Darwin heute - Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften

Darwin heute - Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften

von: Martin Neukamm, Harald Lesch, Peter-Michael Kaiser, Peter Schuster, Charlotte Störmer, Eckart Voland, Gerhard Vollmer, Elmar Kanitscheider, Josef Martin Gaßner, Andreas Beyer, Martin Neukamm

wbg Academic in der Verlag Herder GmbH, 2015

ISBN: 9783534739103

Sprache: Deutsch

268 Seiten, Download: 4563 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Darwin heute - Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften



3


Das aktuelle
kosmologische Weltbild


Ein Produkt evolutionären Denkens


JOSEF M. GASSNER/HARALD LESCH

 

DIE KOSMOLOGIE, DIE LEHRE von der Welt, beschäftigt sich mit dem Ursprung, der Entwicklung und der grundlegenden Struktur des Universums (Kosmos) als Ganzes und ist damit ein Teilgebiet sowohl der Physik als auch der Astronomie und Philosophie. Es geht um die Frage, woher alles kommt; es gilt, die größtmögliche Evolutionsgeschichte zu erzählen. Unser Problem besteht ja letztlich darin, dass wir auf die Welt kommen und die Welt schon da ist. Ein Universum, das in einem Urknall sämtliche Voraussetzungen mit sich bringt, nach Jahrmilliarden die Metamorphose von toter Materie zu lebenden Organismen zu vollziehen, wird für reflektierende Lebewesen zwangsläufig zum bestaunenswerten Rätsel.

Dass unser Universum aus dem „Nichts“ entstand, schien lange Zeit unmöglich. Entweder waren es Götter, die das Universum erschufen, oder es war stationär und schon immer da, somit ewig. Das stationäre, ewige Universum war zwar eine Provokation für den nachfragenden Geist, aber eine große Beruhigung für die weniger kritischen Geister. Mit dem Beginn der Neuzeit und den sich entwickelnden empirischen Naturwissenschaften machte die wissenschaftliche Forschung jedoch auch vor dem Kosmos als Ganzes nicht halt. Das Wirken veränderlicher Kräfte wurde offenbar: Beispielsweise entstehen und vergehen Sterne, schwere chemische Elemente entstehen, neue Sterne und Planetensysteme bilden sich, eine komplexe Chemie entsteht usw. Kurzum: Der Kosmos hat eine evolutionäre Geschichte – und daran war unmittelbar die Frage nach seinem Anfang geknüpft.

Doch nicht nur der Kosmos, sondern auch unser wissenschaftliches Weltbild evolviert. Im Lauf der Jahrhunderte konnten sich Ideen entweder behaupten und wurden verfeinert, oder sie wurden falsifiziert und starben aus. Die moderne Kosmologie ist ein Produkt evolutionären Denkens!

3.1 Der Urknall als empirisch gesicherte Tatsache –
Warum sich der Kosmos nur evolutionär begreifen lässt


Als in den 1920er Jahren immer mehr Beobachtungen auf eine Expansion des Kosmos hindeuteten, kam es zum finalen Aufbäumen der Hypothese vom ewigen, statischen Universum. Die so genannte Rotverschiebung des Lichts ferner Galaxien deutete auf eine Expansion hin, wodurch die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie neu interpretiert werden mussten. Die Vorstellung eines expandierenden Kosmos erschütterte das damalige Weltbild in seinen Grundfesten. Die weitreichendste Konsequenz war ein zeitlicher und räumlicher Anfang des Universums in einem Zustand unvorstellbarer Dichte und Temperatur, den wir Urknall nennen.

Weitere empirische Beweise waren notwendig, damit sich eine Hypothese durchsetzen konnte, die unser Vorstellungsvermögen derart strapaziert. Beispielsweise sollten Relikte der frühen heißen Strahlung (wenn man so will: das „Nachglimmen des Urknalls“) noch messbar sein. Die fortwährende Expansion und Abkühlung des Universums hat sie lediglich zu sehr niedrigen Energien verschoben – wie wir heute wissen in den Mikrowellenbereich bei 2,725 Kelvin. Der erste Nachweis dieser sogenannten kosmischen Hintergrundstrahlung gelang eher zufällig im Jahr 1965 durch die Physiker ARNO PENZIAS und ROBERT WOODROW WILSON.

Weitere Belege der Expansion folgten, darunter der SACHS-WOLFE-Effekt. RAINER KURT SACHS und ARTHUR MICHAEL WOLFE erkannten 1967, dass die ersten Verdichtungen im frühen Universum an den Photonen der Hintergrundstrahlung eine Signatur hinterlassen haben. Grundsätzlich gewinnen Photonen Energie bei der Annäherung an Masse und verlieren diese Gravitationsenergie wieder, sobald sie sich entfernen. Anschaulich gesprochen „fallen“ die Photonen in eine Vertiefung hinein, einen sogenannten Potenzialtopf, und „klettern“ anschließend wieder heraus. Wird nun in der kurzen Verweildauer des Photons im Potentialtopf dessen Form verändert, beispielsweise wird die Vertiefung durch die Expansion des Raumes flacher, so ist für das Herausklettern weniger Energie notwendig und es bleibt ein Netto-Energiegewinn. Entsprechende Messungen konnten den Effekt belegen und mit ihm eine expandierende Raumzeit.

