im Bereich der Psyche schon einmal begegnet sein. Oft werden so einzelne Personen, Gruppen oder auch nur Verhaltensweisen mit dem Prädikat des Anormalen belegt. In der Alltagssprache sind auch Umschreibungen des Gemeinten wie »krank«, »wahnsinnig«, »extrem«, »krass«, »abgedreht«, »nicht mehr sauber ticken« häufig der Behauptung des Anormalen zur Illustration beigestellt.

Wenn – wie im Titel dieses Buch – davon die Rede ist, dass Autismus oder die ADHS nicht unbedingt immer als Krankheit, sondern auch als Normvariante eines psychisch gesunden Lebens verstanden werden können, so muss zunächst ein Verständnis davon entwickelt werden, was es überhaupt bedeutet, dass etwas oder jemand normal ist – oder auch nicht. Beim Nachdenken über Normalität können drei verschiedene Kategorien des Normalen identifiziert werden, die z. T. ganz Unterschiedliches meinen: eine statistische Normalität, eine technische Normalität und eine soziale Normalität.

2.1        Normalität als statistische Größe


In einer weit verbreiteten Bedeutung des Begriffs »normal« wird primär auf ein statistisches Phänomen abgehoben. Dieser Aspekt kommt etwa zum Ausdruck, wenn Wörter wie »krass« oder »extrem« gewählt werden. Bezug genommen wird dabei auf die Häufigkeit, mit der bestimmte Phänomene oder Verhaltensweisen beobachtet werden können. Ein klassisches Beispiel für diesen statistischen Bedeutungsbereich des Normalitätsbegriffs ist die Körpergröße.

Abb. 2.1: Illustration der statistischen Verteilung der Eigenschaft Körpergröße in Deutschland (Quelle der oberen Grafik: SOEP & statista.org; zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/körpergröße; Zugriff am 01.09.2015)

Abbildung 2.1 illustriert die statistische Verteilung der Körpergrößen in Deutschland. Als normal im Sinne einer statistischen Norm wird meist jener Bereich von zwei Standardabweichungen oberhalb und unterhalb des Mittelwerts definiert, in dem etwa 96 % der Messwerte einer normalverteilten Messgröße liegen. Folgt man dieser Definition des Normalen, so ist der Normbereich stets gleich groß und etwa 4 % der beobachteten Eigenschaften wären per definitionem anormal, nämlich etwa 2 % weniger stark ausgeprägte (sehr Kleine) und etwa 2 % stärker ausgeprägte Merkmale (sehr Große).

Diese statistische Art, Normalität zu definieren, hat einen großen Vorteil: Sie ist sehr objektiv. Die Normalität einer definierten Eigenschaft kann anhand von objektiven Messungen und Grenzwerten festgestellt oder zurückgewiesen werden. Allerdings gibt es auch einen Nachteil an dieser Art und Weise, Normalität zu definieren: Es gibt immer notwendig 4 % nicht-normale Werte und zwar 2 %, die zu stark, und 2 %, die zu gering ausgeprägt sind. Um im Beispiel zu bleiben: der statistischen Definition von normaler Körpergröße folgend wären 2 % der Menschen in Deutschland krankhaft groß und 2 % krankhaft klein. Nun ist es in der Tat so, dass aus biologischer Perspektive bei den extrem großen und extrem kleinen Menschen nicht selten solche anzutreffen sind, die an Krankheiten im Sinne der biologischen Norm leiden wie etwa an einer Akromegalie bei den sehr Großen oder einer Achondroplasie bei den sehr kleinen Menschen. Aber es gibt eben auch eine Vielzahl von Menschen, die die statistischen Kriterien einer Körpergröße außerhalb der Norm erfüllen, ohne an solchen Krankheiten zu leiden.

Bei strenger Anwendung einer statistischen Norm würde fast die gesamte Basketballelite der NBA-Liga in den USA an einer Krankheit im Sinne einer pathologischen Größe leiden. Kaum jemand käme aber wirklich auf die Idee, Idole wie Dirk Novitzki als nicht-normal oder krank zu bezeichnen, nur weil die Eigenschaft Körpergröße im Sinne einer statistischen Idee mehr als zwei Standardabweichungen oberhalb des Mittelwerts liegt.

Normalität im statistischen Sinne ist eine objektive Variable, die durch Messungen quantifiziert werden kann.

Die Grenzen werden nicht durch qualitative Änderungen, sondern quantitativ durch die statistische Verteilung definiert.

