Praxisbuch Sucht - Therapie der Suchterkrankungen im Jugend- und Erwachsenenalter
von: Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch
Georg Thieme Verlag KG, 2016
ISBN: 9783132011724
Sprache: Deutsch
280 Seiten, Download: 5185 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
2 Psychotherapeutische Verfahren
2.1 Psychoedukation
Peter Peukert (†), Oliver Bilke-Hentsch
2.1.1 Definition
In der Therapie psychiatrischer Erkrankungen haben psychoedukative Ansätze seit Langem einen hohen Stellenwert.
Definition
Grundsätzlich wird unter „Psychoedukation“ primär der Anteil psychotherapeutischer Verfahren verstanden, der sich auf den Aspekt der systematischen und strukturierten Vermittlung von Störungs- und Lösungswissen bezieht.
Während der rein informative Anteil häufig mit einer Face-to-Face- oder virtuellen „Schulung“ im Sinne eines Expertenunterrichts besteht, geht Psychoedukation als Gesamtkonzept über diese Wissensvermittlung hinaus.
Hornung ▶ [373] definiert Psychoedukation grundsätzlich als ein zumeist lerntheoretisch fundiertes Vorgehen, das individuelle Vorerfahrungen über die psychiatrische Erkrankung berücksichtigt, mit dem primären Ziel, eine Verhaltensmodifikation des Klienten zu erreichen. Psychoedukation beruht auf einer spezifischen therapeutischen Grundhaltung (Wissensvermittlung unter Berücksichtigung der Lerngeschichte des Patienten im Rahmen eines sog. geleiteten Entdeckens), und sie wendet konkrete Techniken an. Ist die Psychoedukation Bestandteil eines Gesamtbehandlungsplans einer psychotherapeutischen Behandlung, so wird nach Bäuml u. Mitarb. ▶ [65] derjenige Anteil, bei dem Informationsvermittlung und Behandlung allgemeiner Krankheitsaspekte im Vordergrund stehen, als „Psychoedukation“ bezeichnet.
2.1.2 Ziele
Merke
Zusammenfassend geht es im Rahmen eines psychoedukativen Vorgehens also um folgende Inhalte und Ziele:
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Aufklärung über Diagnose und Verlauf der Erkrankung sowie über die zur Verfügung stehenden Therapieoptionen
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Aufklärung über Zielsetzung, Struktur und Elemente der Therapie insgesamt und über Struktur und Inhalte der Therapiestunde (sog. Agenda Setting)
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Verbesserung des Wissens um die Entstehungsbedingungen der Erkrankung sowohl aufseiten der Angehörigen als auch aufseiten des Patienten mit dem Ziel der Reduktion dysfunktionaler krankheitsbezogener Einstellungen
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Erarbeitung eines für den Patienten akzeptablen funktionalen Bedingungsgefüges
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Verbesserung des Verständnisses bzw. der Verarbeitung des Krankheitsverlaufs bzw. Förderung einer aktiven Krankheitsbewältigung (Coping)
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Verbesserung der Therapeut-Patient-Beziehung durch aktives Einbeziehen des Patienten in relevante Therapieentscheidungen (Informed Consent)
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Verbesserung des Selbstmanagement und der Problemlösefähigkeit
Bei der Mehrzahl der Patienten mit substanzbezogenen Störungen und besonders Verhaltenssüchten ist zunächst eine Klärung bzw. Stärkung der Veränderungsmotivation erforderlich, bevor an einer Abstinenzvereinbarung oder Verhaltensreduktion und den dazu weiter notwendigen Schritten gearbeitet werden kann. Es liegt auch aus didaktischen Gründen nahe, das konkrete therapeutische Vorgehen der Psychoedukation am bewährten motivationalen ▶ Stadienmodell nach Prochaska u. DiClemente ▶ [618] auszurichten. Dies gilt in besonderer Weise, wenn Familien und Partner in die Psychoedukation miteinbezogen werden sollen, um beispielsweise ein jugendliches Familienmitglied zu behandeln, wie im Rahmen der ▶ multidimensionalen Familientherapie und der ▶ multisystemischen Therapie.
Phasenspezifische Interventionen ( ▶ Tab. 2.1) berücksichtigen dabei nicht nur die individuelle Krankheitsphase, sondern auch den Stand der allgemeinen familiären Entwicklung.
Tab. 2.1 Phasenspezifische Interventionen ▶ [82] nach Wetterling u. Veltrup ▶ [833]. Phasen | Klinische Merkmale | Interventionen | Fokus |
Vorahnung | beginnendes Problembewusstsein, keine fundierte Motivation | medizinische Beratung, Gesprächsangebot in der Beratungsstelle | Individuum, ggf. besorgte Eltern/Partner, meist getrennt |
Einsicht | Entstehung eines Störungskonzepts, aber keine Therapiemotivation | intensivierte Beratung, Drogenberatungsstelle; Austausch mit Betroffenen | Individuum, positiv wertschätzende Bezugspersonen |
Handlung | konkrete Planungen, Interesse an Behandlung | konkrete Unterstützung; Entgiftung, Therapie | Individuum, Familie |
Beibehaltung | Stabilisierung | Hilfe bei Life Events, Rückfallprophylaxe, Sozialarbeit | Individuum, Peer-Gruppe, Familie, Partner |
Rückfall | erneuter Konsum | Explizierung und Intensivierung der Therapieangebote | Individuum, Bezugspersonen als Unterstützung |
Während exemplarisch ein bereits veränderungsbereiter Patient eher konkrete Veränderungsschritte planen und durchführen kann, sollte einem Patienten mit wenig oder unzureichender Veränderungsmotivation nach dem Programm der ▶ motivierenden Gesprächsführung, ausführlicher dargestellt im Kapitel zum ▶ Motivational Interviewing, mit grundlegenden Gesprächsführungstechniken mit dem Ziel des Aufbaus einer stabilen therapeutischen Beziehung begegnet werden:
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Empathie
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verstehende Haltung
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nicht wertende Akzeptanz
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kritische Distanz
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Authentizität
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Fachkompetenz
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Beziehungskonstanz
Die Berücksichtigung dieser Faktoren im Rahmen des therapeutischen Vorgehens sollte Grundlage für eine erfolgreiche psychoedukative Intervention sein, wie sie z.B. in der sog. qualifizierten Entgiftungs- und Motivationsbehandlung in Deutschland seit Langem Anwendung findet. Dabei kommen bezüglich der Frage der Durchführung Elemente wie Arbeitsblätter, Vorträge, Verhaltensdemonstrationen sowie Rollenspiel genauso zur Anwendung wie der Dialog im Rahmen des sog. geleiteten Entdeckens im Gruppen- bzw. Einzel-Setting. Zunehmend sind Web-basierte Systeme im Einsatz und in der weiteren Entwicklung.
Auch jugendpsychiatrische Spezialstationen für (polytoxikomane) Adoleszente weisen ähnliche Strukturen auf und stellen in der Initialphase der Behandlung einen Informations- und faktenorientierten Therapieansatz in den Vordergrund. Je stärker dann...