In anderen Herzen

In anderen Herzen

von: Neel Mukherjee

Verlag Antje Kunstmann, 2016

ISBN: 9783956141058

Sprache: Deutsch

640 Seiten, Download: 1100 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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In anderen Herzen



ZWEITES KAPITEL


1967


IM ERSTEN LICHT des Morgens schwebt ein hauchdünner ausgefranster Nebel über den Boden, ein Nebel so zart, dass man wegschauen und dann rasch wieder hinsehen muss, um ihn überhaupt wahrzunehmen; und zu lange betrachtet, verschwindet er vor den Augen. Ein milder Herbsttag bricht an. Duftende shiuli-Blüten sind über Nacht zu Boden gefallen und lassen einen Teil des Gartens wie einen weiß gesprenkelten grünen Schal aussehen. Schaut man genau hin, erkennt man in den korallenfarbenen Blütenhälsen ein weiteres, zarteres Muster.

Blauer Himmel, locker betupft mit flauschigen weißen Wolken. Die Kinder haben schulfrei, und auf dem Grundstück, das an den Durga-Tempel von 23 pally angrenzt, steht bereits das Skelett des Puja-pandal, eine wundersame Konstruktion aus Bambus und Brettern und Kokosbastseilen und buntem Stoff, der sich in dekorativen Falten über das Bambusfachwerk spannt und rafft und bauscht. Diese Kathedrale aus Stoff wird fast fünf Tage lang die Göttin Durga und ihre vier Kinder beherbergen – Lakshmi, Sarasvati, Kartik und Ganesh, je zwei zu ihren Seiten. Am letzten Abend der Feierlichkeiten, wenn die Tonfiguren der Göttin und ihrer Kinder in Tolly’s Nala oder in den Hooghly, bei Outram Ghat, versenkt werden, wird das alljährlich größte Fest des bengalischen Kalenders seinen Höhepunkt finden.

In den vergangenen sechs Wochen sind Freiwillige des »23 Pally Sharbojonin Puja Committee« – hauptsächlich Halbwüchsige und junge Männer des Viertels – von Tür zu Tür gezogen und haben Spenden für das Fest gesammelt. Überall entlang der Straße, auf Bäumen, auf der Dachzisterne von Hausnummer 11/A/2 wachsen bereits die kunstvollen, bisweilen barocken Lichtinstallationen in die Höhe. Dieses Jahr sind die meisten von ihnen, entlang der ganzen Basanta Bose Road, bis hin zum Jogamaya College, von besonders prunkvoller Gestalt: Lichterketten bilden etwas wie einen Stamm und fächern sich in eine Krone mit sechs Ästen auf, von denen je drei zu beiden Seiten fallen, was die Konstruktion wie eine von Kinderhand gezeichnete Palme aussehen lässt. Die bunten – grünen, blauen und roten – Lichter der in Kaskaden herabstürzenden Krone blinken ebenso zeitlich versetzt wie die gelben Lichter des Schafts, wodurch das Ganze wie eine magisch aufwärts strömende Wassersäule wirkt, die sich in gesitteten Fontänen aus ihrem eigenen Kapitell ergießt. Das ist ein Meisterwerk von Festbeleuchtung. Mit Illuminationen wie diesen versuchen sich die Stadtviertel gegenseitig auszustechen, und dieses Jahr ist die ganze Basanta Bose Road stolzgeschwellt im Bewusstsein, dass sie die dürftigen Bemühungen ihrer knickrigen Konkurrenten – farbige Neonröhren und in Baumkronen und an Balkonen aufgehängte popelige Lichterkettlein – spielend überstrahlt. In drei Tagen wird die Festbeleuchtung in ganzer Pracht zu sehen sein.

Über den Eingang des Pandal spannt sich bogenförmig die Leuchtinschrift Sharodiya shubhechha, »herbstliche Segenswünsche«, und eine weitere, ebenfalls nur aus blinkenden Lichtern bestehende Konstruktion auf dem Dach der Dasguptas stellt einen Jungen dar, der einen Fußball kickt. Der Ball erscheint in Stakkato-Optik an drei verschiedenen Punkten seiner parabolischen Flugbahn und leuchtet dann, in leicht sisyphäischer Manier, wieder am Fuß des kickenden Jungen auf, damit dieser aufs Neue beginnen kann. Es gibt außerdem eine Lichtinstallation zur Feier des zwanzigsten Jahrestags der indischen Unabhängigkeit: Die von einem Freiheitskämpfer – dem »lieben Führer« Subhash Chandra Bose – und einem Dichter – Rabindranath Tagore – flankierte indische Trikolore ist so geschaltet, dass sie ein ebenfalls stakkatohaftes Flattern vorgaukelt. Gandhi glänzt, als Nichtbengale, natürlich durch Abwesenheit, und es wurde auch darauf verzichtet, Tagores langen Bart in einer imaginären Brise flattern zu lassen. Eine Leuchtschrift über dem Ganzen erklärt: »Zwanzig Jahre Unabhängigkeit 1947–1967«. Aber alle sind sich darin einig, dass die Installation – trotz ihres unbestreitbaren Neuigkeitswerts – nichts ist im Vergleich zu diesen überströmenden Palmen aus Licht.

