Was ich euch nicht erzählte - Roman

Was ich euch nicht erzählte - Roman

von: Celeste Ng

dtv, 2016

ISBN: 9783423429603

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 971 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was ich euch nicht erzählte - Roman



eins


Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 3. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück. Ihre Mutter hat wie immer neben die Müslischale einen angespitzten Bleistift gelegt und Lydias Physiksachen, sechs Aufgaben markiert mit kleinen Häkchen. Ihr Vater, der gerade zur Arbeit fährt, dreht den Wählerknopf auf WXKP, den besten Nachrichtensender in Nordwest-Ohio, und ärgert sich über das statische Rauschen. Lydias Bruder, noch immer verstrickt in das Ende seines Traums, gähnt auf der Treppe. Und auf einem Stuhl in der Küchenecke kauert Lydias Schwester, noch müde, über ihren Cornflakes, lutscht sie einzeln zu Matsch und wartet auf ihre große Schwester. Sie ist es schließlich, die sagt: »Heute braucht Lydia aber lang.«

Oben öffnet Marilyn die Zimmertür ihrer Tochter und sieht das unberührte Bett: die Laken unter der Tagesdecke ordentlich eingeschlagen, das Kissen noch aufgeschüttelt und rund. Alles an seinem Platz. Auf dem Boden eine zerknäulte senffarbene Cordhose, daneben eine einzelne geringelte Socke. An der Wand mehrere Schleifen von Wissenschaftsprojekten und eine Postkarte von Einstein. Lydias Reisetasche zerknautscht auf dem Schrankboden. Lydias grüne Schultasche an den Schreibtisch gelehnt. Lydias Mädchenparfum auf der Kommode, der süße, pudrige Babyduft hängt noch in der Luft. Aber keine Lydia.

Marilyn schließt die Augen. Vielleicht ist Lydia da, wenn sie sie wieder öffnet, die Decke wie gewohnt über den Kopf gezogen, eine Haarsträhne, die darunter vorlugt. Ein mürrischer, eingerollter Haufen, den sie vorher übersehen hat. Ich war im Bad, Mom. Ich war unten und wollte Wasser trinken. Ich hab die ganze Zeit hier gelegen. Natürlich ist alles unverändert, als sie wieder hinsieht. Die geschlossenen Vorhänge leuchten wie ein leerer Fernsehbildschirm.

Unten bleibt sie in der Küchentür stehen, eine Hand auf jeder Seite des Rahmens. Ihr Schweigen sagt alles. »Ich seh mal draußen nach«, meint sie schließlich. »Vielleicht ist sie aus irgendeinem Grund –« Auf dem Weg zur Haustür richtet sie den Blick auf den Boden, als könnten Lydias Fußabdrücke im Flurläufer erkennbar sein.

Nath sagt zu Hannah: »Gestern Abend war sie in ihrem Zimmer. Ich hab das Radio gehört. Um halb zwölf.« Er hält inne und erinnert sich, dass er nicht Gute Nacht gesagt hat.

»Kann man mit sechzehn entführt werden?«, fragt Hannah.

Nath stößt seinen Löffel in die Schale. Die Cornflakes tauchen unter und versinken in der schimmernden Milch.

Ihre Mutter kommt wieder in die Küche, und für den wunderbaren Bruchteil einer Sekunde seufzt Nath erleichtert: Da ist Lydia ja. Manchmal passiert das – ihre Gesichter sind einander so ähnlich, dass man die eine aus dem Augenwinkel sieht und sie mit der anderen verwechselt: das gleiche elfenhafte Kinn, hohe Wangenknochen und ein Grübchen in der linken Wange, die gleiche schmale Statur. Nur die Haarfarbe ist anders, Lydias ist pechschwarz, das ihrer Mutter honigblond. Er und Hannah geraten nach ihrem Vater – einmal wurden sie im Supermarkt von einer Frau gefragt: »Seid ihr Chinesen?«, und als sie ja sagten, weil sie die Sache nicht vertiefen wollten, nickte die Frau beflissen und meinte: »Ich wusste es. Wegen der Augen.« Dann zog sie ihre Augenwinkel mit den Fingerspitzen nach außen. Lydia dagegen hat der Genetik getrotzt und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, noch ein Grund, wie Nath und seine kleine Schwester wissen, warum sie das Lieblingskind ihrer Mutter ist. Und auch das ihres Vaters.

