Der Blick aus meinem Fenster - Betrachtungen

Der Blick aus meinem Fenster - Betrachtungen

von: Orhan Pamuk

Carl Hanser Verlag München, 2016

ISBN: 9783446252349

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 4257 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Blick aus meinem Fenster - Betrachtungen



Heimische Kuchen in fremden Küchen


Mein Vater verließ uns manchmal, als wir noch Kinder waren, und verschwand auf rätselhafte Weise. Einige Wochen später erfuhren wir dann, daß er in irgendeinem anderen Haus in Istanbul lebte oder sich gar in einer Stadt im Ausland aufhielt. Und einmal, 1958, als ich sechs Jahre alt war, erhielten wir die Nachricht, er sei in Paris.

Er wohnte in einem billigen Hotel am Montparnasse, füllte Heft um Heft mit Aufzeichnungen, die er mir Jahre später in einem Koffer übergeben sollte, und manchmal saß er im Café Dôme, wo er Jean-Paul Sartre von weitem beobachtete.

Meine Großmutter versorgte ihn aus Istanbul mit Geld. Großvater war im Eisenbahnbau tätig gewesen und hatte als erfolgreicher Unternehmer gutes Geld verdient. Der nächsten Generation, meinem Vater und seinen Brüdern, war es nicht ganz gelungen, das Vermögen unter den Tränen meiner Großmutter durchzubringen, noch waren nicht alle Mietshäuser verkauft. Als aber Großmutter fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns erkennen mußte, daß bald kein Geld mehr übrig sein würde, überwies sie nichts mehr an ihren Sohn in Paris.

So gehörte mein Vater eine Zeitlang zu jenen türkischen Intellektuellen, die seit hundert Jahren ohne Hoffnung und mit leeren Taschen die Straßen von Paris durchstreifen. Er war Bauingenieur von Beruf, wie sein Vater und mein Onkel, und sehr begabt in Mathematik. Als er kein Geld mehr hatte, fand er durch eine Zeitungsannonce eine Anstellung bei IBM und wurde nach Genf geschickt. Mein Vater, Bohemien und Schriftsteller in Paris, zog nach Genf und wurde einer der ersten türkischen Migranten, die in Europa eine Arbeit und ein Auskommen fanden.

Zunächst fuhr meine Mutter zu ihm. Sie ließ uns in der Großfamilie, in dem reichen Istanbuler Haus meiner Großmutter zurück und reiste zu meinem Vater nach Genf. Wir Kinder, mein Bruder und ich, mußten erst einmal den Beginn der Sommerferien abwarten und uns Reisepässe besorgen, damit wir nachkommen konnten.

Ich erinnere mich noch daran, wie ein Fotograf unter ein schwarzes Tuch kroch, an seiner hölzernen Balgkamera auf einem Stativ verschiedene Einstellungen machte und wir lange, lange in einer Pose aushalten mußten. Dieser alte Fotograf erschien uns ausgesprochen lächerlich, als er uns anschaute und »Jaa!« sagte, bevor er mit einer zärtlichen Handbewegung ganz kurz die Kappe von der Linse nahm, um die präparierte Glasplatte zu belichten. So entstand das Foto für meinen ersten Paß, während ich von innen an den Wangen kaute, um mir buchstäblich das Lachen zu verbeißen. Meine im Paß als dunkelblond beschriebenen Haare sind wahrscheinlich zum erstenmal in jenem Jahr für dieses Foto gekämmt worden. Als ich mir jetzt, dreißig Jahre später, den Paß noch einmal anschaute, stellte ich fest, daß auch meine Augenfarbe falsch angegeben ist, was mir damals nicht aufgefallen war, obwohl ich ständig in den Seiten herumgeblättert hatte. Ein Paß ist also nicht, wie ich bisher annahm, ein Papier, das unsere Identität dokumentiert, sondern ein Dokument, das zeigt, was andere von unserer Identität halten.

Als wir Kinder mit den Pässen in den Taschen unserer nagelneuen Jacketts aus dem Fenster des Flugzeugs blickten, das uns nach Genf brachte, waren wir entsetzt. Da sich die Maschine zur Seite neigte, schien alles, sogar die Seen, in diesem Schweiz genannten Land ein unendlich steiler Hang zu sein. Wir beide lachen noch heute über unsere Erleichterung, als das Flugzeug nach dem Ende seiner Schleifen vor der Landung wieder in die Waagerechte kam und uns klarwurde, daß dieses »neue Land« fast so flach wie Istanbul war.

Die Straßen hier waren allerdings sauberer und leerer. In den Schaufenstern gab es eine größere Auswahl, und auf den Hauptstraßen fuhren mehr Autos. Die Bettler bettelten nicht einfach, wie in Istanbul, sondern stellten sich unter die Fenster und spielten Akkordeon. Meine Mutter achtete darauf, daß wir die Münzen, die wir ihnen zuwerfen wollten, in ein Stück Papier eingewickelt hatten. Unsere Wohnung lag fünf Minuten zu Fuß von den Brücken am Ende des Genfer Sees entfernt, wo er wieder ein Fluß wird, und war möbliert.

Ein anderes Land – das bedeutete nun für mich, an vorher von anderen benutzten Tischen, auf vorher von anderen benutzten Stühlen zu sitzen, in von anderen jahrelang durchgelegenen Betten zu schlafen, von Tellern zu essen, aus Gläsern zu trinken, die andere schon jahrelang benutzt hatten. Das andere Land war das Land der anderen. Und wie wir den Umgang mit diesen alten Gegenständen lernten, obwohl wir nie deren wahre Besitzer sein würden, so mußten wir uns auch an dieses alte Land, an das Territorium der anderen gewöhnen. Meine Mutter, die in Istanbul eine französische Schule besucht hatte, ließ uns den ganzen Sommer über morgens am leeren Eßtisch sitzen und versuchte, uns die französische Sprache beizubringen.

