Reis & Asche - Roman

Reis & Asche - Roman

von: Meena Kandasamy

Verlag Das Wunderhorn, 2016

ISBN: 9783884235218

Sprache: Deutsch

222 Seiten, Download: 889 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Reis & Asche - Roman



- Erster Teil -
HINTERGRUND


1.Über das Geschichtenerzählen


In einem Land, in dem despotische Barden über tausend Jahre dafür sorgten, dass nur die Dichtung als Literatur galt – Alliteration unter der Achselhöhle, Algebra um reimende Versfüße –, ist es schwierig, einen Roman zu schreiben. Das Versmaß war alles, worauf es ankam. Doch jede Sprache bringt ihre Luthers und Linden und so weiter hervor , die tamilische Prosa war geboren. Als Schauspielerin im Kindesalter trat sie zuweilen hier und da öffentlich auf, doch da es damals noch kein Reality-TV gab, wurde die kleine Rebellin zur Einsiedlerin, die bald jegliches Sprechen und Singen verweigerte und sich stattdessen für die Einzelhaft entschied. Ein paar Jahre später zeigten sich die ersten Barthaare und Brüste, und Haar kräuselte sich spiralig nach unten, ohne großes Tamtam kam die Prosa in die Pubertät. Von Teenagerängsten geplagt und mit einer androgynen Stimme belastet, merkte dieses Kid sehr bald, dass sich die Dichtung nie würde verdrängen lassen. Die Prosa, die sich selbst verurteilt hatte, tauchte aus einer von Fledermäusen heimgesuchten Bibliothek auf, und brach, Lob als Vorwand benutzend, auf krummen Wegen ins System ein. Ausführliche kritische Kommentare wurden zu den Werken der oben erwähnten tyrannischen Dichter geschrieben und, schlimmer noch, auch gelesen. Dichtung wurde zum multiversalen Megastar; die Prosa begann ihre bescheidene Laufbahn als dubiose philologische Kommentatorin. Hinterhältigkeit und Verrat gehörten in eine andere Zeit, griffbereit, aber verborgen. Jahrhunderte später würden Dedestruktivisten dieses Phänomen studieren und ihre Entdeckungen twittern – die Dichtung: versaut durch schmeichlerische Schönfärberei; die Prosa: bewies, den Wert ungebundener Rede, lief rot an und wurde den Hang zum Kommentar nie los.

Zurück zum Roman: tamilisch im Geschmack, englisch auf der Zunge, frei von Poesie und Prosodie, aufgetischt als prima Prosa. Vergeben Sie diesem Text den quälenden Hang zu Erklärungsversuchen und die Neigung, jeder Formulierung eine Meinung anzuhängen. Verstehen Sie bitte, dass Weitschweifigkeit zur Prosa gehört. Und verstehen Sie bitte auch, dass dieses Unterwertverkaufen klarer Beweis meiner Verpflichtung zu absoluter Selbstsabotage ist.

Und jetzt erlauben Sie mir einen verheißungsvollen Anfang. Amen und Bismillah ir-Rahman ir-Rahim. Und so weiter und so fort. Und sechsmal, aus Liebe zu meiner vom biologischen Geschlecht bestimmten Muttersprache Murugamurugamurugamurugamurugamuruga.

Es war einmal eine alte Frau, die lebte in einem winzigen Dorf.

Da ich im Sommer nach dem Arabischen Frühling schreibe, rechne ich damit, dass jeder erste Satz eine Enttäuschung sein muss, sofern er keine indirekte Anspielung auf eine Granate, einen Kreuzzug oder das Lieblings-Tabuthema ›Genozid‹ enthält. Hausgemacht wie der Sklavenhandel und betont klischeehaft, will dieser Anfang bewusst enttäuschen und den übertriebenen Wert in Frage stellen, der großen Eröffnungen beigemessen wird.

Über eine Romanschriftstellerin der ersten Generation aus einem Dritte-Welt-Land, die ganz offensichtlich nicht in ihrer Muttersprache schreibt, werden die Literaturkritiker vielleicht die Nase rümpfen und mich nach der Lektüre einer solch biederen Zeile mit dem Tort des Orange-Prize einsortieren und nichts weiter erwarten als eine dramatisch-traumatische Familiengeschichte. Sollen sie in Frieden buhen.

*

Es war einmal eine andere alte Frau, die lebte in einem anderen winzigen Dorf.

Diese Transplantation fällt flach aufs Gesicht, fatalerweise zuerst auf die Stirn. Solch eine strategische Ortsverschiebung und die Einführung neuer Personen haben keinerlei Auswirkung auf die Wahrnehmung einer Geschichte. Meine Facebook-Freunde, die sich um mich geschart und gespannt auf die entscheidende Anfangszeile gewartet haben, sind bereits gegangen. Meine Familie scheint bereit zu sein, mich zu verstoßen, Freunde fliegen ab, und ehemalige Liebhaber verschwinden. Allmählich wird mir klar, dass niemand die Geduld aufbringt, altbekannte Geschichten oder gemeinsam Erlebtes zu lesen. Und wie soll ich weiterschreiben, wenn die Anfangszeile nicht sofort hunderttausend Gefälltmir-Klicks bekommt?