Dann legt Lydia eine Hand an die Stirn und wird wieder zu seiner Mutter.

»Das Auto ist noch da«, sagt sie, doch das wusste Nath schon vorher. Lydia kann nicht fahren; sie hat noch nicht mal eine Lernerzulassung. Zur Überraschung aller war sie letzte Woche durch die Prüfung gefallen, und ohne die Erlaubnis wollte ihr Vater sie nicht ans Steuer lassen. Nath rührt seine Cornflakes um, die am Boden der Schale zu Brei geworden sind. Die Uhr im Flur tickt und schlägt halb acht. Niemand rührt sich.

»Müssen wir heute trotzdem in die Schule?«, fragt Hannah.

Marilyn zögert. Schließlich geht sie zu ihrer Handtasche und holt schwungvoll ihre Schlüssel heraus. »Ihr habt den Bus verpasst. Nath, du kannst mein Auto nehmen und Hannah unterwegs absetzen.« Dann: »Keine Sorge. Wir finden heraus, was los ist.« Sie schaut keinen der beiden an. Und umgekehrt auch nicht.

Als die Kinder weg sind, holt sie einen Becher aus dem Schrank und versucht, dabei ihre Hände still zu halten. Vor langer Zeit – Lydia war erst elf Monate alt gewesen – hatte Marilyn sie einmal allein auf einer Decke spielend im Wohnzimmer gelassen, um sich in der Küche Tee zu kochen. Als sie den Kessel vom Herd nahm und sich umdrehte, stand Lydia in der Tür. Sie war erschrocken und hatte die Hand auf die heiße Platte gelegt. Ein roter, spiralförmiger Wulst entstand auf ihrer Handfläche, und sie hielt ihn an den Mund und betrachtete ihre Tochter durch tränennasse Augen. Lydia stand merkwürdig aufmerksam da, als würde sie die Küche zum ersten Mal wahrnehmen. Marilyn dachte nicht daran, dass sie die ersten Schritte ihrer Tochter verpasst hatte oder wie groß sie geworden war. Und sie fragte sich auch nicht: Wie konnte mir das entgehen?, sondern: Was hast du mir noch verheimlicht? Nath hatte sich vor ihren Augen wackelig aufgerichtet, war hingefallen und dann unsicher umhergetapst, aber sie erinnerte sich nicht daran, wann Lydia überhaupt angefangen hatte zu stehen. Gleichwohl wirkte sie unglaublich sicher auf ihren bloßen Füßen, ihre winzigen Finger ragten gerade mal aus dem Rüschenärmel ihres Strampelanzugs. Marilyn stand oft mit dem Rücken zu ihr, wenn sie den Kühlschrank öffnete oder die Wäsche zum Trocknen umdrehte. Lydia konnte schon lange mit dem Laufen angefangen haben, während sie es, über einen Topf gebeugt, nicht mitbekommen hatte.

Sie hatte Lydia hochgehoben, ihr das Haar gestreichelt und gesagt, wie klug sie sei und wie stolz ihr Vater sein werde, wenn er nach Hause kam. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie in einem vertrauten Zimmer auf eine verschlossene Tür gestoßen: Lydia, obwohl noch klein genug, um auf dem Arm gehalten zu werden, hatte bereits Geheimnisse. Sie konnte ihre Tochter füttern und baden und ihre Beinchen in einen Schlafanzug stecken, doch Teile ihres Lebens waren schon wie hinter einem Vorhang verborgen. Sie drückte Lydia an sich, küsste ihre Wange und versuchte, sich an dem kleinen Körper ihrer Tochter zu wärmen.

