Logbuch der Gegenwart - Taumeln

Logbuch der Gegenwart - Taumeln

von: Ale? ?teger

Haymon, 2016

ISBN: 9783709937389

Sprache: Deutsch

168 Seiten, Download: 6595 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Logbuch der Gegenwart - Taumeln



Péter Nádas


Die Nachricht
von der Katastrophe


Die erzählende Dichtung des Aleš Šteger


Alles, was kaputtgehen kann, geht auch kaputt. Zum Begreifen dieser Weisheit ist kein besonders scharfer Verstand nötig, es genügt die Erfahrung des Alltags. Wir arbeiten mit technischen Geräten, deren Funktionsweise wir nicht kennen, notwendigerweise werfen wir die kaputten weg und kaufen stattdessen bessere, andere. Dieses Prinzip definiert unsere Sicht der Welt. Das Prinzip der Allmacht des Kaufens. Die Auswirkungen und Defekte größerer Systeme verursachen dann einen richtigen Kurzschluss in unserem Denken. Kein Wunder. Ausgetrocknete Flussbette und plötzliche Überflutungen kann man nicht wegwerfen, man kann nicht einmal mit ihnen rechnen.

Auch wir, eine Frau und ein Mann, arbeiteten unter dem wolkenlos blauen Aprilhimmel, mit der Heugabel wendeten wir das gemähte Gras, damit gutes, trockenes Heu daraus entstand, das der Nachbar für seine Kuh holen würde. Doch wie sollte er es seiner Kuh geben, wenn nicht nur sämtliche Halme unseres Grases, sondern jeder einzelne Halm von jedermanns Gras, vom Baltischen Meer bis zu den Bergen des Balkans, radioaktiv verseucht war. Oder was sollten wir mit dem besonders früh und üppig gedeihenden Spinat anfangen. Sollten wir ihn ernten, blanchieren, kühlen, portionieren und in die Tiefkühltruhe geben, wie wir es in früheren Jahren getan hatten? Die Strahlung ist nicht wahrnehmbar. Oder sollten wir das Ganze abschneiden und es auf den sorgfältig gepflegten und deswegen reichlich mit Würmern durchsetzten Komposter werfen, der infolge der Explosion von Tschernobyl ebenso kontaminiert war, wie unser Gras und unser Haar.

Die Katastrophe unterscheidet sich dadurch von allen anderen Situationen des Lebens, dass sie sich persönlich an dich wendet, es gibt kein Schlupfloch, ihren klaren Fragen zu entkommen, es gibt keinen Aufschub, und nicht nur du weißt keine Antwort auf sie, niemand weiß eine. Und Gott ist, wie allgemein bekannt, schweigsam. Du kannst nicht sagen, es fällt zwar radioaktiver Regen, doch morgen wird er aufgehört haben. Du kannst nicht sagen, es brennt zwar die Sonne der globalen Erwärmung nieder und lässt vor deinen Augen die Flussbette austrocknen und das Getreide verdorren, doch dann oder dann wird es regnen. Unter dem Gewicht der Katastrophe bricht als Erstes das universale menschliche Prinzip der Hoffnung in sich zusammen. Es gibt nichts, weswegen, und nichts, worüber man sprechen könnte, wenn man keinen Unsinn reden will. Inmitten der Katastrophe kann der Verstand immerhin noch erfassen, dass das Wort bis dahin ausschließlich vom Prinzip Hoffnung genährt wurde und es nun kein Weiter gibt. Es ist zu spät. Man kann nicht jeden bis dahin von der Menschheit ausgesprochenen Satz nachträglich abändern oder korrigieren. Die Erkenntnis, dass wir auch das Prinzip Hoffnung missbraucht haben, kommt spät. Ich würde vielleicht sogar sagen, wir haben auch das biblische Gebot der Vermehrung missbraucht.

Das Dichterwort vermag zuweilen doch ein wenig mehr, es kann weiter gehen, und lässt sich selbst dann vernehmen, wenn andere nichts Vernünftiges zu sagen, ja nicht einmal Wasser, nicht einmal Luft zum Atmen haben. Aleš Šteger ist ein Meister der unmöglichen poetischen Äußerung. Seine Vorsicht, seine Behutsamkeit, seine Umsicht hat er höchstwahrscheinlich von den Göttern bekommen, die ihm zudem ein schönes Lächeln geschenkt haben. Ich möchte hinzufügen, dass er das alles nicht von den römischen, sondern von den byzantinischen Göttern bekommen hat.

Denn es ist in meinem als Zugabe erhaltenen Leben nach Tschernobyl kaum ein Vierteljahrhundert vergangen, als ich in einer Live-übertragung mitansehen musste, wie eine wunderschön gealterte japanische Gärtnerin auf den Knien rutschend aus ihren Spinatbeeten die größten Blätter einzeln herauszupft, damit die kleineren noch wachsen können. Sie arbeitet unerschütterlich, inmitten einer üppigen Spinatpflanzung. Gleichwohl werden ihre vom fachlichen Standpunkt perfekten Bewegungen nicht mehr vom Prinzip Hoffnung, sondern vom Mangel einer Alternative in Gang gehalten. Wider alle Vernunft gehorcht sie ihrer Disziplin. In ihrer unmittelbaren Umgebung ist der Behälter bei etwa 2800˚ Celsius durchgebrannt, es ist eingetreten, was eintreten konnte. Die vollständige Kernschmelze in drei Atomreaktoren. Es folgen die drei Explosionen. Regen fällt. Der Spinat muss geerntet werden. Sie hat einen Regenmantel gekauft.

