Ich will nicht lernen! - Motivationsförderung in Elternhaus und Schule

Ich will nicht lernen! - Motivationsförderung in Elternhaus und Schule

von: Gustav Keller

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456755823

Sprache: Deutsch

136 Seiten, Download: 1408 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Ich will nicht lernen! - Motivationsförderung in Elternhaus und Schule



6 Ursachen von Motivationsstörungen


«Nichts geschieht von selbst, sondern alles infolge eines Grundes.»

Leukippos

Hinter dem Erscheinungsbild von Motivationsstörungen können sich unterschiedlichste Ursachen verbergen. Leider ist es so, dass sich Eltern und Lehrer die Diagnose sehr einfach machen. Sie kommen oft sehr rasch zum Schluss, dass der «faule» Schüler nicht will. Wollte er, könnte er mehr. So einfach sind die allerwenigsten Motivationsstörungen verursacht. Will man motivationsgestörten Schülerinnen und Schülern gerecht werden und ihnen wirksam helfen, ist eine gründliche Ursachenanalyse vonnöten. Was Motivationsstörungen zu Grunde liegen kann, wird nun ausführlich behandelt. Manche der genannten Faktoren können von Eltern und Lehrern selbst diagnostiziert werden, andere wiederum verlangen eine Abklärung durch psychologische oder medizinische Fachleute.

6.1 Ursachenbereich Familie


«Den schwerwiegendsten Einfluss auf die Entwicklung psychischer Probleme haben Familienprobleme.»

David Shaffer

In diesem Ursachenbereich steht die Verwöhnung an erster Stelle. Meine fallstatistischen Auswertungen haben ergeben, dass bei 40 % der diagnostizierten Motivationsstörungen dieser Erziehungsfehler dem Problem zu Grunde liegt. Er besteht hauptsächlich darin, dass den Kindern seit der Kleinkindheit ein Übermaß an psychischer und materieller Zuwendung zuteil wird. Beinahe alles, was sie haben möchten, bekommen sie geschenkt und erfüllt: Süßigkeiten, Spielsachen, Erleichterung, Behütung, Aufmerksamkeit. Und dies, ohne dass besondere Gegenleistungen erwartet und gefordert werden. Die gravierendste Folge dieses Erziehungsfehlers ist, dass die verwöhnten Kinder den Aufschub ihrer Bedürfnisse nicht lernen. Sie bleiben ichschwach und schaffen es nicht, ihre Triebe zu steuern. Die tägliche Wunscherfüllung verdichtet sich über kurz oder lang zu einem hedonistischen Charakter. Sie fordern immer mehr, ohne dafür etwas zu tun. Sie pochen auf Rechte, ohne selbst Pflichten zu übernehmen. Stoßen sie auf Hindernisse, bemühen sie sich kaum um deren Überwindung, sondern lassen sie sich aus dem Weg räumen. Sie möchten immer im Mittelpunkt stehen, ohne andere vorzulassen. Von Schuljahr zu Schuljahr sinkt ihre Bereitschaft zum Lernen. Hausaufgaben und Klassenarbeitsvorbereitungen sind ihnen eine üble Last, der sie mit allerlei Aufschubaktivitäten und Vermeidungsstrategien aus dem Weg zu gehen versuchen. Sind sie gut begabt, bekommen sie in den ersten sechs Schuljahren noch so viel mit, dass sie die Klassenziele ereichen. Deutliche Leistungseinbrüche erleiden sie meist ab Klasse 7, wenn der Lernstoff nicht mehr allein durch Cleverness angeeignet werden kann, sondern intensive Übungsarbeit immer wichtiger wird.

