Das geheime Leben im Menschen - Ein faszinierender Blick auf die Gesellschaft unserer Gene

Das geheime Leben im Menschen - Ein faszinierender Blick auf die Gesellschaft unserer Gene

von: Itai Yanai, Martin Lercher

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732531646

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 7328 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das geheime Leben im Menschen - Ein faszinierender Blick auf die Gesellschaft unserer Gene



IN ACHT EINFACHEN SCHRITTEN ZUM KREBS


»Mit großer Macht geht
große Verantwortung einher.«

Voltaire

Bob Marleys Reggae inspirierte Millionen. Doch seine Karriere fand ein tragisches, vorzeitiges Ende, als er mit sechsunddreißig an den Folgen einer Hautkrebserkrankung starb. Der Krebs hatte vier Jahre zuvor begonnen, scheinbar harmlos – als kleiner Fleck unter einem Zehennagel, den Marley einer Fußballverletzung zuschrieb. Als seine Ärzte auf einer Amputation des Zehs bestanden, stellte Marley sich quer: Seine Rastafari-Auslegung eines Verses aus dem 3. Buch Mose (»Ihr dürft euch nicht … Einschnitte an eurem Leibe machen«) verbiete einen solchen Eingriff. Der Tumor breitete sich ungebremst in seinem Körper aus, angetrieben von der zwingenden Logik der natürlichen Auslese. Marley hätte den Tumor vielleicht rechtzeitig entfernen lassen, wenn er verstanden hätte, wie Evolution in unserem Körper Krebszellen entstehen lässt. Womöglich hätte er sogar seinen Einzug in die Rock and Roll Hall of Fame im Jahr 1994 noch persönlich erlebt.

Krebs ist die vielleicht schrecklichste aller Volkskrankheiten; ganz sicher ist es die am schwersten zu vermeidende und zu behandelnde. Während moderne Medikamente viele andere Krankheiten überwinden können, tut sich die Pharmaindustrie im Umgang mit Krebs enorm schwer. Warum ist der Verursacher von Krebs so schwer zu packen?

Krebs ist kein Angriff auf den Körper von außen. Krebs ist auch kein schrecklicher Unfall im Körper des Betroffenen. Krebs ist eine Machtdemonstration der Evolution. Die Krebsentstehung folgt einer unausweichlichen Logik – sie beruht auf denselben Prinzipien, die die Evolution von Tieren und Pflanzen vorantreiben. Als Auftakt zur Geschichte der Gengesellschaft machen wir Bekanntschaft mit Zellen, mit Genen und mit der Evolution, immer aus dem Blickwinkel der Krebsentstehung.

Krebsgeschwüre sind ein Teil von uns, sie sind ein natürlicher (wenn auch zum Glück nicht normaler) Bestandteil unseres Körpers. Genau das macht ihre Verhütung und Behandlung so schwierig. Wir können den menschlichen Körper als ein Gebäude betrachten, das aus Billionen (das heißt aus Millionen Millionen) Bausteinen, den Zellen, besteht. Zellen tauschen Nährstoffe und chemische Signale aus. Jede Zelle arbeitet wie eine kleine Fabrik. Verschiedene Zellen sind auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert, die zum Gelingen des Gesamtprojekts – dem Bau und Betrieb der Überlebensmaschine Körper – beitragen. In Krebspatienten verweigert sich eine Gruppe von Zellen der Zusammenarbeit mit dem Rest des Körpers und beginnt stattdessen, sich auf Kosten der anderen unkontrolliert zu vermehren.

Neue Zellen entstehen ausschließlich durch die Teilung einer bestehenden Zelle, der Mutterzelle, in zwei Tochterzellen. Deshalb können wir alle Zellen unseres Körpers auf einem gigantischen Stammbaum anordnen, der Mutterzellen mit Tochterzellen verbindet. Die Wurzel dieses Stammbaums ist die einsame befruchtete Eizelle, die den Anfang unseres Lebens markiert. Ein Stammbaum mit Billionen Ästen passt auf kein Blatt Papier; deshalb illustriert Abbildung 1.1 das Stammbaumprinzip für Zellen am Beispiel eines viel einfacheren Tieres, als wir es sind: eines Fadenwurms.

Abb. 1.1: Der Zellstammbaum des winzigen Fadenwurms Caenorhabditis elegans. In nur dreizehn Stunden entwickelt sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle (oben) ein einfaches Tierchen mit genau 558 Zellen (unten). Die Mitte zeigt den sich entwickelnden Embryo; Kreise stellen einzelne Zellen dar. Jede senkrechte Linie entspricht einer sich entwickelnden Zelle, jede waagerechte Linie markiert eine Zellteilung. Gruppen von Zellen spezialisieren sich auf die Konstruktion einzelner Organe, wie den Rachen oder Nerven. Menschliche Zellstammbäume sehen prinzipiell genauso aus – nur sehr, sehr viel größer.

Aus einer befruchteten Eizelle entwickelt sich ein kompletter Mensch, ohne dass es dazu einen Bauleiter oder Architekten braucht. Die nach und nach entstehenden Zellen teilen sich die Verantwortung für die nötige Koordination. Das ist, als würden jeder Stein, jedes Kabel und jedes Rohr eines Wolkenkratzers über die Pläne für das komplette Gebäude verfügen und jeweils mit ihren Nachbarn beraten, wo sie sich am besten hinplatzieren.

