Tram 83 - Roman

Tram 83 - Roman

von: Fiston Mwanza Mujila

Paul Zsolnay Verlag, 2016

ISBN: 9783552058095

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1078 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Tram 83 - Roman



 

 

2.

 

Erste Nacht im Tram 83: Nacht der Ausschweifung, Nacht des Suffs, Nacht des Schnorrens, Nacht der vorzeitigen Samenergüsse, Nacht der Syphilis und anderer Geschlechtskrankheiten, Nacht der Prostitution, Nacht der Gerissenheit, Nacht des Tanzes und der Trance, Nacht der Dinge, die nur entstehen, wenn sehr viel Bier im Spiel ist und das Geld locker in der Tasche sitzt, Nacht, die blutiges Erz ausdünstet, Kuhmist, der in den Rang eines Rohstoffs erhoben wurde, im Anfang war der Stein …

 

 

»Wir wateten durch das Dunkel der Geschichte. Wir waren die Melkkühe eines Systems, das Profit aus unserer Jugend schlug und uns zermalmte. Wir waren der letzte Dreck.«

»Wir hatten ein Ideal – Unschuld …«

»Unschuld«, wieherte Requiem. »Hast du gerade Unschuld gesagt? Unschuld ist doch nichts als Feigheit. Du musst mit der Zeit gehen, Bruder.«

»Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Hier wird man nicht älter, hier sitzt man nur seine Zeit ab.«

»Requiem …«

»Das hier ist Neu-Mexiko. Jeder für sich und Scheiße für alle.«

Das Tram 83 war einer der Schuppen mit dem größten Angebot. Sein Ruf reichte weit über die Grenzen von Stadtland hinaus. Tram 83 sehen und sterben, schwärmten die Touristen, die aus allen Ecken der Welt kamen, um hier Geschäfte zu machen. Tagsüber irrten sie wie Zombies durch ihre zahlreichen Minen und nachts landeten sie im Tram 83, um ihr Gedächtnis aufzufrischen. Das gab dem Tram den Anstrich eines echten Theaters, wenn nicht sogar eines großes Zirkus. Und jetzt das, was aus dem Stimmengewirr herauszuhören war:

»Ich habe große Lust, dich zu massieren und dich zu lecken, dich überall zu lecken, bis mir die Spucke wegbleibt.«

Nicht nur im Tram 83, auch in der Universität und in den Minen ließen es sich die unabhängigen Frauen nicht nehmen, potenzielle Kunden mit den immer gleichen Sprüchen zu ködern.

Ob Zufallsmusiker oder Prostituierte im Seniorenalter, ob Taschenspieler oder Erweckungskirchenprediger, ob Studenten mit Mechanikerallüren oder Nachtklubärzte, ob ausgediente Jungjournalisten oder Transvestiten, ob Second-Foot-Schuhverkäufer oder Liebhaber von Pornostreifen, ob Straßenräuber oder Zuhälter oder Anwälte ohne Zulassung, ob Handlanger oder Ex-Transsexuelle, ob Waffenhändler oder Piraten, ob Asylbewerber oder in Banden organisierte Kleinkriminelle, ob Archäologen oder inkompetente Kopfgeldjäger ohne Auftrag, ob Abenteurer der Neuzeit oder Forschungsreisende auf der Suche nach einer verlorenen Zivilisation, ob Organhändler oder Hinterhofphilosophen, ob marktschreierische Frischwasserverkäufer oder Frisöre, ob Schuhputzer oder Ersatzteilmechaniker, ob Soldatenwitwen oder Sexbesessene, ob Schundromanleser oder abtrünnige Rebellen, ob Brüder in Christo oder Druiden oder Schamanen, ob Potenzmittelverkäufer oder öffentliche Schreiber, ob Verkäufer echter gefälschter Pässe oder Schusswaffenhändler, ob Lastenträger oder Trödelhändler, ob abgebrannte Erzsucher oder siamesische Zwillinge, ob Mamelucken oder Wegelagerer, ob Infanteristen oder Haruspexe, ob Falschmünzer oder nach Vergewaltigung hungernde Soldaten, ob Gepanschte-Milch-Trinker oder autodidaktische Bäcker, ob Marabus oder auf Bob Denard schwörende Söldner, ob Gewohnheitssäufer oder Grubenarbeiter, ob Warlords mit Ambitionen auf die Weltherrschaft, ob wichtigtuerische Politiker oder Kindersoldaten, ob tatkräftige Entwicklungshelfer von tausend albtraumhaften Infrastrukturprojekten wie neuen Bahntrassen und dem Abbau von Kupfererz und Mangan in Handarbeit, ob Küken oder Dealer, ob Aushilfskellnerinnen oder Pizzaboten oder Verkäufer von Wachstumshormonen, alle möglichen Gestalten fallen auf der Suche nach dem billigen Glück im Tram 83 ein.

