Die Liebe unter Aliens - Erzählungen

Die Liebe unter Aliens - Erzählungen

von: Terézia Mora

Luchterhand Literaturverlag, 2016

ISBN: 9783641200411

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 1662 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Liebe unter Aliens - Erzählungen



Fisch schwimmt, Vogel fliegt

Der junge Mann war vielleicht 18, der alte ist gar nicht alt, er ist erst 57, er sieht nur aus, wie manch anderer mit 75. Alt gewordenes herzförmiges Kindergesicht. Ehemals große Augen und ein spitzes Kinn, Nasolabialfalten und Krähenfüße, aber so welche, die seitlich am Gesicht hinunterfließen, als hätte ein stetes Rinnsal (wir wollen nicht sagen: aus Tränen) sein Bett in die Haut gegraben. Mit zarter Hand so lange darüber streichen, bis sie weggehen. Falten gehen niemals weg. Streicheln ist dennoch niemals unnütz, aber der Mann, der älter ist, als er aussieht, hat niemanden, der bzw. die ihn streichelt. Es gibt einige Menschen, denen er entfernt bekannt ist, diese nennen ihn Aug in Auge Hellmut, hinter seinem Rücken Marathonmann. Leute aus der Nachbarschaft, die man sporadisch trifft, zum Beispiel beim Mittagstisch in einer traditionellen Eckgaststätte (von denen es immer weniger gibt etc.). Dort wechselt man einige Worte, nichts Tieferes. Marathonmann antwortet ohnehin nur, wenn er gefragt wird, höflich und meist knapp. Ein Pensionist der Bahn, ein ehemaliger Schaffner, warum frühverrentet, keiner fragt. Er tut nichts Benennbares, dennoch ist klar, dass er ein Sonderling ist, und obwohl das kein offiziell anerkannter Grund für eine Frühverrentung ist, nehmen alle an, dass es etwas damit zu tun hatte. Er kommt nur zum Mittagstisch, wenn es Königsberger Klopse gibt, etwas anderes hat er hier noch nie gegessen. Den Rest seiner Tage lebt er von Kartoffeln mit Quark oder Speck. Als Dessert arme Ritter. Vielleicht muss er sparsam sein, vielleicht ist es seine Passion. Vielleicht fühlt er sich in seinen grau verwaschenen Lumpen einfach wohler, als er es in sogenannter ordentlicher Kleidung täte. Er scheint nicht unglücklich zu sein. Das Gesicht eines traurigen Clowns, aber traurig ist er nicht. Ein lächelndes Hutzelmännchen in zu kurzen Hosen und einer grauen Mütze, die er, abgesehen von 30-Grad-Hitzetagen, jeden Tag des Jahres trägt. An den wenigen 30-Grad-Hitzetagen, die es hier gibt, trägt Marathonmann ein Vogelnest aus graublondem Haar auf dem Kopf, das aussieht, als hätte er lediglich die Mütze gewechselt. An dem Tag, um den es hier geht, ist Marathonmann mit Mütze unterwegs, grau in grau, der Einkaufsbeutel in seiner Hand hingegen ist kanarienvogelgelb. Der Boden des Beutels ist etwas schmutzig. Im Stoffbeutel, in eine Ecke gerutscht: Portemonnaie und Schlüsselbund. Warum er Portemonnaie und Schlüsselbund (vier Schlüssel: Tor, Briefkasten, Wohnung, Kellerverschlag) im Stoffbeutel trägt, wo doch seine graue Jacke drei Taschen hat, davon eine Innentasche: ein Rätsel. Das heißt: er trägt sie so, weil er arglos ist. Weil er sich in seinem Stadtteil, auf seiner Straße, in der er seit 57 Jahren wohnt, einkauft usw., sicher fühlt. Er schwenkt den Beutel sogar ein wenig, und vielleicht pfeift er auch vor sich hin. Letzteres ist nicht verbürgt, die Straße ist voll und laut, und Marathonmann spitzt häufig die Lippen, beim Zuhören, beim Nachdenken. Ich denke nach, sagt er. Und sogar: ich träume. Entschuldige, was hast du gesagt, ich war in Gedanken gewesen/ich habe geträumt. War gewesen. Und: Entschuldige. Bevor er den Spitznamen Marathonmann bekam, nannte man ihn den Träumer. Wer? Der Höfliche. Ach, der.