Jetzt nippt Marilyn an ihrem Tee und erinnert sich daran, wie überrascht sie damals war.

Die Telefonnummer der Highschool hängt neben dem Kühlschrank an der Pinnwand, und Marilyn nimmt sie, wählt und wickelt sich, während es klingelt, die Schnur um den Finger.

»Middlewood High«, sagt die Sekretärin nach dem vierten Läuten. »Hier ist Dottie.«

Sie erinnert sich an Dottie: eine Frau mit der Figur eines Sofakissens, die ihr hellrotes Haar noch immer hochsteckt. »Guten Morgen«, setzt sie an und zögert. »Ist meine Tochter heute Morgen im Unterricht?«

Dottie gibt ein höflich-ungeduldiges Glucksen von sich. »Mit wem spreche ich, bitte?«

Es dauert einen Moment, bis sie sich an ihren Namen erinnert. »Marilyn. Marilyn Lee. Meine Tochter ist Lydia Lee. Zehnte Klasse.«

»Ich seh mal auf ihrem Stundenplan nach. Erste Stunde –« Pause. »Physik elfte Klasse?«

»Ja, genau. Bei Mr. Kelly.«

»Ich schicke jemanden los, um nachzusehen.« Die Sekretärin legt den Hörer mit einem dumpfen Laut auf den Schreibtisch.

Marilyn betrachtet die Wasserlache, die ihr Becher auf der Anrichte hinterlassen hat. Vor einigen Jahren war ein kleines Mädchen in einen Lagerschuppen gekrochen und erstickt. Hinterher schickte die Polizei Flugblätter an alle Haushalte: Wenn Ihr Kind vermisst wird, suchen Sie es sofort. Sehen Sie in der Waschmaschine und im Wäschetrockner nach, im Kofferraum, im Werkzeugschuppen, überall, wo es sich versteckt haben könnte. Wenn Sie Ihr Kind nicht finden, rufen Sie unverzüglich die Polizei.

»Mrs. Lee?«, sagt die Sekretärin. »Ihre Tochter war nicht in der ersten Unterrichtsstunde. Rufen Sie an, um sie zu entschuldigen?«

Marilyn legt ohne zu antworten auf. Sie hängt die Telefonnummer zurück an die Pinnwand und verschmiert dabei mit ihrem feuchten Finger die Tinte, sodass die Ziffern verschwimmen wie unter Wasser.

Sie sucht in jedem Zimmer, öffnet jeden Schrank. Sie schaut in die leere Garage: nur ein Ölfleck auf dem Steinboden und der schwache Geruch nach Benzin. Sie weiß nicht genau, was sie sucht: verräterische Fußabdrücke? Eine Brotkrumenspur? Als sie zwölf war, verschwand ein älteres Mädchen aus ihrer Schule und wurde tot aufgefunden. Ginny Barron. Sie hatte Sattelschuhe getragen, wie Marilyn sich sehnlichst welche gewünscht hatte. Ginny war zum Kaufladen gegangen, um für ihren Vater Zigaretten zu holen, und zwei Tage später fand man ihre Leiche auf halber Strecke nach Charlottesville am Straßenrand, erdrosselt und nackt.

Marilyns Gedanken überschlagen sich. Der Sommer von Son Of Sam hat gerade begonnen – allerdings wird er in den Zeitungen erst seit Kurzem so genannt –, und selbst in Ohio ist die letzte Schießerei einziges Thema in den Schlagzeilen. In ein paar Monaten wird die Polizei David Berkowitz festnehmen und das Land sich wieder auf andere Dinge konzentrieren: den Tod von Elvis, den neuen Atari, Fonzie, der über den Hai springt. Im Augenblick jedoch, da...

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