Doch wie sich am Ende des Sommers ergab, als man uns in die staatliche Genfer Grundschule schickte, hatten wir nicht das geringste gelernt. Meine Eltern nahmen gutgläubig an, wir würden, wenn wir dem Lehrer im Unterricht ständig zuhören müßten, nach und nach Französisch lernen. Doch sobald alle Kinder in den Pausen auf den Hof hinausliefen und spielten, suchten wir, mein Bruder und ich, uns im Gedränge, um uns an der Hand zu halten. Ein endloser, riesiger Garten war das fremde Land, und glückliche Kinder rannten darin spielend herum. Wir beide aber betrachteten diesen Garten des Glücks nur vorsichtig von weitem.

Obwohl mein Bruder kein Französisch sprach, war er beim Rückwärtsrechnen der Beste in seiner Klasse, weil er die Zahlen kannte und mathematisch begabt war. Was mich betraf, so hatte ich in der Schule, deren Sprache ich nicht verstand, außer meiner Schweigsamkeit nichts Besonderes vorzuweisen. Und wie man sich im Traum sträubt, wenn man nicht sprechen kann, so sträubte ich mich eines Morgens, in die Schule zu gehen. Mein innerliches Aufbegehren, äußerlich unbemerkt geblieben – was sich während der folgenden Jahre in anderen Städten, in anderen Schulen wiederholen sollte –, schützte mich vor den härteren Seiten des Lebens, hielt mich aber auch von dessen Reichtum fern. Eine Woche danach nahm man auch meinen Bruder von der Schule, drückte uns beiden die Pässe in die Hand und schickte uns zurück nach Istanbul zu unserer Großmutter.

Ich habe jenen Reisepaß, der mich stets an den Mißerfolg meines ersten Europa-Abenteuers erinnert und die Aufschrift »Mitglied des Europarates« trägt, nie wieder benutzt, mich instinktiv verschlossen und die Türkei vierundzwanzig Jahre lang nicht verlassen. Alle, die sich Pässe besorgten und nach Europa reisten, habe ich in meiner Jugend sehnsüchtig bewundert, doch ich hielt mich trotz aller Möglichkeiten, die sich mir boten, ängstlich zurück und glaubte stets, richtig zu handeln, wenn ich meine Zeit in einem Winkel von Istanbul mit Bücherschreiben verbrachte. Europa, so dachte ich damals, lernt man doch am besten durch seine Bücher kennen.

Meinen zweiten Paß verdanke ich meinen Büchern. Die verschlossenen Räume, in die ich mich in den dazwischenliegenden Jahren zurückgezogen hatte, konnte ich schließlich als Schriftsteller verlassen. Man lud mich nach Deutschland ein, wo ich verschiedene Städte besuchen und vor Türken, von denen so mancher als politischer Emigrant dort lebte, aus meinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Büchern lesen sollte. In meinen Gedanken verknüpfte mein zweiter Paß diese hoffnungsvollen Reisen zu meinem türkischen Leserpublikum in Deutschland mit den schmerzlichen, in den Folgejahren weithin als »Identitätsproblem« bezeichneten menschlichen Erfahrungen.

Den Kopf voll schöner Ideen, fuhr ich mit einem der pünktlichen deutschen Züge von einer Stadt zur anderen. Es gefiel mir, aus dem Fenster auf die dunklen Wälder, auf die Kirchtürme der entfernten Ortschaften zu schauen und auf den Bahnsteigen die in Gedanken versunkenen Fahrgäste zu beobachten. Der Türke, der mich am Bahnhof empfing und sich für viele Mängel entschuldigte, die mir nicht aufgefallen waren, brachte mich zuerst in einem Hotel unter, führte mich dann über den Marktplatz der Stadt und sprach über die Teilnehmer der abendlichen Veranstaltung.

Diese Leseabende Mitte der achtziger Jahre, an die ich heute fast sehnsüchtig zurückdenke, wurden von politischen Emigranten und ihren Familien, von türkischen Lehrern und Studenten, von Jugendlichen der zweiten Generation, halb Türken, halb Deutsche, besucht. Dazu kamen andere, die etwas über das intellektuelle Leben in der Türkei hören wollten, außerdem einige türkische Arbeiter, die an jeder Versammlung teilnahmen, und einige Deutsche, die sich für alles und jedes, was die Türken betraf, interessierten und entschlossen waren, ihre Sympathie zu demonstrieren.

In jeder Stadt wiederholten sich bei den Lesungen mehr oder weniger die gleichen Szenen: Nachdem ich aus meinem Buch gelesen habe, hebt ein zorniger junger Mann die Hand, bittet ums Wort und tadelt mich dafür, daß ich in meinen Büchern mit abstrakten Schönheiten angebe, während in der Türkei Unterdrückung herrscht und gefoltert wird – was stets Schuldgefühle bei mir auslöst, obwohl ich ihm keineswegs recht gebe. Eine Leserin, die mich offensichtlich in Schutz nehmen möchte, fragt mich nach Details in meinen Büchern. Und dann kommen die großen Fragen, die der Türkei, der Politik, den Hoffnungen für die Zukunft, ja sogar dem Sinn des Lebens gelten und die ich jedesmal mit dem Enthusiasmus eines strebsamen jungen Schriftstellers voll bester Vorsätze beantworte. Manchmal hält jemand eine lange, mit politischen Begriffen...

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