Zu fragen ist nun, wodurch eine verwöhnende Erziehung verursacht sein kann. Bei vielen Eltern sind irrationale Überzeugungen das Hauptmotiv. So gibt es Eltern, die annehmen nur dann gute Väter und Mütter zu sein, wenn ihre Kinder möglichst viel bekommen. Andere haben eine entbehrungsreiche Kindheit erlebt und erziehen jetzt nach dem Motto: «Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir.» Dann gibt es Eltern, die liebesunfähig sind und materielle Verwöhnung als Mittel benutzen, um sich die Liebe ihrer Kinder zu erkaufen. Des Weiteren ist der Erziehungsfehler in Einelternfamilien anzutreffen. Dem liegt häufig die unbewusste Botschaft zugrunde: «Wenn ich schon meinem Mann nicht für mich gewinnen konnte, so möchte ich mein Kind um so fester an mich binden.» Nicht zuletzt sind auch Großeltern an der Verwöhnung beteiligt. Manche tun dies aus Angst, vom Enkelsohn oder der Enkeltochter nicht genügend geliebt oder besucht zu werden. Andere glauben oft fälschlicherweise, die Enkelkinder bekämen von Papa und Mama zu wenig.

Verwandt mit der Verwöhnung ist die überbetrieben beschützende Erziehungshaltung, die in der entwicklungspsychologischen Fachsprache als Overprotection bezeichnet wird. Sie tritt häufig bei Eltern zutage, die überängstlich sind und aus dieser Angst heraus die Kinder nicht fordern und sie nicht loslassen. Unmittelbare Folge davon ist, dass die Kinder fremdmotiviert und unselbstständig bleiben. Sie schaffen es nicht, obwohl sie intellektuell könnten, die Hausaufgaben selbst zu machen und Klassenarbeiten allein vorzubereiten. Daraus entsteht eine chronische Unselbstständigkeit, die in der Zeit der Pubertät zum großen Problem werden kann. Dann nämlich lehnen sich viele Söhne und Töchter gegen die Überbetreuung auf, wollen nun endlich sich selbst verantwortlich sein, schaffen dies aber oft nicht, weil sie das selbstständige Lernen nicht gelernt haben.

Ein weiterer Grund für gestörte Lernmotivation kann ein Mangel an kultureller Anregung sein. In anregungsarmen Familien wird es bereits in den ersten sechs Lebensjahren versäumt, die kindliche Primärmotivation durch ein vielseitiges, aktives Spielangebot zu fördern. Die Anregung besteht großenteils aus Medienkonsum. Parallel dazu schaffen es die Eltern auch nicht, den Kindern am Beispiel von Spieltätigkeiten Gütemaßstäbe zu vermitteln, was nach Heckhausen/Heckhausen (2010) die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der Lern- und Leistungsmotivation ist. Ihnen ist es weitgehend egal, wie gut ein Kind etwas kann – Hauptsache, es ist beschäftigt und lässt die Eltern in Ruhe. Kein Wunder, wenn diese Medienkinder die in der Schule praktizierte Kulturvermittlung als langweilig und öde erleben. Motivationsstörend wirken sich auch Fehler in der Eltern-Kind-Kommunikation aus. Wenn Eltern die Leistungen ihrer Kinder zu wenig loben, würdigen und anerkennen, erlahmt über kurz oder lang die Lernbereitschaft. Noch schlimmer wirkt es sich aus, wenn Kinder in lernschwierigen Phasen durch Killerbotschaften entmutigt werden (z. B. «Kapierst du dies nicht, du Depp?»). Solche Kommunikation zerstört im Lauf der Zeit das Selbstvertrauen des Schülers und erzeugt ein Gefühl der Minderwertigkeit.