»Wünschen die Herren Gesellschaft?«

Zwei Mädchen, kaum sechzehn Jahre alt, beide in winzige Korsagen gezwängt, begrüßten sie mit einem vieldeutigen Lächeln. Requiem entschied sich für die mit Haar wie eine Dornbuschsavanne.

»Deine Brüste löschen meinen Durst …«

»Monsieur …«

»Wie viel nimmst du für eine Massage?«

Das Mädchen nannte eine Summe.

»Dir ist schon klar, dass sich die Börse von Tokio im freien Fall befindet, oder?«

Sie packte seine Handgelenke.

»Gewinn ist gleich Verkaufspreis minus Einkaufspreis plus Verpackung.«

Am Eingang zum Tram ein großes Schild: »Nicht geeignet für Arme, Loser, Unbeschnittene, Geschichtswissenschaftler, Archäologen, Feiglinge, Psychologen, Geizhälse, Dummköpfe, Zahlungsunfähige und auch für euch, die ihr bedauerlicherweise unter vierzehn seid, nicht zu vergessen für Abgeordnete des Zwölften Hauses, abgebrannte Grubenarbeiter, sadistische Studenten, Politiker der Zweiten Republik, Historiker, Besserwisser, Spitzel …« Requiem ließ sich die Nummer des Mädchens geben. Sie betraten das Lokal. Eigentlich nichts Besonderes, dieses Tram 83. Alles schwarz, wie in der Höhle von Lascaux. Männer. Frauen. Kinder mit Alk und Kippen in der Hand. Weiter hinten eine Band, die hemmungslos ein Stück von Coltrane malträtierte, höchstwahrscheinlich Summertime. Sie gingen zur Bar. Zwei Mädchen mit Fleischtomatentitten hefteten sich an ihre Fersen, das nennt man »beschatten«.

»Was sagt die Uhr?«

Nichts. Requiems Augen wanderten in ihre Büstenhalter. Das eine war das Mädchen, das ihn vorhin angequatscht hatte, am Bahnhof, dessen halbfertiges Metallgerüst …

»Was sagt die Uhr?«, bohrten die beiden Single-Mamis nach, unbeirrt und mit Nachdruck.

Eine riesige Aufgabe, die Frauen, die ins Tram 83 kamen, zuzuordnen. Alle führten einen eisernen Kampf gegen das Altern. Eine Einteilung war nicht ganz ohne; da waren die unter Sechzehnjährigen, Küken genannt, die Single-Mamis, also die zwischen Zwanzig- und Vierzigjährigen, auch dann Single-Mamis genannt, wenn sie gar keine Kinder hatten, und schließlich die Frauen-ohne-Alter, deren festes Alter bei einundvierzig lag. Keine von ihnen konnte sich eine Falte erlauben. Man sah sie nie ohne Schminke, sie trugen falsche Brüste, alle Mittel waren ihnen recht, um Kunden zu ködern, und sie trugen fremd klingende Namen, Marylin Monroe oder Sylvie Vartan oder Romy Schneider oder Bessie Smith, Marlene Dietrich oder Simone de Beauvoir, alles war recht, um der Welt zu zeigen, dass es sie gab.

»Höchste Zeit«, entgegnete Requiem.