Auch inmitten einer Katastrophe macht es keinen Sinn, die Katastrophe auszurufen. Šteger schlägt nur leise Töne an. Dabei weiß er, was die japanische Gärtnerin weiß und was wir alle wissen. Das urzeitliche Verhaltensprinzip des sinnvollen Schweigens hat, wie auch die lautstarke Prophezeiung, heutzutage zwar jeden Sinn verloren, beides funktioniert dennoch als Prinzip des Handelns.

Er handelt so, wie die uralte Japanerin an diesem regnerischen Märzmorgen unter dem schwerst kontaminierten Himmel von Fukushima. Er sieht, was sie sieht, er sieht, was wir sehen, und er gehorcht dem Gebot seiner Profession. Höchstens sagt er trotzig zu sich selbst, er werde in seinem abgeschlossenen Zimmer sicher keine Gedichte mehr schreiben. Ein Entschluss würdig eines bedeutenden Philosophen. Ein wenig erinnert er an Diogenes von Sinope, der auch rasend gewordener Sokrates genannt worden ist, weil er im Namen der Prinzipien der Natur gesellschaftliche Konventionen aufs Korn nahm. Ich bleibe nicht in meinem Zimmer und gehe los, um die Grenzen meines Geburtshauses abzuschreiten. Allerdings haben Grenzen im Himmel und auf Erden alle ihre früheren Funktionen verloren. Es gibt keine Gewalt, keinen Stacheldraht, keine Armee, die sie schützen würden. Von da an schreibe nicht mehr ich meine Gedichte, mein Weg schreibt sie. Mein Ich ist nicht mehr und nicht weniger als die Außenwelt. Ich soll ein verlorener Handschuh werden, weil es auf dem Weg verlorene Handschuhe erblickt. Auch seine Stilistik folgt schließlich dem Prinzip des Handschuhs, sie wird zwischen Erzählung und Gedicht oszillieren, er wandelt sie ineinander um, auf diese Weise reist er nicht nur im Raum, sondern öffnet sich einen eigenen Weg zwischen den beiden großen literarischen Gattungen. Auch in seinen Gedichten ist Aleš Šteger ein Erzähler, der auch dann Lyriker bleibt, wenn er Prosa schreibt, und nicht deshalb, weil diese Prosa rhythmisch ist. Mit der Umwandlung gewinnt er Klarheit über einen geheimnisvollen Unterschied. Es ist ein höchst bemerkenswerter Umstand, dass er es gerade zu der Zeit tut, als sein ungarischer Dichterkollege János Térey auf ganz ähnliche Weise die Gedichtsprache hinter sich lässt und sich auf eine Prosa verlegt, die durch und durch Lyrik bleibt. Natürlich haben beide ihre Vorgänger im zweiten und dritten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, unter den polnischen, tschechischen und russischen Katastrophisten, die angesichts der neuerlich nahenden Katastrophe unzufrieden mit den westlichen Avantgarde- bewegungen, dem Futurismus, dem Dadaismus und dem Surrealismus sind und nicht allein auf dem Individuellen, sondern auch auf dem anthropologisch Gemeinsamen aufbauen.

Šteger ist auf dem grenzüberschreitenden Fußweg auch zu uns gekommen, schon allein deshalb, weil wir wirklich nicht weit von der Grenze seines Heimatlandes wohnen. Matthias Göritz, sein deutscher Übersetzer, schreibt über ihn: „Wer ihn lesen hört und mit ihm spricht, ist von seinem Charme eingenommen, einem unverwechselbaren Charme, der sich auch in seinen Gedichten findet.“ Nie habe ich ihn deutlicher in seiner leiblichen Wirklichkeit erlebt, als nach diesem Fußmarsch, wie er dastand und wartete, dass ich das Gartentor öffne. Sein urbaner Charme, wie ich ihn aus Paris, Berlin und Ljubljana von früher gut kannte, war verschwunden, hatte sich verflüchtigt. Vom langen Fußmarsch war er so stark und sonnengegerbt, wie seine Ahnen gewesen sein mochten, aller Wahrscheinlichkeit nach Hirten im Gebirge, an die er vielleicht selbst keine Erinnerung hat. Er brachte sie mit seiner leiblichen Wirklichkeit mit, dergestalt waren die Unbekannten mitmarschiert. In den Großstädten der Welt kommt man ohne Lächeln nicht aus, nun aber lächelte er kaum, sein Lächeln leuchtete eher aus der Tiefe seiner Aufmerksamkeit.

Oder er setzt sich auf einem bedeutenderen Platz seiner Stadt ins Schaufenster eines Kaufhauses, um inmitten der Katastrophe nicht mit seinem Gedicht allein zu sein, damit Individuum und Umgebung sich gegenseitig durchdringen, um Gemeinsamkeit zu schaffen. Dort werde ich schreiben, sagt er, im Schaufenster, was wahrlich dem Akt eines Diogenes gleichkommt. Wenn es nun mal keinen Unterschied zwischen innen und außen mehr gibt, keinen geben kann, wenn es keine Grenze gibt, wenn wir nun mal nach außen und nach innen gekehrt, ineinander umgewandelt werden können, wenn das Universelle und das Individuelle sich im Moment der Katastrophe berühren und aneinander festbrennen, dann soll ihre Gemeinsamkeit doch endlich auch im Gedicht keine zwei getrennten Phänomene bilden. Ein Gedicht soll sich von meiner Haut nicht unterscheiden. Oder er lässt diese nicht wahrnehmbaren Signale auch durch seine Haut hindurch und fährt geradewegs nach Fukushima. Und wenn er Kunde davon erhält, dass in der mexikanischen Provinz Guerrero Polizisten und maskierte...

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