In der Luft hängt der Geruch von Puja: ein frischer, kühler, schwereloser Duft. Der kollektiven bengalischen Vorstellungskraft fällt es jetzt leicht, sich Felder von kaash phul auszumalen, die sich mit ihren riesigen fiederigen, seidig cremefarbenen Blütenrispen anmutig vor der milden Herbstbrise neigen, auch wenn nirgendwo Horste von Pampasgras zu sehen sind – nicht in diesem Teil der Stadt jedenfalls. Und für das kollektive Gehör taumelt der Klang des dhaak, dem der dhaaki ein komplexes Repertoire von Rhythmen und Synkopen entlockt, bereits jetzt durch die Luft, hier jemandes plötzlichen Einfall, dort jemandes ausgesprochenen Satz aufgreifend, damit er dem Takt und Verlauf seines Spiels folge. Mit einer Stimme singt der Chor aus Gras, Trommel, Himmel und Tau: »Feiertag, Feiertag, Feiertag!«

Wohl wissend, dass zwischen Ma, Pishi, Boro-Kaki und ihr selbst bald ein Wettrennen um die Puja-Herbst-Sonderausgabe von Ultorath entbrennen wird, schnappt sich Baishakhi das Heft, das gerade an diesem Morgen zusammen mit Riesen-Sonderausgaben von Nabokallol, Anandamela (für die Kinder, denkt sie verächtlich) und Ananda Bazar Patrika gekommen ist, und schmuggelt es in ihr Zimmer. Sie blättert es rasch durch – Romane von Ashapurna Devi, Bimal Kar, Bimal Ghosh, Shankar. Vor zwei Jahren noch war ihr die Lektüre der Fortsetzungsromane in Ultorath und Nabokallol verboten, mit der Begründung, dass sie für Erwachsene seien, und sie wäre aufgefordert worden, sich an Anandamela zu halten, aber diese Regeln sind mittlerweile ein wenig gelockert worden, auch wenn Baishakhi sich nicht hundertprozentig sicher ist, dass ihre Mutter oder Pishi sie nicht doch tadeln würden, wenn sie sie vertieft in eine dieser Zeitschriften erwischten. Sie versteckt das Heft unter ihren Kissen und beschließt, jeder möglichen Störung zu entgehen, indem sie sich nach dem Mittagessen auf die Dachterrasse schleicht und das Heft dort, fernab vom häuslichen Menschengewimmel, liest, während ihr langes Haar in der Sonne trocknet. Möglicherweise ein Glas Mango-Pickle neben sich. Aufgekratzt durch die Aussicht auf das Vergnügen, das sie sich gerade selbst versprochen hat, hüpft sie ins Zimmer ihrer Eltern, um ihre Freude noch dadurch zu steigern, dass sie die neuen Kleider bewundert, die sie von ihnen zur – schon in zehn Tagen beginnenden – Puja bekommen hat.

Ein ähnlicher Gedanke könnte Chhaya gekommen sein, denn sie holt ihre neuen Puja-Sachen aus ihrer almira und ordnet sie entsprechend den fünf Tagen des Festes. Aber was in händereibenden Besitzerstolz hätte münden sollen, kippt rasch in eine ruhelose Bitterkeit um, als sie die auf dem Bett ausgebreiteten Saris betrachtet: zwei Reinseidene, einen tangail, einen tashar, einen kota, für jeden Tag der Puja einen. Letztes Jahr hatte sie sieben gehabt, das Jahr davor acht. Die zwei, die sie sich selbst gekauft hat, rechnet sie nicht mit: Es zählen nur die, die man geschenkt bekommen hat.

Dieses Jahr hat ihr Bruder Priyo ihr einen Sari geschenkt. Einen einzigen. Den Tangail. Zugegeben, er ist vom Adi Dhakeshwari Bastralaya, auf der Rashbehari Avenue, aber Purnima, seine Frau, hat vier Saris bekommen. Das sind viermal so viele, wie Chhaya von ihm gekriegt hat. Und diese Zahl ist auch nur eine – auf geschickte Schnüffelarbeit gestützte – grobe Schätzung. Vier konnte sie mit Sicherheit identifizieren; tatsächlich könnten es aber durchaus mehr sein, sieben etwa, oder acht. Die Wahrheit wird erst im Lauf der fünf Puja-Tage ans Licht kommen. Chhaya wird die Garderobe ihrer Schwägerin wie ein ausgehungerter Geier im Auge behalten.

Als sei das noch nicht genug, kann Buli, ihre Nichte, zehn – zehn! – neue Ensembles ihr Eigen nennen, darunter zwei ghaghras, die der neueste Schrei sind, und vier Saris, für die das Mädchen nach Chhayas Ansicht eigentlich noch zu jung ist. Das meiste davon stammt zweifellos von ihrem Vater. Die beiden, oder, um genauer zu sein, sie, die Mutter, haben das Mädchen nach Strich und Faden verzogen. Chhaya kann bereits die ersten Anzeichen erkennen – einen gewissen Trotz in den Augen, einen Mangel an Schamhaftigkeit in der Körperhaltung, eine wachsende Neigung, Widerworte zu geben, und eine totale Gleichgültigkeit gegenüber ihren schulischen Leistungen, wovon ihre Noten eindringlich Zeugnis ablegen: Sie wird jedes Jahr nur mit Ach und Krach in die nächste Klasse versetzt. Ihr Mittelschulzeugnis ist kurz nach der Puja fällig. Chhaya ist fest davon überzeugt, dass das Mädchen so miserabel abschneiden wird, dass man es auffordern wird, die Gokhale Memorial zu verlassen und seinen Abschluss an irgendeiner anderen, zweitklassigen Schule zu machen. Das kommt davon, wenn man eine ungebildete Mutter hat, denkt Chhaya. Sie wetzt und schärft schon seit Längerem die Worte, die sie...

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