Sie entschieden sich für den dritten Tisch hinten links neben der Bar, der einen guten Blick auf den Eingangsbereich, die Musik verscherbelnde Jazzkapelle, die Toiletten, die Bar und eine Reihe von Single-Mamis bot, die allergisch, aggressiv, ledig und obendrein überreif waren. In seinen verrückten Momenten erzählte Requiem jedem, der es hören wollte, wie wichtig es für die Kontrolle von Verkehr und Taufurkunden war, einen Tisch zu wählen, der freie Sicht auf alle genannten Orte bot, fassen wir noch einmal zusammen: die Bar, die sanitären Anlagen, die Frauen ohne Begleitung, den Eingangsbereich, die Musiker, selbst wenn sie sich hinter die Bühne zurückzogen, um Marihuana zu rauchen, die Kellnerinnen, die Aushilfskellnerinnen … Eine Zeitlang saßen sie schweigend da. Es erforderte reichlich Mut, ein Gespräch anzufangen, in diesem Tohuwabohu aus entweihter Musik, Buhrufen der Touristen und anderer Neureicher, die sich wie zu Hause fühlten, sich berauschten, sich verrenkten, flüsterten, schrien und den Musikern Geld zuwarfen.

»Willst du kuscheln?«, »Was sagt die Uhr?«, »Du kannst mit mir machen, was du willst, fessle mich, mach mich zu deiner Sklavin, deiner Ware, deinem Jagdrevier …« Was den Eifer der Kapelle und somit auch den Lynchmord an dieser schönen Melodie noch befeuerte … In den Irrgärten von Stadtland hört man keinen Jazz, um sich den Geruch von Zuckerrohr um die Nase wehen zu lassen oder sein schwarzes Selbstbewusstsein wiederauszugraben oder die Schönheit der Klänge auszukosten: Man hört Jazz, weil Jazz einfach dazugehört, wenn man auf Geldscheinen schläft, wenn man jeden Tag seine Ware ausliefert, wenn man einer Mine vorsteht, wenn man ein Cousin des abtrünnigen Generals ist, wenn man sich eine kleine Geliebte hält, die einen ans Bett nagelt und an den Rand der Besinnungslosigkeit bringt. Jazz ist ein Zeichen von Erhabenheit, die Musik der Reichen und Neureichen, die Musik der Schöpfer dieser schönen, kaputten Welt. Diese Leute hören keine Rumba, Rumba gilt als schmutzig, primitiv und misstönend. Zwischen Jazz und Rumba liegt der Ozean, sagen sie. In Jazz kann man nicht eintauchen wie in eine Rumba an zairischer Soße. Vor allem ist Jazz ein unwegsames Gelände, eine Felswand, die man nur erklimmen kann, wenn man die Ursprünge kennt, die Geschichte, die wichtigsten Vertreter … Jazz ist längst nicht mehr Sache der Schwarzen. Nur noch Touristen und Leute, die wissen, wie man das Geld zähmt, kennen die Grundlagen dieser Musik. Sie ist das einzige Erkennungszeichen einer bestimmten Bourgeoisie, der Bourgeoisie der letzten Stunde. Deshalb schüttelt das ganze Tram 83 seine Schlafkrankheit ab, sobald Jazz gespielt wird. Beim ersten Ton aus dem Saxofon beginnt der große Maskenball. Die Grubenarbeiter und die Studenten übernehmen das Getue der Touristen. Sie schauen, lächeln, erheben die Biergläser, laufen umher, eröffnen den Tanz, winken die Kellnerinnen und Aushilfskellnerinnen heran, genau wie die Touristen, sie imitieren das stolze Auftreten eines Samurais, die Gestik eines Maharadschas, das Selbstbewusstsein eines Dalai Lama. Die Schätzchen, die Kellnerinnen und die Aushilfskellnerinnen lassen sich nicht blenden. Mit dem Lächeln der Königin von England mimen sie fiktive Kaiserinnen. Jazz ist die einzige Möglichkeit für den ganzen Abschaum im Tram 83, die Gesellschaftsschicht zu wechseln, wie man...

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