Wenn es mit der Motivation nicht klappt, können daran schließlich auch familiäre Systemstörungen beteiligt sein. Sind sich Eltern zum Beispiel hinsichtlich der Leistungserwartungen uneinig, tendieren Kinder dazu, sich an den Erwartungen des «angenehmeren» Elternteils zu orientieren. Des Weiteren kann es vorkommen, dass eine schulische Lern- und Leistungsstörung für das pathologische Familiensystem eine positive Funktion bekommt. Nicht selten verhindert ein lerngestörter Schüler durch seine Problematik ein Auseinanderstreben der Eltern. Weil es nicht sein darf, dass das Kind durch Ehekonflikte zusätzlich Schaden nimmt, wird auf Trennung und Scheidung vorerst verzichtet. Lässt sich eine Eheproblematik auf diese Art und Weise nicht unterdrücken beziehungsweise wird sie offen ausgetragen, kann sich dies auf Kinder emotional so irritierend auswirken, dass gravierende Motivationshemmungen entstehen. Angesichts der Tatsache, dass sich 35 % der geschlossenen Ehen wieder auflösen, ist die Wahrscheinlichkeit systemisch verursachter Motivationsstörungen nicht gering.

Fallbeispiel: Alexander

Alexander wiederholt die Klasse 8 des Gymnasiums. Das Halbjahreszeugnis sieht genauso schlecht aus wie im Vorjahr. Wieder stehen zwei Kernfachfünfen drin, und zwar in Englisch und in Latein. Die Eltern sind sehr verärgert, weil Alexander genauso faul ist wie letztes Jahr. Alexander, der Sonnyboy, zeigt sich von den elterlichen Klageliedern relativ unbeeindruckt. Danach gefragt, warum er trotz der erneuten Versetzungsgefährdung so cool ist, antwortet er: «Ich werde das schon noch schaffen.» Die Eltern sind über Alexanders Optimismus erstaunt.

Als die Eltern Alexanders Lern- und Lebensgeschichte zu schildern beginnen, zeigt ihr Gesichtsausdruck zunächst deutlich Freude. Er lernte früh laufen und sprechen, war wissbegierig und lernwillig. Die Kindergärtnerin bezeichnete ihn als ein begabtes und sympathisches Kind. Als Alexander in die Schule kam, waren seine ersten Lehrer derselben Meinung. Aufgrund seines brillanten Auffassungs- und Denkvermögens gehörte er zur Leistungsspitze. Der Mutter fiel damals allerdings auf, dass er Hausaufgaben ungern machte. Die Klassenlehrerin in Klasse 4 meinte, dies sei nicht tragisch. Sie empfahl Alexander vorbehaltlos fürs Gymnasium.

Bald nach Gymnasialbeginn begannen die Leistungen abzufallen, zwar nicht dramatisch, aber dennoch deutlich. Am Ende der Klasse 5 befand sich Alexander am Ende des mittleren Leistungsdrittels. Sein Problem bestand darin, dass er das häusliche Üben verschmähte. Die Eltern mussten ihn zum Hausaufgabenmachen und zur Klassenarbeitsvorbereitung zwingen. Folge des elterlichen Drucks war, dass er die schulischen Pflichten hin und wieder verschwieg. Dieser leidige Kampf ums Lernen setzte sich in der Klasse 6 fort. Aufgrund elterlichen Drängens, Drohens, Kontrollierens und Helfens schaffte Alexander gerade noch das Klassenziel. In der Klasse 7 vergrößerte sich die Stoffmenge, Latein und Geschichte kamen hinzu. Und die häuslichen Lernkonflikte verschärften sich. Da er inzwischen stark pubertierte und sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung stärker wurde, reagierte er immer trotziger auf die Fremdsteuerung. Die Eltern gaben es deshalb nach dem Halbjahreszeugnis auf, Alexander zu behüten und zu überwachen. Sie beschränkten sich darauf, ihn hin und wieder zur Klassenarbeitsvorbereitung zu mahnen. Mit Ach und Krach und einer Fünf in Latein wurde er in die Klasse 8 versetzt. Die Mutter ging in den Sommerferien zu einem Erziehungsberater und erzählte ihm ihre Leidensgeschichte. Der riet ihr, Alexander im kommenden Schuljahr ganz in Ruhe zu lassen, denn er müsse...

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