Literatur lesen - Eine Einladung

Literatur lesen - Eine Einladung

von: Terry Eagleton

Reclam Verlag, 2016

ISBN: 9783159610757

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 3390 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Literatur lesen - Eine Einladung



2 Figuren


Oft wird die »Literarizität« eines Theaterstücks oder eines Romans übersehen, weil man die darin vorkommenden Figuren wie wirkliche Menschen behandelt. In gewisser Hinsicht lässt sich das tatsächlich kaum vermeiden. Beschreibt man König Lear als mobbenden, jähzornigen und verblendeten Menschen, klingt es unweigerlich so, als charakterisiere man einen modernen Zeitungsmagnaten. Der Unterschied zwischen Lear und dem Magnaten besteht jedoch darin, dass Ersterer nichts weiter ist als ein Muster aus schwarzen Punkten auf einer Buchseite, wohingegen Letzterer es leider nicht ist. Der Magnat existierte schon, bevor wir ihm begegnen, was nicht auf literarische Figuren zutrifft. Hamlet war kein Student einer Universität, bevor das Stück beginnt, obwohl wir in Hamlet erfahren, dass er in Wittenberg studiert hat. Hamlet gab es schlicht und einfach nicht. Hedda Gabler hat keine Sekunde existiert, wenn sie die Bühne betritt, und all das, was wir je über sie erfahren werden, ist das, was Ibsens Stück uns mitzuteilen beschließt. Andere Informationsquellen gibt es nicht.

Als Heathcliff auf unbekannte Zeit von Wuthering Heights verschwindet, teilt uns der Roman nicht mit, wohin genau er geht. Eine Theorie besagt, er sei nach Liverpool zurückgekehrt, wo man ihn als Kind gefunden hat, und sei im dortigen Sklavenhandel zu Geld gekommen, aber genauso gut könnte er einen Friseursalon in Reading eröffnet haben. In Wahrheit hält er sich an gar keinem Ort auf der Landkarte auf. Stattdessen begibt er sich an einen unbestimmbaren Ort. Solche Aufenthaltsorte gibt es im wirklichen Leben nicht, nicht einmal in Gary, Indiana, aber eben in der Literatur. Genauso gut könnten wir uns fragen, wie viele Zähne Heathcliff hat, und die einzige mögliche Antwort würde lauten: eine unbestimmbare Anzahl von Zähnen. Zwar ist es zulässig, wenn wir davon ausgehen, dass er Zähne hat, aber der Roman sagt uns nicht, wie viele es sind. Ein berühmter kritischer Essay trägt den Titel: »How Many Children had Lady Macbeth?« (»Wie viele Kinder hatte Lady Macbeth?«). Wir können aus dem Stück folgern, dass sie vermutlich zumindest ein Kind zur Welt gebracht hat, aber wir erfahren nicht, ob sie noch weitere gebar. Daher hat Lady Macbeth eine unbestimmbare Anzahl Kinder, was sich als beruhigend erweisen dürfte, wenn es um den Aspekt des Kindeswohls geht.

Literarische Figuren haben keine Vorgeschichte. Angeblich soll ein Theaterdirektor, der eins von Harold Pinters Stücken auf die Bühne brachte, den Autor um ein paar Tipps hinsichtlich der Frage gebeten haben, was die Figuren getan haben könnten, bevor sie die Bühne betreten. Pinters Antwort lautete: »Mind your own fucking business« (etwa »Das geht Sie einen verdammten Dreck an«). Emma Woodhouse, die Heldin aus Jane Austens Roman Emma existiert nur so lange, wie jemand über sie liest. Liest daher niemand über sie (was unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, wie brillant der Roman geschrieben ist und wie viele Millionen englischsprachige Leser es weltweit gibt), versinkt sie im Nicht-Dasein. Emma überlebt sozusagen den Schluss von Emma nicht. Sie lebt in einem Text, nicht auf einem großen Anwesen auf dem Land, und ein Text ist ein Vorgang oder eine Interaktion zwischen sich selbst und einem Leser. Ein Buch ist ein Gegenstand, der auch existiert, wenn ihn niemand in die Hand nimmt, aber das trifft nicht auf einen Text zu. Ein Text ist ein Muster aus Bedeutung, und derartige Muster führen kein Eigenleben wie etwa Schlangen oder Sofas.

Einige viktorianische Romane enden damit, dass sie einen wohlmeinenden Blick auf die Zukunft ihrer Figuren werfen; sie stellen sich vor, dass die Figuren alt und grau werden und zufrieden inmitten einer Schar Enkel sitzen. Man hat den Eindruck, als falle es diesen Romanen schwer, ihre Figuren gehen zu lassen, genau wie es Eltern bisweilen schwerfällt, die eigenen Kinder loszulassen. Aber der wohlmeinende Blick auf die Zukunft der literarischen Figuren ist natürlich nichts anderes als ein literarischer Kunstgriff. Literarische Figuren haben keine Zukunft, genauso wenig wie Serienkiller mit Sicherheitsverwahrung. Shakespeare verdeutlicht das in einer wunderschönen Passage im 4. Akt von The Tempest:

[…] be cheerful, Sir.

Our revels now are ended. These our actors,

As I foretold you, were all spirits, and

Are melted into air, into thin air;

And, like the baseless fabric of this vision,

The cloud-capp’d towers, the gorgeous palaces,

The solemn temples, the great globe itself,

Yea, all which it inherit, shall dissolve,

And, like this insubstantial pageant faded,

Leave not a rack behind. We are such stuff

As dreams are made on; and our little life

Is rounded with a sleep.