Auch Krebs ist ein Ast im Zellstammbaum eines Patienten, eine wuchernde Masse seiner eigenen Zellen. Jedes Krebsgeschwür beginnt als die Spitze eines winzigen Zweiges, als eine einzige Zelle. Die Zelle und ihre Nachkommen teilen sich immer weiter, weit über den Punkt hinaus, an dem sie längst hätten aufhören sollen. Die Krebszellen überwuchern so den Körper. Sie werden schließlich so zahlreich und verbrauchen so viel Nährstoffe, dass andere Organe ausgehungert zusammenbrechen – das katastrophale Ende der Arbeitsteilung zwischen den Zellen.

Woher wissen unsere Zellen, wann sie sich teilen sollen und wann nicht? Zellteilung ist ein komplizierter Prozess, der genau orchestriert werden muss. Wenn auch nur die Hälfte der Zellen in unserem Gesicht oder unserer Hand sich einmal zu viel geteilt hätte, dann hätten wir entfernte Ähnlichkeit mit Joseph Merrick, der im 19. Jahrhundert sein Brot damit verdiente, dass er sich selbst als den »Elefantenmenschen« zur Schau stellte.

Solche unerwünschten Zellteilungen werden normalerweise durch eine Art Demokratie im Zaum gehalten: Zellen wachsen und teilen sich nur dann, wenn ihre Nachbarzellen sie dazu auffordern. Dazu kommunizieren die Zellen durch Wachstumsfaktoren, spezielle Botenstoffe, die im Zellinneren produziert und dann von der Zelle abgesondert werden. Eine Zelle teilt sich nur dann, wenn sie entsprechende Signale von genügend Nachbarn gleichzeitig erhält. Diese Aufsummierung von Signalen ist ein Sicherheitsmechanismus, um den Körper vor den Fehlentscheidungen einzelner Zellen zu schützen.

Eine Erkrankung des Genoms


Krebszellen sind anders als andere Zellen. Sie vervielfältigen sich ohne Rücksicht auf das, was ihre Nachbarn sagen. Was macht sie so anders? Im Herzen einer jeden Zelle, egal bei welchem Lebewesen, sitzt das Genom. Man kann jedes menschliche Genom als einen Text aus sechs Milliarden Buchstaben betrachten, etwa dreihundertmal so viele wie in Goethes gesammelten Werken. Diese Buchstaben verteilen sich auf sechsundvierzig Bände, die Chromosomen. Dabei bringt unser Genom seine eigene Sicherungskopie mit: Je zwei der sechsundvierzig Bände sind – bis auf ein paar »Druckfehler« – miteinander identisch. Dabei gibt es nur eine einzige Ausnahme: die ungepaarten Geschlechtschromosomen von Männern, X und Y (Frauen haben auch hier ein Paar, zweimal X).

Der Genomtext ist in einem Alphabet aus nur vier Buchstaben geschrieben: A, T, C und G – die Abkürzungen für vier als Nukleobasen (oder schlicht Basen) bezeichnete Moleküle: Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Zur Bildung eines Chromosoms werden Millionen solcher Basen zu einer Kette verknüpft. Dadurch entsteht ein riesiges Molekül namens Desoxyribonukleinsäure – nach der englischen Schreibweise (deoxyribonucleic acid) üblicherweise abgekürzt als DNA.

Abb. 1.2: Ein Chromosom ist ein gigantisches Molekül aus Millionen Basen (die vier »Buchstaben« A, T, C und G), die zu zwei komplementären Ketten (oder »Strängen«) verbunden sind. Chromosomen verändern im Lebenszyklus einer Zelle ihre Form. Der oberste Teil der Abbildung zeigt ein Chromosom in seiner kompaktesten Form, in der die Doppelketten eng zusammengeknäult sind. Darunter ist ein kleiner Abschnitt des Chromosoms in zunehmender Vergrößerung dargestellt. Der unterste Teil zeigt die beiden sich ergänzenden Ketten: Dabei paart A sich immer mit T, C immer mit G.

Chromosomen bestehen aus zwei parallelen, eng miteinander verknüpften DNA-Ketten (Abb. 1.2). Die Ketten sind »komplementäre Spiegelbilder«: Sie ergänzen sich gegenseitig, jedes A in der einen Kette ist mit einem T in der anderen Kette verbunden, und jedes C ist mit einem G gepaart. Wenn wir die im Genom gespeicherte Information als eine Abfolge von Buchstaben beschreiben, genügt es deshalb, nur eine der beiden Ketten zu betrachten. Die andere Kette können wir anhand der Regeln für die komplementären Spiegelbilder einfach dazukonstruieren.

Um eine Vorstellung von unserem Genomtext zu bekommen, betrachten wir einmal dieses winzige Bruchstück von Chromosom 9:

…ACCAGTTCTCCATGATGTGAATTTTCCATGTATGACTGAACCACAATATCTCAGGG ACCCCATAAATAT…

Dieser Abschnitt ist für sich genommen nicht sehr informativ. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, jeden einzelnen Buchstaben in diesem viele Millionen Jahre alten Text deuten zu können. Kein Genom wurde jemals vollständig entschlüsselt: Wir mögen alle Buchstaben gelesen haben, aber wir haben häufig schlicht keine Ahnung, was sie bedeuten.

Texte in einer beliebigen Sprache können in Absätze unterteilt werden, die mehr oder weniger zusammenhängende Gedanken verkörpern. Auf ganz ähnliche Weise können wir ein beliebiges Genom in separate Abschnitte aufteilen, die sogenannten Gene. Die bedeutendsten Gene sind präzise, bauplanartige Beschreibungen für die Konstruktion von Eiweißen (Proteinen); davon hat jeder von uns etwa 20 000. Eiweiße führen die meisten Arbeiten in einer Zelle aus, und ihre Gene sind die Protagonisten dieses Buches.

Die Buchstabenfolge jedes dieser...

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