Auch unabhängig von qualitativen Merkmalen wird für jede denkbare Eigenschaft notwendig ein nicht-normaler (krankhafter) Bereich im Sinne eines Zuviel und Zuwenig festgeschrieben.

2.2        Normalität als technische Größe


Der zweite Bedeutungsbereich von Normalität soll hier technische Normalität genannt werden. Im Kontext neurowissenschaftlicher Diskussionen zum Krankheitsbegriff wird er gelegentlich auch biologische Normalität genannt (Walter und Müller 2015).

Als Beispiel aus dem technischen Bereich sei das Auto genannt, welches bei Kälte nicht mehr anspringt. Alltagssprachlich ist dann davon die Rede, das Auto funktioniere nicht mehr normal. Ein Beispiel aus dem biologischen Bereich wäre etwa ein Mensch, der mit Drehschwindelattacken zum Arzt kommt und bei dem ein paroxysmaler Lagerungsschwindel diagnostiziert werden kann. Dabei reizen kleine Kristalle in den Bogengängen des Innenohrs das Gleichgewichtsorgan, was zu dem Schwindel führt. In beiden Beispielen, der technischen und biologischen Norm, wird mit Normalität ein Funktionieren eines technischen (Autos) oder biologischen Systems (Körper) gemeint, welches man aufgrund der bisherigen Erfahrungen erwartet, das aber nicht erwartungsgemäß eintritt. In der Alltagssprache wird verkürzt oft gesagt: »Da ist etwas kaputt«.

Dieses Kaputt-Sein, die Funktionsstörung, kann nun verschiedene Qualitäten haben. Sie kann sich auf alle Funktionen eines technischen Geräts beziehen, z. B. wenn ein Radio auf das Einschalten in keinster Weise mehr reagiert. Bei einem nicht funktionierenden Telefon wird im Englischen z. B. auch davon gesprochen, dass die Verbindung tot sei (»the line is dead«). Bei einem Lebewesen entspricht das Fehlen jedweder biologischen Reaktion auf Außenreize in der Tat meist dem »Tot-Sein«. Es gibt aber auch partielle Funktionsverluste, etwa wenn ein Mensch unter Schwindelattacken, epileptischen Anfällen oder einem Diabetes mellitus leidet. In Analogie dazu gibt es auch bei technischen Geräten partielle Funktionsstörungen, etwa wenn bei einem Fahrrad der Dynamo nicht funktioniert oder die Kette bremst, weil sie verrostet ist.

In all diesen Bereichen wird auf das Fehlen von Normalität geschlossen auf der Grundlage der Beobachtung, dass erwartete Funktionen, die dem Gerät oder dem menschlichen Körper in seinem Normal-Sein zugeschrieben werden, ausbleiben. Und genau das Ausbleiben dieser erwarteten Funktionen wird als nicht-normal qualifiziert.

In meinen Augen ist hier der Begriff einer technischen Normalität passender als der einer biologischen Normalität. Denn das Verstehensmodell der Ursächlichkeit der Funktionsstörung orientiert sich an den Erfahrungen mit technischen Geräten. Die Uhr funktioniert nicht, weil die Batterie leer ist. Das Fahrrad quietscht, weil die Kette verrostet ist. Das Auto springt nicht an, weil der Anlasser einen Wackelkontakt hat und bei Kälte die Kontakte verloren gehen. Und noch wichtiger: Ein Reparieren der so identifizierten defizitären Teile der Maschine bzw. ein Einbau von Ersatzteilen führt dazu, dass die Maschine wieder funktioniert.

Es ist die Vielzahl dieser mechanistischen Erklärungen als plausible Ursachen für technische Funktionsstörungen, die in uns die Überzeugung wachsen lässt, dass aufgrund der ausbleibenden erwarteten Funktion auch fehlende Normalität im Sinne eines Kaputt-Seins eines Teils der Maschine geschlussfolgert werden kann. Und in der Tat kann dieses Modell für viele der Funktionsstörungen des menschlichen Körpers auch fruchtbar gemacht werden. Wenn etwa beim Drehschwindel geschlossen wird, dass irgendetwas am eigenen Körper kaputt sein muss, so ist diese Beschreibung für das Beispiel des paroxysmalen Lagerungsschwindels auch angemessen. Denn die Kristalle, die in der Flüssigkeit des Innenohrs die...

Kategorien

Service

Info/Kontakt