Der ehrliche Lügner - Roman von tausendundeiner Lüge

Der ehrliche Lügner - Roman von tausendundeiner Lüge

von: Rafik Schami

Beltz, 2016

ISBN: 9783407747877

Sprache: Deutsch

544 Seiten, Download: 3266 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der ehrliche Lügner - Roman von tausendundeiner Lüge



1

Die Ankunft oder Der Anfang aller Dinge


Ich heiße Sadik, aber nicht einmal das ist sicher. Denn bereits das erste Wort, das ich sprach, war gelogen. Ich war damals nicht einmal sechs Monate alt. An jenem Tag kam mein Vater von der Arbeit und beachtete mich nicht. Das ärgerte mich. Stunden später bückte er sich zu mir herunter. Ich dachte mit geschlossenen Augen über meine Zukunft nach. Mein Vater merkte nichts davon und fragte mich laut, ob ich noch lebe. Ich kochte vor Wut, und da ich wusste, dass mein Vater nichts mehr hasste, als mit meiner Mutter verwechselt zu werden, streckte ich ihm meine Ärmchen entgegen und nannte ihn »Mama«. Das war meine erste Lüge und sie wirkte.

»Aus deinem Sohn wird nichts!«, sagte er zornig zu meiner Mutter. Er irrte sich gewaltig. In meinem langen Leben habe ich viel gesehen und erlebt, Ruhm und Wissen erworben, Elend und Qualen durchlitten. Und wenn wieder einmal der Todesengel kommt und mich fragt, ob ich bereit sei, dann werde ich diesmal, anders als in der Vergangenheit, Ja sagen, weil ich in einem einzigen Aufenthalt auf der Erde ein so erfülltes Leben genossen habe, dass es für zehn Menschen reicht. Aber ich werde bestimmt nicht sterben, bevor ich meine Geschichte erzählt habe. Und meine Geschichte geht erst zu Ende, wenn ich in ein paar Tagen Mala noch einmal getroffen habe.

Nun bin ich sehr alt geworden, aber wie alt, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich werde alt und jung je nach Tages- und Jahreszeit.

Und doch, sooft ich sage, dass ich in meinem langen Leben nun genug wundersame Dinge erlebt habe, belehrt mich dieses Leben selbst immer aufs Neue, dass die wundersamsten Dinge noch nicht geschehen sind.

Vor einer Woche hörte ich, dass ein Circus aus Indien in unserer Stadt angekommen sei. In mir wurden alte Erinnerungen wach, und ich beschloss, diesen Circus zu besuchen, doch drei Tage lang war ich verhindert, wegen der Voruntersuchungen für eine Operation an meinem rechten Auge. Erst vorgestern machte ich mich auf den Weg zum Circus und ärgerte mich, als ich erfuhr, dass die Vorstellung schon ausverkauft war. Erst nach langem Verhandeln bekam ich noch einen Platz, ungünstig in der hintersten Reihe.

Der Circus war nicht schlecht. Die Raubtiernummer war etwas zu hastig, doch die Pferdedressur ließ sich wie ein Traum von edlen Pferden genießen, und die Zuschauer waren, wie in Arabien üblich, allesamt Pferdeliebhaber. Sie spendeten der Nummer begeisterten Beifall.

Plötzlich erstarrte mir das Blut in den Adern. Ich sah die Seiltänzerin und hätte im ersten Augenblick schwören können, dass sie niemand anderes war als Mala. Doch dann befielen mich Zweifel und nagten an meiner Sicherheit.

Aber gewiss, sie war es, und mit jedem Schritt, den sie oben auf dem Seil tat, wurde ich wieder sicherer. Doch, doch, sie war es. Mala hätte ich nie verwechseln können. Wie auch? Ich habe sie damals wahnsinnig geliebt. Aber sie war über zehn Jahre älter als ich, und diese Frau auf dem Seil war zu jung, höchstens fünfundfünfzig. Aber wer weiß, es gibt Menschen, die der Zeit trotzen und ab einem bestimmten Jahr nicht mehr altern. Oder hatte Mala damals geschwindelt mit ihrem Alter?

Diese Artistin führte ihre Nummer leichtfüßig und anmutig wie eine Gazelle vor. Lächelnd überspielte sie die Angst auf dem Hochseil – genau wie vor vierzig Jahren. Sie war es. Niemand ging so wie Mala. Auch ihre alte Nummer mit dem Rückwärtssalto riss das Publikum zu einem Beifallssturm hin, der genau wie damals nicht enden wollte.

Als sie herunterkletterte, verbeugte sie sich, strahlte die Zuschauer an, und einen Augenblick lang dachte ich, sie hätte mich gesehen und angelächelt, doch sicher war ich mir nicht. Und wo war das große Muttermal an ihrem Hals geblieben? Es hatte die Form eines Schmetterlings gehabt, und Mala hatte mir erzählt, dass dieser Schmetterling sie dreimal vor einem Sturz bewahrt hatte. Wir lachten damals, und ich küsste den Schmetterling und bat ihn, noch besser auf Mala aufzupassen.

Vielleicht hatte sie es wegoperiert oder ich hatte nicht richtig gesehen. Ja wirklich, meine Augen sind nicht mehr die besten. Vor allem auf dem rechten konnte ich vor der Operation kaum noch sehen.