Vom jungen Mann sind nur die Kleidung und das Aussehen überliefert, und auch das nur ungenau, dabei kam er nicht, wie man annehmen könnte, von hinten. Er kam von vorne, sie sahen sich sogar kurz ins Gesicht, ein junges, glänzendes, mit dicken schwarzen Augenbrauen, und ein altes, graues, spitzmündig schmunzelndes, und dann, als sie auf gleicher Höhe waren, duckte sich der Junge, entriss dem Alten den Beutel und rannte davon.

Die Sekunden, um zu begreifen, die Sekunden, das Gleichgewicht wieder zu erlangen, sich umzudrehen. Der Junge, nicht sehr groß, dafür wendig und schnell, ist in der Zeit schon an zwei Mietshäusern vorbei. Er macht große Sätze, er weiß von sich, dass er ein schneller Läufer ist, deswegen hat er auch diese Strategie gewählt, aber ist er auch ausdauernd? Besser, er wäre es, denn, was er nicht weiß, nicht wissen kann, ist, dass Marathonmann nicht aus Jux und Dollerei so heißt, wie er heißt. Er wird nicht etwa mit dem Gegenteil dessen geneckt, was wirklich auf ihn zutrifft, nicht der Glatzkopf, der Locke genannt wird. Marathonmann hat im jungen Alter von 6 Jahren seinen ersten Wettlauf absolviert und haushoch gewonnen und hat seitdem Tausende von Kilometern laufend zurückgelegt, durch Wald und Wiesen, auf roter Schlacke und auf Beton, einmal sogar 24 Stunden lang, und es ist lange her, dass es ein Jahr gab, in dem er keinen ganzen Marathon lief. All das ausschließlich in Europa, denn er ist stolz darauf, niemals geflogen zu sein oder ein Schiff bestiegen zu haben. Auch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor nur wenige in seinem Leben. Züge, weil man manchmal doch von der Stelle kommen muss und sie einem berufsbedingt billig kommen. Aber im Großen und Ganzen gilt: Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft, wie schon Emil Zátopek so richtig sagte. Emil Zátopek, so, so. Emil, sagte die Köchin des Mittagstischs, das ist ein schöner Name. Woraufhin Marathonmann bis über beide Ohren rot wurde. Natürlich hat er auch ein wenig abstehende Ohren. Die tschechische Lokomotive, sagte jemand vom Mittagstisch, und die Röte verging wieder. Das Laufen ist das Einzige, zu dem Marathonmann mehr als nur ein oder zwei Floskeln sagt, und das sogar ungefragt. Am Wochenende war ich ja in Wien zum Marathon. Und dann, en detail: mit welchem Zug er fuhr, wann und wo dieser ab- und wo er entlangfuhr und wann und wo er ankam (unter Erwähnung besonderer Bahnhofsarchitekturen), von dort aus wie zu welcher Unterkunft, wie diese Unterkunft war (einfach und bahnnah, aber man muss sich früh kümmern, ein Jahr vorher muss man sich schon kümmern), was er zu Abend gegessen, was er gefrühstückt hatte, wann er aufgestanden, wie er sich vorbereitet, wie er seine Startnummer erhalten, wie viel Startgeld er im Vorfeld entrichtet hatte, was außer der Startnummer noch im Beutel war, den jeder Läufer für sein Startgeld bekommt, wie der Beutel selbst dieses Jahr im Vergleich zu dem im Vorjahr ausfiel (mithilfe zweier Kordeln zu einem Rucksack schnürbar oder ein unverschließbares Totebag usw.), und dann, wie es bei Kilometer 10, 15, 25, 30, 35, 40 und schließlich 42,195 war, und was danach, ob es Bananen, Orangen und isotonische Getränke gratis und ob es genügend Toiletten gab undsoweiter undsofort, man kann ihn nicht abstellen, manch einer geht schon, aber einige haben immer den Schwarzen Peter und müssen bleiben, denn soviel Benehmen muss einfach ein jeder haben, der sich nicht schon vollkommen aufgegeben hat, dass er nicht einfach davongeht, wenn einer über seinen Marathonlauf erzählt, auch wenn man sich denkt, der lügt doch, das Hutzelmännchen, in deinen Träumen, Alter, in deinen Träumen, aber irgendwann musste man ihm dann doch glauben, denn, als einer mal sagte: bringst du mir das nächste Mal was mit?, brachte er das nächste Mal doch tatsächlich einen Sportbeutel, einen Regenponcho, einen Stadtplan und ein Miniradio mit und verteilte sie unter den Anwesenden.