[…] seid guten Mutes. Unsere Spieler – ich sagte es vorher – waren sämtlich Geister und haben sich in Luft verflüchtigt, in dünne Luft. Und wie das im Nichts gegründete Gebäude dieses Geisterbildes werden einst auch die wolkenbekränzten Türme, die Prunkpaläste, die heiligen Tempel, ja selbst dieses Erdenrund, mit allen, die es in Besitz genommen haben, der Auflösung verfallen und so, wie dieses wesenlose Schauspiel schwand, nicht einmal ein Wölkchen zurücklassen. Wir sind aus solchem Stoff, wie Träume sind; und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.

Sobald sich das Stück dem Ende zuneigt, lösen sich seine Figuren und Ereignisse in Luft auf, da alles Fiktive keinen Ort mehr hat, an den es gehen könnte. Auch der Autor ist im Begriff, London zu verlassen und in seinen Heimatort Stratford zurückzukehren. Interessanterweise vergleicht diese Rede von Prospero nicht die Unwirklichkeit der Bühne mit der fassbaren Existenz aus Fleisch und Blut echter Menschen. Im Gegenteil, diese Zeilen greifen die Flüchtigkeit von Theaterfiguren auf und verwenden dies als Metapher für die flüchtige, fantasiebehaftete Eigenschaft des wirklichen menschlichen Lebens. Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind, nicht bloß die Produkte von Shakespeares Einbildungskraft wie Ariel und Caliban. Die wolkenhohen Türme und prächtigen Paläste dieser Erde sind nichts weiter als Bühnenrequisiten.

Das Theater kann uns einige Wahrheiten lehren, aber es ist die Wahrheit von der illusorischen Eigenschaft unserer Existenz. Es vermag uns die traumhafte Qualität unseres Lebens ins Bewusstsein zu bringen und führt uns vor Augen, wie kurz unser Leben ist, welchen Veränderungen es unterworfen ist und wie wenig festen Halt wir haben. Indem das Theater uns an unsere Sterblichkeit erinnert, kann es in uns die Tugend der Demut fördern. Eine wertvolle Errungenschaft, da viele unserer moralischen Schwierigkeiten von der unbewussten Annahme herrühren, wir würden ewig leben. Tatsache ist jedoch, dass unserem Leben ein Schlusspunkt beschieden ist wie dem Ende von The Tempest. Dies mag jedoch nicht so erschreckend sein, wie es klingt. Wenn wir nämlich akzeptieren würden, dass unsere Existenz genauso zerbrechlich und flüchtig ist wie die von Prospero und Miranda, könnten wir daraus einen Vorteil für uns ziehen. Wir könnten ein weniger verkrampftes Leben führen, das Leben mehr genießen und andere weniger verletzen. Vielleicht fordert uns Prospero deshalb in diesem Zusammenhang dazu auf, fröhlich zu sein. Die Vergänglichkeit der Dinge sollte nicht nur bedauert werden. Die Liebe und Flaschen von Châteauneuf-du-Pape vergehen zwar, aber auch Kriege und Tyrannen.

Der Begriff »Charakter« kann heutzutage Kennzeichen, Schriftzeichen oder Symbol bedeuten, oder eben auch eine literarische Figur. Das Wort kommt von dem griechischen Begriff für »Prägestempel«, bezieht sich also ursprünglich auf ein Werkzeug zum Gravieren von Zeichen. Diese Bedeutung wurde übertragen auf die besondere Eigenart eines Individuums, ähnlich einer unverwechselbaren Unterschrift. Ein Charakter, wie heutzutage ein Führungszeugnis, war ein Zeichen, Porträt oder eine Beschreibung dessen, was einen Mann oder eine Frau ausmacht. Das Zeichen, das für das Individuum stand, wurde zum Individuum. Fortan beschrieb die Besonderheit des Zeichens die Einzigartigkeit der jeweiligen Person. Das Wort »Charakter« ist daher ein Beispiel für die Rede- oder Stilfigur der Synekdoche, bei der ein Wort durch einen engeren oder weiteren Begriff ersetzt wird.

Diese Beobachtung ist nicht nur von technischem Interesse. Die Bedeutungsverlagerung vom Charakter als besonderes Zeichen eines Individuums zum Individuum selbst geht einher mit sozialgeschichtlichen Ereignissen. Dieser Wandel ist eng verknüpft mit dem Aufkommen des modernen Individualismus. Fortan werden Individuen durch das definiert, was sie besonders erscheinen lässt, wie etwa ihre Unterschrift oder die einzigartigen Merkmale ihrer Persönlichkeit. Was uns voneinander unterscheidet, ist wichtiger als das, was wir gemein haben. Ein Tom Sawyer wird durch all die Attribute zu Tom Sawyer, die er nicht mit Huck Finn teilt. Lady Macbeth ist so, wie sie ist, und zwar aufgrund ihres eisernen Willens und ihres drängenden Ehrgeizes, nicht weil sie leidet, lacht, trauert oder niest. Da sie letztere Aspekte mit dem Rest der Menschheit teilt, zählen sie nicht zu den Eigenschaften ihres Charakters. Überspitzt gesagt: Diese ziemlich eigenartige Auffassung vom Menschen legt nahe, dass vieles (vielleicht das meiste) von dem, was den Menschen ausmacht, gar nicht wirklich zum Menschen gehört. Sie stellen kein markantes Merkmal dar; und da Charakter oder Persönlichkeit als unvergleichliche...

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