Ich hätte sie fragen sollen. Aber sie wurde von Journalisten umlagert und ich bin mein Leben lang schüchtern gewesen. Die ganze Nacht plagten mich Zweifel, ob die Frau meine Mala war oder nicht. Vielleicht war sie auch meinetwegen nach all den Jahren nach Morgana zurückgekommen. Bei diesem Gedanken machte ich mir große Vorwürfe. Ich beschloss, gleich am nächsten Tag den Circus aufzusuchen und die Artistin zu fragen, wie sie hieß.

Mittlerweile war ich ganz sicher, dass es Mala war, doch als ich gestern Vormittag den Messeplatz erreichte, war der Circus verschwunden. Ein Platzwächter beruhigte mich und sagte, dass der Circus noch in Tania und Palope im Norden gastieren würde, bevor er wieder nach Indien zurückkehrte.

Natürlich wollte ich am liebsten sofort hinterherfahren, doch ich hatte ja am Nachmittag den Operationstermin.

Nun gut, ich habe heute bei der Visite mit dem Arzt gesprochen. Er war sehr zufrieden mit der Operation und sagte, wenn es in den nächsten drei Tagen keine Komplikationen gäbe, würde ich schon am Dienstag entlassen. Und dann hält mich nichts mehr zurück. Ich muss Mala sehen. Und ich werde sie entweder in Tania oder in Palope einholen, und wenn nicht dort, dann irgendwo auf dem Weg nach Indien; denn der Platzwächter hat gesagt, in Tania allein würde der Circus eine Woche bleiben, und in einer Millionenstadt wie Palope kommt erst recht kein Circus unter einer Woche weg.

Sie war es bestimmt. Wie sollte ich Mala und den indischen Circus jemals vergessen?

Heute noch weiß ich jede Einzelheit, obwohl das alles vierzig Jahre zurückliegt. Viele Zeitungen des In- und Auslands schrieben wochenlang über Mala, den Circus und auch über mich. Mein Bild erschien in der Presse sogar öfter als das des damaligen Staatspräsidenten Hadahek.

Wie ich Mala begegnet bin und wieso ich für die Presse so interessant wurde, das ist eine lange Geschichte, die, wie bescheiden ich sie auch erzähle, übertrieben erscheinen wird.

Ich weiß heute noch, es war Anfang Mai, als der Circus India in unserer Hauptstadt Morgana auftauchte. Halb verhungert kamen die Circusleute mit ihren Tieren an. Die Bewohner von Morgana beobachteten den Einzug der bunten Circuswagen eher mit Mitleid als mit Neugier. Sie wussten, dass der indische Circus zur falschen Zeit gekommen war.

Kurz zuvor im April war der Schweizer Circus Bein nach einer erfolgreichen dreimonatigen Tournee durch das ganze Land abgereist. Die Schweizer hatten viele exotische und sehr gepflegte Tiere vorgeführt. Ihre tollkühnen Akrobaten und die strahlend schönen Frauen in ihren glitzernden Kleidern hatten die Herzen der Menschen im Sturm erobert. Ein Zauber der Farbe, des Lichtes und der Bewegung! Aber schnell wie eine Verliebtheit war alles vorbei. Viel zu schnell hieß es: Die Abschiedsvorstellung ist ausverkauft.

Dieser letzte Auftritt der Artisten und ihrer Tiere in Morgana wird für immer unauslöschlich in der Erinnerung der Zuschauer bleiben. Der Zauberer Libano Connectio ließ die Zuschauer vor Staunen das Atmen vergessen. Er schluckte eimerweise alte, schmutzige Geldscheine und verrostete Münzen, trank aus einer Flasche einen kräftigen Schluck bläulichen Zaubermittels und spuckte danach gebügelte Geldscheine und funkelnde Münzen. Sogar der damalige Staatspräsident Hadahek, der – außer auf Plakaten – selten lächelte, lachte Tränen bei dieser Nummer, klatschte begeistert und verlangte eine Zugabe.

Nun aber zurück zum indischen Circus. Die Polizei geleitete ihn bei seiner Ankunft in Morgana nicht zum Messegelände im reichen Stadtviertel, wo der Schweizer Circus noch im April seine bunten Zelte mitten im Grünen und nahe dem Fluss aufgeschlagen hatte, sondern auf das düstere, staubige Gelände vor dem Armenviertel am Osttor unserer Stadt.

Die bunten Wagen, die Elefanten, Kamele, exotischen Rinder, Pferde und Esel zogen wie eine Karawane durch die engen Straßen der Altstadt. Als die Kolonne das große Gelände vor dem Osttor erreichte, hatte sie unzählige Kinder im Schlepptau.

Der Circusdirektor verabschiedete sich von den Polizisten und gab jedem zwei Eintrittskarten. Manch einer wollte noch mehr und stotterte in gebrochenem Englisch: »Ich, zwölf Kinder, alle Circus gucken!« Der Circusdirektor lächelte dann höflich und sagte: »Ich auch, und meine lieben auch den Circus, deshalb kann ich nur zwei geben.«

Als Erstes ging der Circusdirektor im Kreis herum und...

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