All das kann der junge Mann nicht wissen, er verlässt sich darauf, was er von sich selbst weiß, dass er auf den ersten ein-, zweihundert Metern schnell und wendig ist und dazu waghalsig: Er passt den Moment ab, kurz bevor die Autos Grün bekommen, hechtet über die große Straße, schafft es gerade so, spürt den Fahrtwind eines unmittelbar hinter ihm vorbeirauschenden Autos im Nacken, als er zwischen die Heckenrosenbüsche springt, die die Fahrbahn vom Rad- und Fußgängerweg trennen. Er hat Glück, auf dem Radweg rast gerade keiner, er kann den Schwung mitnehmen und aus den Büschen auf den Gehweg springen, und weil er, sich auf seine Erfahrungen verlassend, denkt, dass er nun in Sicherheit ist, wird er langsamer und bleibt schließlich sogar stehen. Er schaut sich um, aber bevor er auch nur den ersten Gedanken fassen könnte, wohin von hier aus weiter, muss er sehen, dass keine zehn Meter neben ihm der Alte durch die Rosenbüsche bricht. Auch er bleibt einen Moment lang stehen, seine großen, blauen Augen erfassen den Jungen mit dem gelben Einkaufsbeutel, und dann rennen sie beide wieder los.

Sie rennen parallel zu den Autos auf dem vier Meter breiten Gehweg, der allerdings bis auf einen schmalen Streifen am Rand überwuchert ist von den Auslegern der Restaurationen und Läden, die einem so lange ihre Bänke, Aufsteller, Eiskarten, Erdbeeren, Fahrradständer und Blumentöpfe in den Weg schieben, jeden Tag einpaar Zentimeter weiter, bis man überhaupt nicht mehr daran vorbeikommt und sich mehr als zehn Leute beschweren oder jemand vom Amt sie zurückpfeift. Am Blumenladen zum Beispiel kommen keine zwei Passanten mehr gleichzeitig vorbei, ohne auf den Radweg treten zu müssen, auf dem sich auch niemand an die Einbahnregel hält und alle wie die Irren rasen, wenn sie schon das Glück haben, sich auf einer abschüssigen und relativ gut gepflasterten Straße zu befinden. Auf dieser rennen nun ein junger und ein alter Mann bergan. Kurz hinter dem Blumenladen kommt eine Ampel für den Verkehr aus den Seitenstraßen, und diesmal hat der Junge kein Glück: die Ampel ist rot und bleibt es, er rennt darauf zu, nichts, die Ampel bleibt rot, und der Verkehr rollt: im letzten Augenblick biegt er in die kleine Straße links ab.

Das verbessert seine Situation nicht besonders. Die kleine Straße ist gerade und leerer, als es die große war, er ist gut zu sehen, und sie geht steiler bergauf. Der Alte hinter ihm, zwei Häuser Abstand immer noch. Der Junge legt eine Schippe drauf, jetzt hat er vielleicht zwei Schrittlängen mehr Vorsprung. Sie rennen beide die kleine Straße bergan....

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