Den meisten Menschen hängt Geschichte zum Hals heraus, vor allem dann, wenn Geschichte sich wiederholt, und deshalb bin ich gezwungen, mir etwas Neues auszudenken und ihrer Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Weil es im Roman vor allem darum geht, eine anonyme Leserschaft zu erreichen, will ich versuchen, meine Geschichte in den ersten tausendundacht Erzählungen mit Unspezifischem zu überschwemmen.

*

Es war irgendwann einmal eine alte Frau, die lebte in einem recht großen Dorf.

Die englische Sprache, die die Welt so gekonnt verwaltet hat, verlangt nach mehr Effizienz. Nicht nach diesen dauernden Unterbrechungen. Vielleicht sollte die Anfangszeile den Konflikt formulieren und die Leserinnen und Leser mit der Enthüllung fesseln, dass die alte Frau am Ende ihre gesamte Großfamilie in einem Massaker verliert. Oder aber in der Anfangszeile sollte überhaupt keine alte Frau vorkommen, sondern über ein strittiges Thema nachgedacht werden: über Unberührbarkeit oder Klassenkampf. Vielleicht sollte die Anfangszeile sich weder mit einer Figur noch mit einem Konflikt befassen, sondern von einem Landstrich reden, der die Welt ernährte, jedoch vergaß, das eigene Volk zu ernähren.

Soweit ich weiß ist es immer gut, mit dem Ort der Handlung zu beginnen: Nagapattinam, Schauplatz der tränenreichen, feuerheißen Geschichte der Alten Frau. Tharangambadi, das Dorf, in dem sie geboren wurde, Land der singenden Wellen. Kilvenmani, das Dorf, in das sie hineinheiratete, das Dorf, das sich mit dem Kommunismus verheiratete. Um mit einem derart überfrachteten Anfang zurechtzukommen, muss ich sehr viel Geschichte ausgraben.

*

Ein Land weckt bekanntlich nur dann Interesse, wenn ein Weißer dort landet, Freundschaft mit ein paar Einheimischen schließt, die Regionalküche probiert, viele unverschämte Fragen stellt, massenhaft Notizen in sein Moleskine-Notizbuch schreibt und nach seiner Rückkehr über dieses Land schreibt.

Ptolemäus – halb Grieche, halb hellenisierter Ägypter und wie andere Weiße von zweifelhafter Herkunft – war sehr stolz auf sein Wissen über abgelegene Orte, kapitulierte vor dem Druck der Verlagshäuser und seiner sich türmenden Rechnungen und ging daran, einen Lonely-Planet-Reiseführer zu schreiben, in dem er die tamilische Hafenstadt Nigamos ein einziges Mal beiläufig erwähnte. Das auf so verzweifelte Art in die Geschichte geschleuderte Nagapattinam wartete daraufhin geduldig, bis eine Tamilin vorbeikam und, beschloss, einen halbwegs ordentlichen Roman zu schreiben, der in dieser Gegend spielt.

Zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert gelangte Nagapattinam von den schneeweißen Händen der Portugiesen in die der Holländer und dann in die der Briten. Dass die Stadt mit all diesen Varietäten und jedem zweiten Vellaikkaaran schäkerte, tangierte ihre Verbindung zu Arabern und Chinesen nicht im geringsten. Alle stahlen ihren Reis und hinterließen als Andenken ihre Religion. Wie viele alte Frauen lebte auch sie mit den hinterlassenen Göttern. Und weil es ihr gelang, deren Geschichten zu verstehen und sich anzueignen, erhob sie sich bald über die anderen Städte und verwandelte sich von einer verschlafenen kleinen Hafenstadt in einen autarken Wallfahrtsort.

In diesem von Legenden überbordenden Land verspricht ein Tempel, dass ein Gott zum Ender des Todes werde; in Sikkal empfängt Murugan von seiner Mutter den Speer und kämpft danach gegen repressive Dämonen; ein Bad im Tempelteich von Thirunallaru rettet jedermann vor Saturns siebeneinhalbstem verflixten Jahr. Die Religion ist keine entzweiende Unruhestifterin mehr: Alle strömen in Scharen zur Nagore Sufi Dargah; alle verzweifelten Beter rutschen auf Knien zu Unserer Lieben Frau von Velankanni. Auch lässt sich über Geschmack nicht streiten: Hier wird die sonst blutdürstige Kali mit Sakkarai Pongal zufrieden gestellt, einem süßen Festmahl aus Jaggeryreisbrei, während Einheimische ein Stück weiter genau auf die Stelle zeigen können, an der Buddha mit seiner Lampe erschien, sich unter einen Baum setzte und dann verschwand. Sogar der Heilige Antonius, darauf spezialisiert, verlorene Gegenstände wiederzufinden, wurde während einer Überschwemmung in ihre Mitte getrieben. Berühmt für seinen großen Triumphwagen und seine drallen Devadasis, gewährleistete der Tempel von Tiruvarur einst, dass Götter und Menschen eine gute Fahrt hatten. Dann gibt es den Tempel für die pubertierende Neelayadakshi, die einzige tamilische Göttin mit blauen Augen. Aus dem steten Strom weißer Männer, die zu Besuch kamen, hatten zweifelsohne einige ihren Samen verstreut.

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Pfarrer Baierlein, den ein gewisser J.R.B. Gribble aus dem Deutschen übersetzt...

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