Die Hypothese eines heißen Urknalls wird darüber hinaus von der materiellen Zusammensetzung unseres Universums gestützt. Bezogen auf die Massenanteile liefern die Beobachtungen etwa 75 % Wasserstoff und 25 % Helium. Dies ist exakt das Ergebnis, das Berechnungen zu den Fusionsprozessen im frühen Universum vorhersagen. In den ersten Minuten nach dem Urknall war es im gesamten Kosmos heiß genug, um die Fusion von Wasserstoffkernen zu Heliumkernen zu betreiben. Alle schwereren Elemente, die erst im Inneren der Sterne fusioniert werden, liegen zusammengenommen unter einem Prozent Massenanteil. Die Beweislast wurde somit immer erdrückender und das Modell vom Urknall hat sich durchgesetzt, es wurde die anerkannte Marke, das Standardmodell der Kosmologie. Es war und ist bis heute erfolgreicher und erklärungsmächtiger als alle konkurrierenden Modelle.

Abb. 3.1
Aufnahme der Hintergrundstrahlung durch die WMAP-Sonde. Die Graustufen stehen für winzige Temperaturunterschiede von etwa 5 x 10-5 Grad. Bild: NASA/gemeinfrei.

Bevor wir nun den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Evolution des Kosmos ausbreiten, begeben wir uns zurück ins 20. Jahrhundert, wo das Urknallmodell seinen Anfang nahm.

3.2 Die Evolution der Naturwissenschaft


EDWIN HUBBLE hatte über Jahre hinweg eine besondere Klasse der Riesensterne beobachtet, die sogenannten Cepheiden. Sie verändern ihre gewaltige Helligkeit streng periodisch, typischerweise innerhalb von wenigen Tagen, wodurch er sie über Millionen von Lichtjahre hinweg bis ins Innere unserer Nachbargalaxien aufspüren konnte. Mithilfe der zugrunde liegende Theorie dieser veränderlichen Leuchtkraft gelang es ihm, Entfernung und Geschwindigkeit dieser Objekte in einem Diagramm zusammenzutragen. Bereits 1927 hatte der Priester und Physiker GEORGES LEMAÎTRE anhand ähnlicher Beobachtungen erkannt, dass sich weit entfernte Objekte tendenziell von uns wegbewegen. Damit hatte er dem etablierten Weltbild eines ewig statischen Universums bereits einen empfindlichen Wirkungstreffer verpasst. An jenem denkwürdigen Tag im Jahre 1929 legte EDWIN HUBBLE nun ein Lineal an und zeichnete eine Gerade in sein Diagramm – einen linearen Zusammenhang zwischen Entfernung und Fluchtgeschwindigkeit. Gewissermaßen ein kurzer Strich für einen Menschen aber ein weitreichender Strich für die Naturwissenschaft.

Was war geschehen? Die immerwährende Evolution in der Naturwissenschaft hatte ein weiteres namhaftes Opfer gefordert: die Theorie des ewig statischen Universums. Die Daten belegten, dass Objekte, die man von der Erde aus in beliebigen Richtungen betrachtet, sich umso schneller von uns wegbewegen, je weiter sie entfernt sind. Dies entzieht der Theorie eines statischen Universums die Lebensgrundlage und sie wird verdrängt durch eine Theorie des expandierenden Universums.

Ähnlich den biologischen Organismen, die sich in einem Lebensraum behaupten oder durch andere Organismen verdrängt werden, unterliegen auch naturwissenschaftliche Theorien diesem Evolutionsprinzip. Der natürliche Feind der Theorie ist hierbei nicht eine andere Theorie, sondern das Experiment. Beispielsweise hatte bereits Jahre vor HUBBLES Entdeckung ALBERT EINSTEIN die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt, deren Gleichungen ein expandierendes Universum zwangsläufig beinhalten. Nur unter größter Not – mit Hilfe eines mathematischen Kunstgriffes in Form einer kosmologischen Konstanten – war die Theorie mit einem statischen Universum verträglich. Selbst ein Schwergewicht wie die Allgemeine Relativitätstheorie musste sich ohne entsprechende experimentelle Unterstützung dem Dogma eines statischen Universums beugen, während es keine geringere Theorie als die NEWTONsche Mechanik vergleichsweise mühelos vom Podest stürzte. Verantwortlich für letzteren Erfolg waren wiederum Beobachtungsdaten: z.B. die gravitative Beugung des Lichts und die Stärke der Periheldrehung des Merkurs. Die Art und Weise, mit der die Allgemeine Relativitätstheorie die NEWTON’sche Mechanik verdrängt hat, ist übrigens kennzeichnend für eine „sanfte Form“ der Evolution in der modernen Naturwissenschaft. Je besser eine etablierte Theorie durch experimentelle Daten gestützt wird, desto schwieriger wird es, sie mit Bausch und Bogen zu verwerfen. Entsprechend wird sie assimiliert und behält als Grenzfall (im Beispiel der NEWTON’schen Mechanik für Geschwindigkeiten deutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit) ihre Gültigkeit. Auf Neudeutsch entspräche dies eher einem Facelift denn einem Paradigmenwechsel.

Die Naturwissenschaft durchläuft also einen stetigen...

Kategorien

Service

Info/Kontakt